Montag, 7. Juni 2010

Von Menschenrechtsfundamentalisten und Aufklärungsfaschisten

Darf man sich mit dem Islam und seiner radikalen Zuspitzung, nennen wir sie Islamismus, hierzulande auseinandersetzen? Und wenn ja, sind dann dieser Auseinandersetzung engere Grenzen gesetzt, als das Strafgesetzbuch vorsieht? Verdient der Islam und seine Gläubigen mehr Rücksichtnahme als, sagen wir mal: der Papst und die Katholiken? Das fragen sich Kritiker einer radikalen Form des Islam, deren Anhänger ja nicht nur Fahnen anzünden, wenn sie ihre Gefühle beleidigt sehen. Die Kritiker der Kritiker geben zurück: alles Islamophobie, also eine krankhafte Angst vor einem im Grunde harmlosen Phänomen.
Gewiß, es gibt Kritik am Islam, die man als übertrieben, hysterisch, populistisch, ja als islamophob empfinden kann. Aber überwiegt sie? Und gibt es wirklich keinen Grund zur Sorge?
Die Debatte ist heftig und Gefangene werden nicht gemacht – vor allem bei den Kritikern der Kritiker. Wer sich die erregten Beiträge in deutschen Intelligenzblättern zu Gemüte führt, muß den Eindruck gewinnen, daß in Deutschland ein neuer Faschismus droht, der sich diesmal nicht gegen die Juden, sondern gegen Muslime wendet. Da wird behauptet, der Autor einer angeblich antiislamischen „Kampfschrift“ „ähnele“ „im Prinzip“ einem islamistischen Kämpfer, der die Waffe in die Hand nimmt; da wird, wer westliche Werte „beschwört“, als „Haßprediger“ tituliert; da heißt es gar, wer für die „offensive Verteidigung der ‚freien Gesellschaft’“ plädiert, begünstige ein „autoritäres Regime“. Islamkritiker, liest man, sind „selbstgerecht“, „gedankenfeindlich“, „bedingungslos militant“ und hängen einer „Siegerreligion“ an. Und die Krone der Argumentation: wer gegen autoritäre und patriarchalische Züge eines orthodox verstandenen Islamismus den Respekt vor den Rechten des Individuums einklagt, betreibe „Menschenrechtsfundamentalismus“.
Eine verblüffende Wortschöpfung. Doch das ist noch nicht die letzte Stufe der Eskalation: In der Wochenzeitung „Die Zeit“ wurde jüngst allen irgendwie islamkritischen Menschen bescheinigt, „anti-muslimische Rassisten“ zu sein. Und ein Poetikprofessor, dem man das als lyrische Entgleisung womöglich nachsehen muß, stellt in einem seiner Vorträge die offenkundig nur rhetorisch gemeinte Frage: „Droht Europa womöglich ein anti-islamischer Faschismus der Aufklärung?“
Das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen. „Faschismus der Aufklärung“ und „Menschenrechtsfundamentalismus“. Mit kleiner Münze wird in dieser Debatte nicht gehandelt. Und selbst wer den ganz großen Hammer scheut, greift zum nicht weniger wirkungsvollen Appell an die Toleranz und zum Hilfsmittel der Relativierung: Hat etwa die CDU ein fortschrittliches Frauenbild? Gibt es Gewalt gegen Frauen nicht auch bei deutschen Männern? Waren wir früher vielleicht nicht religiös verbohrt? Und geht es bei uns immer mit rechten Dingen zu? Na also. Thema durch.
Diese Technik der Relativierung ebnet sämtliche Unterschiede ein, auch den nicht gerade unerheblichen, ob man unter rechtsstaatlichen Bedingungen lebt oder die Scharia zu fürchten hat.
Auf der islamischen Seite nimmt man all dies dankbar auf und spielt den Ball zurück, das Zerrbild des häßlichen Deutschen immer parat. Und so ist die Debatte tot, bevor sie noch begonnen hat. Vom allseits geforderten Dialog der Kulturen nichts zu spüren. Dabei wäre es doch gewiß für alle Seiten lehrreich, mehr über die jeweiligen Zu- und Abneigungen zu erfahren, ohne daß ein Mann mit Bart sich gleich beleidigt fühlen muß. Zum Beispiel darüber, daß viele Menschen hierzulande eine in einen Ganzkörperschleier gehüllte Person unheimlich und verunsichernd finden, weil sie in einer Welt und einer Kultur aufgewachsen sind, in der Offenheit und Sichtbarkeit zum zivilen Frieden gehört. Man zeigt sein Gesicht, um seine ehrbaren Absichten erkennen zu lassen. Das sind kulturell erprobte Mittel der Gewaltvermeidung und damit der Sicherheit im öffentlichen Raum. Mal abgesehen davon, daß ein Ganzkörperschleier und ein paternalistisches Gemeinschaftsverständnis nicht zu unserer Vorstellung von Gleichberechtigung und individueller Freiheit paßt.
