Montag, 5. Dezember 2011

Kleine Geschichte der Aneignung der Produktionsmittel durch den Autor nebst Überlegungen, die Zukunft betreffend.

Die Produktionsmittel in Volkes Hand? Ein Traum, der längst verblasst ist. Heute merkt das Volk noch nicht einmal mehr, wenn es über seine Produktionsmittel verfügt – jedenfalls nicht, sofern es aus Schriftstellern und anderen Worttätigen besteht. Dabei beginnt der Kampf darum bei den meisten Autoren schon in der Kindheit, wenn die Erwachsenen selbst bestimmen wollen, wann und wie lange sie vorlesen möchten. Wer sich nicht mit Dankbarkeit aufhalten will, dafür nämlich, dass sie sich überhaupt die Mühe geben, lernt selber lesen. Den nächsten Schritt bestimmt kindlicher Nachahmungstrieb: auch schreiben wollen! Nach ersten handgekrakelten Gedichten, von der Familie so wohlwollend aufgenommen wie die Blockflötensoli zu Weihnachten, strebt der künftige Autor nach Größerem: nach Verbreitung der Proben seines Könnens. Hat nicht die Lieblingstante Talent bescheinigt? Na also. Jetzt wird vervielfältigt.
So fängt’s an und so geht es weiter: von der Handschrift über das Kohlepapier über die Fotokopie zum E-Book. Es ist ein Weg der Entfesselung. Klar, dass das nicht allen gefällt.
Das E-Book, selbstgebastelt, ohne Lektorat und Korrektur, ohne Marketing und Werbung, ohne Lagerplatz, Vertrieb und Buchhandel, einfach so auf den digitalen Marktplatz gestellt, wo es für relativ wenig Geld zu haben ist, ist Verheißung und Provokation zugleich. Provokation: Da kann ja jeder kommen! Die Alteingesessenen verteidigen ihre Privilegien. Erfolgreiche Autoren verweisen auf die Schmerzen, die sie bei den Initiationsritualen der Branche erlitten haben. Über sieben Brücken mussten wir gehen, mindestens! Die Priester in den Verlagen verteidigen ihren Beruf, der im Auswählen, Verbessern, Aufbereiten bestehe, eine Qualitätskontrolle, die Autoren vor der Blamage und Leser vor schlechten Büchern schütze. Sie sehen handwerkliche Fertigkeiten entwertet, fürchten wie einst die Zünfte den Einbruch des Ungeregelten, die Konkurrenz der Anbieter billiger Ware zu Dumpingpreisen. E-Bookinisten wiederum wittern Zensur, votieren für das Niederreißen kleingeistiger Schranken, für grenzenlose Freiheit. Und nörgeln: werfen unsere Qualitätskontrolleure bei den Verlagen nicht bereits jetzt schon massenweise schlechte Bücher auf den Massenmarkt, unterstützt von Buchhändlern, die sich längst nicht mehr als Schleusenwärter verstehen, weil auch sie Umsatz brauchen?
Wie recht sie haben. Beide Seiten. Doch der Geist ist längst aus der Flasche.