Doch das schwere Geschütz, daß die Kritiker der Islamkritiker auffahren, die hinter kultureller Fremdheit und der Auseinandersetzung damit stets Rassismus und Faschismus vermuten, ist mittlerweile vortrefflich geeignet, zu erzeugen, wovor gewarnt werden soll: eine dumpfe Mißstimmung, die, da sie sich nicht offen äußern darf, in den Untergrund gegangen ist.
Die Schärfe der Diskussion ist nicht hilfreich und angesichts des unaufgeregten Argumentationsstils etwa einer Necla Kelek kaum nachzuvollziehen, einer Frau, die sich offenbar nicht wegen rabaukenhafter Islamkritik, sondern wegen ihrer Hochschätzung westlicher Freiheit unbeliebt gemacht hat. Eine Hohelied auf den freien Westen ist nämlich im linken juste milieu hierzulande nicht vorgesehen, wo man sogar nach dem Fall der Mauer die Freude über das Ende des Kommunismus dämpfen zu müssen glaubte. Staatsmänner, Dichter und Denker warnten sogleich vor allzu großem Jubel über einen Sieg des westlichen Lebensmodells.
Es ist übrigens gerade für patriarchalisch geprägte, junge Staaten schwer nachzuvollziehen, warum sich westliche Demokratien, aber insbesondere die Deutschen, so hingebungsvoll in Selbstkritik üben. Und warum man dort andere Völker mit anderen Kulturen und Mentalitäten kritiklos zu verherrlichen pflegt, da es dort so viel weniger materialistisch, verdorben und dekadent zugehe. Noch nicht einmal westliche Frauen sind sich einig in Sachen Schleier: könne man den nicht auch als eine Kritik an der Durchpornografisierung westlicher Öffentlichkeit lesen? Und so loben die westlichen Selbstkritiker in einem fort: Ist die große Bedeutung von Familie und Stamm nicht eine immanente Kritik am einsamen egoistischen Individuum, der Arbeitsmonade der Industriegesellschaften? Zeigt uns die tiefe Religiosität anderer nicht die Flachheit unseres Wertehorizonts?
Für eine Kultur, die das Kollektiv über das Individuum stellt und in der Würde, Ehre und Respekt eine große Rolle spielen, ist diese Selbstinfragestellung natürlich ein Gottesgeschenk. Welcher muslimische Haßprediger, ja welcher einfach nur kulturüblich stolze muslimische Mann empfände keine Genugtuung, wenn er hört, wie sehr es der Gegenseite an Selbstrespekt fehlt, wo man neuerdings von Sehnsucht nach tiefer Religiösität sprechen hört, vom Bedürfnis nach einer neuen Sittlichkeit, vom Wunsch nach der Wärme eines sozialen Zusammenhangs, der nicht der kühlen Zivilität von Rechtsnormen und Marktverhältnissen unterliegt?
Man fragt sich, was diejenigen dazu sagen, die unter Einsatz ihres Lebens für die Teilhabe an der westlichen Freiheit gekämpft haben und nun feststellen müssen, daß ihre Nutznießer sie gelangweilt infragestellen.
Doch solcherlei Zivilisationskritik begleitet die Moderne seit jeher, sie geriert sich mal rechts, mal links, und hat der neuen Naturfrömmigkeit und ökologischer Sensibilität viel zu verdanken. Sie offenbart die Sehnsucht des von seiner Freiheit strapazierten Individuums nach paradiesischen Urzuständen.
Erst jüngst konnte man diese Botschaft im Film „Avatar“ entziffern: In diesem genialen Spektakel zerstören gierige Kapitalisten das Paradies, nämlich Kultur, Religion und Lebensraum der bezaubernden indigenen Bevölkerung. Die gierigen Kapitalisten und ihre militärischen Helfershelfer sind dem häßlichen Amerikaner wie aus der Fratze geschnitten. Zwar hat man den Film in China nicht als Parabel auf die USA, sondern auf die chinesische Zentralmacht gelesen, die andere Kulturen und Religionen wie die der Tibeter unterdrückt.
Doch hierzulande liest man die Botschaft so, wie sie gewiß gemeint ist: es ist das US-amerikanische Imperium mit seiner gigantischen ökonomischen und militärischen Macht, das sich die Welt untertan machen will.
Und damit kommen wir dem Glutkern der Debatte womöglich näher.

Ich möchte der Vermutung nachgehen, daß es in unserem Streit gar nicht so sehr um eine Debatte über Religion und Kultur geht. Eher schon darum, wie wir hierzulande leben wollen. Doch auch darunter verbirgt sich noch etwas, eine hidden agenda, ein versteckte Botschaft.
Auf deren Spur bringt uns der Vorwurf des „Menschenrechtsfundamentalismus“. Diese Formulierung unterstellt offenbar, daß das mehr oder weniger kämpferische Beharren auf individueller Freiheit und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit des Einzelnen nicht fundamental, also die Basis unserer Zivilisation, sondern fundamentalistisch, also übertrieben wäre. Dem korrespondiert die Auffassung, „westliche Werte“, von denen manch einer nur noch in distanzierenden Gänsefüßchen schreibt, seien eine bloße Glaubensangelegenheit bzw. eine kulturelle Besonderheit unter anderen und das Menschenrecht, also der Vorrang des Individuums, je nach Religion und Staatsform relativ.
Erst die Vorstellung einer solchen Konkurrenz der Werte, die Unterstellung also, Menschenrecht sei ein bloßer Kampfbegriff, läßt verstehen, warum eine Kritik am Islam vom Menschenrechtsstandpunkt als ein zum Kreuzzug zugespitzter Wille zur Mission gedeutet werden kann, als Aufforderung also zur gewalttätigen Bekehrung Andersgläubiger.
Dem Westen ginge es also in diesem angeblichen Kreuzzug noch nicht einmal vordergründig um Menschenrechte, sondern um schlichte Machtinteressen, die sich hinter Universalien tarnen – frei nach dem Diktum Carl Schmitts „Wer Menschheit (oder eben Menschenrecht) sagt, will betrügen“.
Diese Debatte ist allerdings ebensowenig neu und sie hat heute wie gestern einen Adressaten: die USA, die amerikanische Außenpolitik ist gemeint, wenn von einem antiislamischen Kreuzzug die Rede ist. Die hidden agenda der Debatte ist Kritik an den USA.
Ist also Antiamerikanismus der Glutkern der Debatte? Nun, diese Keule soll hier nicht im Gegenzug gezückt werden. Es stimmt ja: Der Missionsgedanke ist den USA nicht fremd. Er ist natürlich auch dem Islam nicht fremd, um es zurückhaltend auszudrücken, auch wenn dem einzelnen Muslim nichts ferner liegen mag. Bei einflußreichen islamischen Predigern ist der Missionsgedanke offen und öffentlich Programm: die Bekehrung der ganzen Menschheit zu einer islamischen Ordnung. Dieser Herrschaftsanspruch tarnt sich im übrigen noch nicht einmal und daß ihm gewaltförmige Mittel fremd wären, kann man gewiß nicht behaupten.