Wie alles anfing? Wie viele Revolutionen: Mit einer Schreibmaschine, deren Farbband zerschlissen war, und mit abgenutztem Kohlepapier. Man kann heute jene, die vor Jahrzehnten innerer Antrieb ans Schreibwerkzeug trieb, und nicht Schule und äußere Notwendigkeit, daran erkennen, dass sie die Tastatur nicht nach dem Zehnfingersystem bearbeiten. Schließlich kam es auf den Inhalt an, nicht auf die Form. Und wenn man sich anstrengte und mit Kraft in die Tasten hieb, bekam man auch mit müdem Kohlepapier noch drei Durchschläge hin – die ersten Veröffentlichungen, für Freunde und Familie. Das Wunder ging weiter: Mit beschrifteten Matrizen, das erlaubte Verbreitung in Klassenstärke. Und im letzten Drittel der 60er Jahre konnte man mit selbst hergestellten Vorlagen sogar die Zeitung für die ganze Schule drucken lassen. Offset hieß das – und das sagt alles. Die Herren über den Bleisatz waren zu Recht upset. Noch konnten sie mit Qualität argumentieren, die allein ihr Handwerk garantiere. Aber es wetterleuchtete bereits am Horizont.
Meine Staatsexamensarbeit wurde noch als schreibmaschinengetipptes Original mit Durchschlägen eingereicht. Als Lektoratsassistentin bei der edition Suhrkamp habe ich solche Manuskripte hassen gelernt. Immerhin: wenigstens kam Anfang der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts kaum noch Handgeschriebenes auf meinen Schreibtisch. Doch vor allem Intellektuelle pflegten ihre Manuskripte als unwiderbringliche Originale und in einer Form anzulegen (einzeilig, kein Rand), die kein vernünftiges Lektorat zuließ. Vernünftig nicht nur im inhaltlichen Sinn – die handschriftlichen Verbesserungen, Einfügungen und Korrekturen mussten lesbar bleiben, und zwar für Menschen, die sich mit dem Thema nicht auskannten, für das der Suhrkamp-Autor Spezialist war. Die Manuskripte mussten nämlich im nächsten Gang „erfasst“ werden, damit sie gedruckt werden konnten.
Ein Geständnis nach all den Jahren: ich habe nie eine der Texterfasserinnen kennengelernt. Dabei glaube ich fest, dass es sich überwiegend um Frauen handelte, die in Heimarbeit eigentlich unlesbare Manuskripte in eine druckgemäße Form brachten. Und wahrscheinlich schrie ein Baby im Nebenzimmer. Oder direkt neben dem Schreibtisch. Das entschuldigt einiges, auch die oft unzählig vielen Satzfehler, die in einem weiteren Korrekturgang aufgespürt werden mussten. Und das war mein Job.