In Europa sind die Kreuzzüge lange her und schon längst von einem anderen Ethos überlagert, das weder Napoleon noch Hitler noch zwei Weltkriege völlig haben zerstören können. Und diesem Ethos geht der Missionsgedanken völlig ab. Aus der Katastrophe des 30jährigen Religionskriegs zog man den Schluß, auf eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Gegners fürderhin zu verzichten. Dem mit dem Westfälischen Krieg entwickelten, aber weit tiefer wurzelnden Kriegsvölkerrecht zufolge galt es nun als unzulässig, dem Besiegten eine andere Staatsform oder Religion aufzuzwingen. Auf ähnliches verweist das sogenannte Rückwirkungsverbot: niemand kann für eine Tat aufgrund eines Gesetzes zur Rechenschaft gezogen werden, das zum Zeitpunkt der Tat noch keine Geltung besaß. Damit sollten Racheaktionen des Siegers verhindert werden. Niemand sollte mehr seine Interessen und sein Recht aus für alle geltenden Universalien ableiten dürfen - wie Gott, die Natur oder die Menschheit - und sich damit faktisch unangreifbar machen. „Gerechter Krieg“ hieß lediglich, daß es jedem erlaubt sein mußte, seine Interessen zu vertreten. Damit war nicht gemeint, daß sich eine der beiden Seiten auf eine höhere Moral beziehen durfte.
Missionsgedanken trieben höchstens Napoleons Heere voran, der sich der Freiheit wegen der hinderlichen europäischen Kriegsregeln entledigte – nicht immer zur Freude der solcherarts befreiten Völker.
Und in der Tat: die kurze Epoche der eingehegten Staatenkriege unterscheidet das „alte Europa“ von den vergleichsweise jungen Vereinigten Staaten von Amerika, die eine andere Ursprungslegende haben und daraus andere Akzente ableiten.
Ohne Zweifel steckt in der amerikanischen Emphase für Freiheit und Demokratie ein missionarisches Moment. Und das verdankt sich dem amerikanischen Bürgerkrieg. Zum nationalen Mythos gehört, daß es in diesem Bruderkrieg um Unverhandelbares gegangen sei: um die Befreiung der Sklaven. Es ging also um ein universales Gut. Allein das rechtfertigt die bedingungslose Unterwerfung des amerikanischen Südens – im Nachhinein. Während nach dem Modell der europäischen Staatenkriege kein Sieger den Besiegten sich einverleiben darf, ist das Grundprinzip eines Bürgerkriegs ein anderes: nur ein Prinzip, eine Religion, eine Verfassung kann den Frieden garantieren. Im Bürgerkrieg wie in fundamentalen Fragen muß der Kampf bis zum letzten geführt werden, ein Kompromiß ist nicht möglich, sonst schwelt der Konflikt weiter.
Das Engagement der USA im Ersten Weltkrieg begründete Präsident Wilson denn auch mit einem Ziel, das weit über Fragen der Machtbalance oder pragmatische Erwägungen hinausging: Die Zivilsation sei bedroht und man müsse die Welt „safe for democracy“, sicher für die Demokratie machen. Das schob dem Deutschen Reich nicht nur erst die Verantwortung und im Versailler Vertrag schließlich sogar (und durchaus gegen völkerrechtliche Gepflogenheiten) die „Schuld“ am Krieg zu, sondern sorgte auch auf lange Zeit für ein Geschichtsbild, in dem das Deutsche Reich lediglich als undemokratisches Wirtstier eines autoritären preußischen Militarismus galt - eine durchaus unzutreffende Verkürzung.
Was heute als linkes Argument gegen die amerikanische Vormacht angeführt wird, kam damals eher von rechts: daß Präsident Wilsons Parole den Krieg unzulässig moralisiert, ja in einen „Kreuzzug“ umgemünzt habe.
Damals ein Kreuzzug für die Demokratie, heute ein Kreuzzug fürs Menschenrecht? Aber waren den USA die Menschenrechte nicht bis vor kurzem noch völlig wurscht, als es um die Sicherung ihrer Einflußsphären im Kalten Krieg ging?

In der Tat haben sich die USA im Kalten Krieg mit der Sowjetunion ganz und gar nicht kleinlich gezeigt, was die Wahl ihrer Bundesgenossen betraf: blutrünstige Diktatoren und ausbeuterische Kleinkönige wurden nicht ungern in Kauf genommen, solange sie auf der richtigen Seite standen. Gewiß, der Sowjetunion durfte man schon mal gar nicht mit Demokratie und Menschenrecht kommen, was übrigens gerade auf der deutschen Linken stets auf Verständnis stieß: Man könne doch von Kommunisten nicht verlangen, daß sie sich nicht kommunistisch verhalten! Im Kommunismus gilt das Individuum nichts, das Ganze ist alles, man konnte der Sowjetunion also schwerlich vorwerfen, daß sie sich nicht an Werte hielt, die nicht die ihren waren.
Freiheit und Menschenrecht galten als Kampfbegriffe im Kalten Krieg, weshalb es viele Jahre lang insbesondere in den linksliberalen Kreisen Westdeutschlands als unangemessen galt, der Sowjetunion Menschenrechtsverletzungen vorzuwerfen. Und das dachten nicht nur die, die mit dem Vaterland des Sozialismus offen sympathisierten.
Die polnischen Solidarnosc-Kämpfer hielt man 1981 in Deutschland gar für egoistisch: denn sie stellten ihr Freiheitsbedürfnis über den Erhalt jenes prekären Mächtegleichgewichts,von dem die Deutschen ihre Sicherheit, ja ihr Leben abhängig glaubten. Pragmatisch-robust hieß es da schon mal, man müsse Verständnis dafür haben, daß die Sowjets für Ordnung auf ihrem Hinterhof sorgen.
Man ist da heutzutage empfindlicher, erfreulicherweise. Das Mißtrauen gegen ein Amerika aber, daß sich als Vorkämpfer für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte empfiehlt, bleibt. Gewiß, heißt es dann. Heute begründet die amerikanische Regierung militärische Interventionen zwar nicht mehr mit dem notwendigen Kampf gegen die kommunistische Weltherrschaft, sondern mit den Menschenrechten. Allerdings nur, um die eigene Bevölkerung von der gerechten Sache von militärischen Interventionen wie etwa in Afghanistan zu überzeugen. Gegen China kann man die Menschenrechte nicht durchsetzen, in Somalia oder an anderen hoffnungslosen Orten will man nicht, die Bevölkerung würde es nicht mittragen, wenn man Soldaten in aussichtslosen Lagen verheizt.
Also sind Menschenrechte Schall und Rauch? Beliebig einsetzbar, wann es gerade paßt? Ist die amerikanische Menschenrechtsmission also nichts anderes als scheinheilig?
Nein, um die Antwort vorwegzunehmen. Doch das macht das Dilemma nicht geringer.

Schon im Ersten Weltkrieg begann der Abschied von der Idee des einhegten Staatenkriegs, derzufolge der Ball flachzuhalten war, was eine Aufladung der jeweiligen Interessen mit Werten und großen Worten betrifft. Aus einem einfachen Grund: die Mobilisierung einer derart großen Zahl von Menschen, wie sie die Massenarmeen forderten, war nicht nur in Demokratien ohne eine breite Zustimmung der Bevölkerung nicht möglich. Die Armeen waren kein Instrument fürstlicher Machtökonomie mehr, Befehlsempfänger, sonst nichts, sondern im Gefolge der Nationalisierung der Kriege eine Kraft geworden, die einen anderen Antrieb brauchte.
Man zog in den Krieg fürs Vaterland, für die Zivilisation, gegen die Barbarei, kurz: für höchste Werte. In Demokratien müssen Menschen überzeugt werden. Und nicht selten werden sie dabei belogen oder überrumpelt, wie es der damalige Außenminister tat, als er die kriegsentwöhnten Deutschen zum militärischen Engagement im Kosovo mit dem höchsten unserer Werte anfeuerte: man müsse ein neues Auschwitz verhindern.
Gewiß ist auch der Kampf fürs Menschenrecht dazu geeignet, einer pragmatischen Machtpolitik höhere Weihen zu geben. Also doch eine „Siegerreligion“?
Mal abgesehen davon, daß völlig unklar ist, ob und wo unter dem Banner der Menschenrechte gesiegt wird: Das Etikett geht an der entscheidenden Pointe vorbei. Die Menschenrechte auf dem Banner zeugen nicht nur von der Stärke des Westens, sondern ebenso von seiner Schwäche. Ironisch zugespitzt: „Menschenrechtsfundamentalismus“ ist das Gegenteil einer Siegerreligion. Es bedeutet die Politik der gebundenen Hände.
Die Tragödie von Kundus hat diese Schwäche des Westens unbarmherzig enthüllt.
Ziviltote als unbeabsichtige Nebenfolgen einer militärischen Aktion verletzen das Menschenrecht auf Unversehrtheit. Aber auch das bewußte Töten, ja das „Vernichten“ gegnerischer Talibanführer, von dem der befehlsgebende deutsche Oberst Klein sprach, widerstrebt einem Rechtsempfinden, das weder die Todesstrafe noch ihre Vollstreckung ohne ein Urteil nach Recht und Gesetz akzeptiert. Vor Ort interessiere das niemanden? Mitnichten. Denn auch der Gegner hat gelernt, sich eine kritische und selbstkritische Weltöffentlichkeit zunutze zu machen. Um die Achillesferse des Westens wissend, benutzt man Zivilisten als menschliche Schutzschilde. Auf den westlichen Aufschrei über „Kollateralschäden“ kann man sich verlassen.
Ebenso gewiß kann man sein, daß die westliche Seite keine Selbstmordattentäter ins Feld schickt. Die kennen übrigens den Begriff des kollateralen Schadens, also der unbeabsichtigten Nebenwirkung, schon deshalb nicht, weil sie nichts anderen wollen als soviele Zivilisten wie möglich mitnehmen auf ihren Todestrip. Diese Lebensverachtung kennt der westliche „Menschenrechtsfundamentalismus“ in der Tat nicht.
Die regulären Armeen in Afghanistan versuchen sich angesichts der eigenen Werte und einer kritischen Öffentlichkeit zu Hause mitten im Chaos durch ein umständliches und zeitraubendes Procedere zu mäßigen und abzusichern. Das macht sie unbeweglich und angreifbar. Soldaten, von Demokratien entsandt, verfügen nicht über jene Nonchalance, die ihre irregulären Gegner über Leichen gehen läßt.
Sie teilen eben nicht jene Geringschätzung des einzelnen Lebens, das typisch ist für Kulturen und Religionen, in denen das Individuum und seine Rechte den Zielen und Interessen des Kollektivs untergeordnet sind. Hatte nicht Saddam Hussein einst damit geprahlt, daß er jederzeit Millionen von siegeshungrigen jungen Männern aufs Schlachtfeld schicken könne? Dem Westen fehlt nicht nur die Vielzahl junger Männer, wir sind auch nicht bereit, sie als bloßes Kanonenfutter zu opfern.
Nein, der westliche „Menschenrechtsfundamentalismus“ ist mitnichten eine „Siegerreligion“. Und ihre westlichen Freunde vertun sich, wenn sie Muslime für Opfer halten. Islamistische Scharfmacher führen das muslimische Kollektiv höchstens aus taktischen Gründen als Opfer vor, weil man damit bei den gutwilligen Kreisen im Westen Punkte macht.