Solcherlei Erfahrungen bestärkten im Wunsch, die Produktionsmittel in die eigene Hand zu nehmen. Selbst in jenen Zeiten aber, als man sie alle in die Hände der Arbeiterklasse legen wollte, war das nicht einfach. Auch in der Alternativszene gab es Arbeitsteilung, daraus entstand eine neue Gestalt der Zeitgeschichte. Dem in Nachtschicht durchgekurbelten Flugblatt folgte die Szenezeitschrift und die Renaissance der Satzkunst in der Figur des Säzzers und der Säzzerin, die ihre Emanzipation vom ehrbaren und ehrpusseligen Handwerk zugleich als Sieg über den Inhalt feierten. Im Unterschied zum alten Handwerksadel kannten die Säzzer keinerlei Respekt vorm Geschriebenen. Und vor allem keinen vor ihren Erzeugern.
Rechtschreibung? „Das versteht doch jeder, egal, ob es falsch geschrieben ist.“ Wer in Sachen Grammatik und Orthografie Spießer war, musste die Beherrschung eines Ungetüms namens Composer lernen und sich nach Feierabend klammheimlich daran setzen, um Korrekturen zu tippen und in die fertige Satzvorlage zu kleben.
Composer sind ein längst vergangenes und zu Recht vergessenes Produktionsmittel, das man heute nur mit Mühe noch ergoogeln kann und dessen Umständlichkeit selbst jene Pioniere nicht ermessen können, die Frühfassungen von Word überlebt haben. Word war ein Wunder, ein Wunder an Umständlichkeit und jähen Abstürzen mit gnadenloser Textvernichtung. Und dennoch: der PC als Schreibmaschine war eine Erlösung, verglichen mit der Zeit davor.
Kein händisches copy and paste der Manuskripte auf dem Fußboden mehr. Schluss mit der Fehlerquote bei der Texterfassung. Dafür riskierte man schon mal hohe Anschaffungskosten – um festzustellen, dass man als Autor, der sein Manuskript auf Diskette einreichte, fortschrittlicher war als die Verlage. In den Lektoraten verlangte man noch nach einem ordentlichen Manuskriptausdruck. Doch auch dort lernte man schnell: welcher Autor hat schon Geld dafür gesehen, dass er den Verlagen die Texterfassung abgenommen hat, eine heute selbstverständliche Dienstleistung? Der Posten sei nicht kostenerheblich, hieß es, wenn man sich zu fragen traute. Offenbar hatte man den Texterfasserinnen zuvor Hungerlöhne gezahlt.
Dialektische Prozesse. Viele der Autoren, die mit dem PC zu arbeiten begannen, interessierte nur am Rande, dass sie mit dem neuen computergestützten Schreibwerkzeug bereits die Produktionsmittel der Zukunft zur Verfügung hatten und beschäftigten sich lieber mit der Frage, ob sich durch die vielfältigen Möglichkeiten der neuen Technik das Schreiben verändere. Die Antwort lautet, auch bei Oberkritiker Reich-Ranicki: Ja, gewiss. Selten werden Texte durch mehrfaches Überarbeiten schlechter. Am Erzählen selbst aber hat sich seit der mündlichen Überlieferung am Lagerfeuer so viel nicht geändert.
Doch das Abwälzen der Texterfassung auf den Autor hat das Tor weit geöffnet für seine Emanzipation. Selbermachen? Kein Problem. Für ein weltweit verfügbares E-Book braucht der Autor einen PC, ein Texterfassungsprogramm, ein bisschen Software, um die Textmasse in eine taugliche Form zu bringen, eine ISDN-Nummer, einen Breitbandanschluss und einen Amazon-Account. Dazu das Übliche: eine Idee, einen Plot, eine gute Geschichte. Talent hilft auch.
Gewiss, jene Qualitätskontrolle durch Verlag und Buchhandel fällt weg, auf die sich beide gern berufen. Doch für Autoren, die durch den Verzicht auf einen Verlag keinen Verlust erleiden, weil sie dort ein gründliches Lektorat, Werbemaßnahmen oder gar einen Vorschuss längst nicht mehr erwarten können, und die auch dem Buchhandel keine Rücksicht entgegenbringen müssen, weil der ihn ignoriert – für all die ist das digitale Veröffentlichen eine Chance.
Muss man sich also vor einer Flut miserabler Selbstverwirklichungsprosa fürchten? Nicht mehr als heute schon. Auch im Netz entscheidet der Markt. Werden die wahren Perlen der Dichtkunst im Brackwasser des digitalen Tümpels untergehen? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Dort wird man sie womöglich eher finden als im stationären Buchhandel, der mit seinem geringen Raum auf Bestseller setzen muss, will er Umsatz machen.
Doch gemach – wenigstens in Deutschland ist die Welt noch in Ordnung. Noch müssen sich hierzulande die Verlage keine Sorgen darüber machen, dass ihnen die Autoren weglaufen, denn die sind treu. Noch zehrt diese Beziehung von der Aura, die „das Buch“ hat, das in einem renommierten Verlag erschienen ist, „ein zertifiziertes Siegel für wertvollen Inhalt“ (Rüdiger Wischenbart). Und von der Aura des „Kleinen Buchhändlers um die Ecke“, von dem vermutet wird, dass er ungehobene Schätze bereithalte. Eine Illusion, meistens jedenfalls, denn was nicht bestsellt, überlebt heute selten länger als vier Monate in den Regalen der Buchhändler, sofern es überhaupt dorthin vorgedrungen ist.
In Deutschland wird der Abschied von Verlag und Buchhandel so bald nicht stattfinden. Noch verdrängt man den Trend, den die USA vorgeben – schließlich ist auch die Zahl der mit einem E-Book-Reader ausgestatteten Leser noch klein. Doch durch das E-Book ist der Buchmarkt global geworden und es sind gerade die Kernkunden des Geschäfts, die gut ausgebildeten, gut verdienenden, oft älteren Kulturbeflissenen, die sich zunutzemachen, dass beim E-Book auch der Preis global geworden ist, und die zum englischen Original greifen, wenn die deutsche Übersetzung ihnen zu teuer ist.
Amerikanische Autoren wiederum haben erkannt, dass der deutschsprachige Buchmarkt, immerhin der drittgrößte weltweit, beweglichen Geistern Chancen bietet. Warum nicht die eigenen Werke selbst ins Deutsche übersetzen lassen und fürs Kindle anbieten? Ob sie davon profitieren, weiß man nicht. Gewiss aber profitieren die Leser.
Noch sind in Deutschland Verlage und Buchhandel die Bremser und die Autoren zeigen sich wenig wagemutig. Darauf, dass das so bleibt, sollte man nicht setzen. Ob es ein neues Bündnis zwischen Verlagen und ihren „Contentproduzenten“ geben wird? Noch ist Zeit dafür. Doch eines ist gewiss: ihre Produktionsmittel wird man den Autoren nicht mehr wegnehmen können.
Literarische Welt, 3. Dezember 2011

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