Die auch im europäischen Westen noch nicht lange errungene Freiheit des Individuums, sein Glück auf die ihm gemäße Weise in die eigene Hand zu nehmen, ist eine mächtige Triebfeder. Gewiß, sie hat ihre häßlichen Seiten, doch weit häßlicher ist die Armut, die sich paternalistischen Sozialstrukturen verdankt, in denen das Kollektiv alles, das Individuum nichts ist. Wo das Individuum nichts gewinnen darf, wird lediglich das Elend sozialisiert.
Unsere Stärke und unsere Achillesferse zugleich ist die Achtung vor dem individuellen Leben. Das gegen seine Verächter zu verteidigen, bedeutet in der Tat die Quadratur des Kreises. Ein Dilemma, gewiß. Ein unauflösbares, wahrscheinlich.
Hoffentlich: denn nur autoritäre Glaubenssysteme kennen keins.

Essay in: Fokus Politik, RBB, 6. Juni 2010, 19.04 – 19.30

7 Kommentare:

  1. Das Problem ist doch, dass wir Westler alles kritisieren müssen. Dies schließt nicht nur Selbstkritik mit ein, sondern leider auch einen Hang zur Selbstverdammung, ein Phänomen, dass ich mir nicht erklären kann.
    Die Islamuisten lachen sich derweil ins Fäustchen.
    Dies fördert wiederum die Selbstverdammung der Westler. Warum nur sind wir so blöd, die Welt retten zu wollen? Dabei sollten als erstes uns selber retten, nicht nur uns, sondern auch der Welt zuliebe.

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  2. Ganz hilfreich in diesem Zusammenhang ist vielleicht Pascal Bruckners Buch "Tyranny of Guilt: An Essay on Western Masochism".

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  3. Ich frage mich, ob diese Kritik an unseren Werten nicht einfach auch der Langeweile entspringt?

    Wir leben ja nun de facto in paradiesischen Zeiten. Zu keinem Zeitpunkt hatten wir weniger Probleme oder mehr Freiheiten als jetzt.

    Und es schein den Menschen nicht zu reichen. Wie bei „Matrix” so schön gesagt: Eine perfekte Welt mag der Mensch nicht annehmen.

    Also suchen wir uns Träume, die unrealisierbar sind, Ziele, die sich selbst widersprechen. Und sagena sie uns so lange vor, bis wir daran glauben,
    - daß wir naturverbunden sein müßten, und gleichzeitig
    - mehr Kinder bekommen sollten, ohne zu überlegen, wie man die Überbevölkerung ohne maschinelle Produktionsweisen satt bekommt

    - daß wir Klimaschutz betreiben, indem wir Windräder aufstellen, die zwar den Zielen des
    - Umweltschutzes widersprechen, aber dies begründen wir dann mit, äh, Dialektik.

    - daß wir jegliche Demokratie stets dafür kritisieren, wenn sie Fehler macht, aber
    - den Diktatoren Verständnis entgegenbringen.

    Die Sehnsucht nach einem Leben mit festen Regeln, mit klaren Hierarchien, die aber stets von so weisen Menschen geleitet werden, daß sie immer das Richtige tun – ich glaube, sie entspringt einer Überforderung mit der persönlichen Freiheit, mit den paradiesischen Zuständen, die man nicht einfach genießen kann, weil man sich nutzlos oder überfordert vorkommt.

    Vielleicht biologisch bedingt? Wir sind so gut im Anpassen, daß wir auch stets eine Herausforderung brauchen?

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  4. Wow!

    Super Text, danke

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  5. Sebastian Stark7. Juni 2010 um 15:30

    Wow! ist vielleicht ein bißchen wenig, also hier nochmal was Extra

    Allgemein &
    @ German Psycho:

    Im prinzip ist ein ewiger Debattenfehler die Idee, dass es eine einzige richtige Sichtweise gebe. Auch der Realtivismus/Pluralismus ist ja lustigerweise eine Sichtweise, die sich selbst verabsolutiert, aber da dieser wiederspruch von der Masse der postmodern denkenden nicht aufgelöst werden kann(wozu man Dialektik braucht!) wird er einfach unter den Tisch gekehrt.

    Jedenfalls finde ich sollte langsam die Spreu vom Weizen getrennt werden. exemplarisches Beispiel(sic!;) Achse des Guten: Da schreiben naive kleinbürgerliche Rassisten neben sehr tiefsinnigen menschen unterschiedlicher Ausrichtung. Motto: Der Feind meiner Feinde ist mein Freund.
    Der Europa Freund macht gemeinsame Sache mit dem ethnozentrischen Rassisten wenn es um Islam Kritik geht, genauso wie euroLinke gemeinsame Sache machen mit IslamoFaschisten oä, weil diese gegen Kapitalismus und USA sind etc etc. Diese ganzen Zusammenschlüsse basieren alle auf diesem seltsam oppurtunistischen meinungskampf, der mE nach auf dem postmodernen Relativismus basiert, auch auf der liberalen und Rechten Seite.

    Da muss ein universalimus her, sonst kann es niemals eine auf globaler Ebene Effektive Integration der Diskurse geben. Diese universelle Werte hierarchie kann aber nicht einfach so vor sich hingetragen werden, wie im 19ten jahrhunderet der Fall war. Die drei großen Kulturellen Strömungen der tradition, der Moderne un der postmodernen müssen auf effektive Weise integriert werden, wenn wir voranschreiten wollen.

    Soweit meine Sicht

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  6. Alleine die Wortschöpfung Aufklärungsfaschist lässt mich am Verstand so einiger Menschen zweifeln. Hier werden aus falsch verstandener Toleranz andere Meinungen und Kritik niedergebrüllt oder die Kritiker als Faschisten beschimpft.

    Das macht in einer freiheitlichen Demokratie Angst und Bange.

    Ich bin aber immer wieder froh gleichgesinnte Menschen zu treffen, vor allem solche die ihre Meinung auch veröffentlichen.

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  7. Ich finde Ihren Essay eine präzise und saubere Analyse. Danke dafür.

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Wir Untertanen.

  Reden wir mal nicht über das Versagen der Bundes- und Landesregierungen, einzelner Minister, der Frau Kanzler. Dazu ist im Grunde alles ge...