Montag, 2. Januar 2012

Unsere ethischen Eliten

Lasst sie doch, die Briten, Franzosen, Griechen. Lasst ihnen ihre kleinlichen nationalen Rachegefühle und ihre altbackene Bilderwelt, in der stets Deutsche im Stechschritt marschieren, wenn eine deutsche Regierung mal unvorsichtigerweise tut, was ihnen nicht gefällt. Das ist ihr Problem. Kurioser ist, dass man in Deutschland stets schuldbewusst zusammenzuckt, wenn die anderen mit nationalen Vorurteilen kommen – gern auch vorauseilend.
Warum eigentlich? Die Höflichkeit gebietet schließlich, zwischen Volk und Regierung zu unterscheiden. Bei Diktaturen fällt das leicht. In Demokratien sollte es noch leichter fallen, schließlich kann man hier ziemlich präzise angeben, wer „schuld“ ist an der jeweiligen Regierung: Selten auch nur die Mehrheit der Wahlberechtigten, da die Zahl der Nichtwähler in allen Demokratien eine relevante Größe ist.
Also nur Mut, liebe Deutsche! Ihr seid nicht an allem Unglück der Welt schuld. Noch nicht einmal dem Herrn Hitler habt ihr eine Mehrheit geschenkt, jedenfalls nicht, so lange es noch freie Wahlen gab. (Wem gefühlte Mehrheiten nicht ausreichen: Reichstagswahlen 6. November 1932: 33, 1% der abgegebenen Stimmen für die NSDAP.) Es war Hindenburg, der Hitler zum Reichskanzler machte – und dem Ermächtigungsgesetz am 24. März 1933 stimmte nicht das Volk, sondern die im Reichstag noch vertretenen Parteien zu (mit Ausnahme der SPD). Also das, was man die bürgerliche Elite nennt.
Nicht, dass diese Erkenntnis das Volk von allen Dummheiten freispräche. Aber es spricht dafür, die Gegenwartsanalyse von historischen Analogien zu befreien. Mit alten Vokabeln neue Gefahren zu erfassen, führt auf die falsche Spur. Der militante Islam ist kein Islamo-Faschismus, das ist richtig, was ihn deshalb nicht gleich zu einem teetrinkenden Kuscheltier macht. Und den Euro, die EU und Europa sollte man nicht für eine alte Agenda missbrauchen, an die sich vor allem hierzulande der links und gut denkende Mensch zu klammern pflegt: die Welt vor den Deutschen und die Deutschen vor sich selbst zu schützen, also Deutschland „einzubinden“, indem man es möglichst schwächt, wirtschaftlich wie politisch, bis es endlich verschwunden ist, aufgegangen in einem höheren und edleren Gemeinwesen namens Europa.
Doch was als Garant des Friedens gedacht war, zeigt derzeit vor allem seine zerstörerische Seite: Der Euro zwingt zusammen, was nicht zusammenpasst, und zieht die „Idee“ von Europa gleich mit hinunter in den Morast von Misstrauen und Neid. Wenn man das Volk fragte, bekäme Euro-Europa derzeit keine Mehrheit.
Ach, das Volk. Das viel gescholtene, dem keiner traut, obzwar alle Naselang die Rede davon ist, dass es mehr entscheiden und häufiger partizipieren soll. In Deutschland hat das Misstrauen gegen den großen Lümmel sogar Verfassungsrang. Bekanntlich wird nur die Hälfte aller Abgeordneten direkt gewählt, die andere Hälfte kommt über die Listen der Parteien ins Parlament, und es entspricht der Natur der Sache, dass listentauglich ist, wer sich parteikonform gibt. Die Parteien genießen gerade in Deutschland mehr Macht, als ihnen (und den Wählern) gut tut. Auch zeigt die Stärke der Nichtwähler, dass die Gewählten über eine eher schwache Legitimität verfügen: bezieht man die Wahlergebnisse jeweils auf alle Wahlberechtigten, fußt die schwarzgelbe Koalition lediglich auf knapp 34 % Wählerzustimmung.
Und das Parlament? In der Debatte um die Staatsschuldenkrise schien der deutsche Bundestag gewillt, auf Souveränitätsrechte wie die Selbstbestimmung über das nationale Budget zu verzichten. Und noch heute sind gewählte Abgeordnete eine Antwort auf die Frage schuldig geblieben, warum die Bundesbürger nichtgewählten Institutionen wie einer Zentralbank mehr Vertrauen schenken sollten.
Nein, das deutsche Wahlvolk hat hierzulande ganz und gar keine Gelegenheit, sein womöglich furchterregendes Potential auch auszuüben. Es überlässt seit Beginn der Bundesrepublik Deutschland mehr und mehr wesentliche Entscheidungen den Eliten – zumindest, wenn sie in der roten Robe der Bundesverfassungsrichter daherkommen. Wollte man mit Lehren aus der Geschichte argumentieren, so wäre just davor zu warnen: waren es nicht bürgerliche Eliten, die die Welt und Deutschland an Hitler ausgeliefert haben?
Aber lassen wir das Spiel mit den historischen Analogien. Interessanter ist die Frage, warum der Ruf nach den „weisen Eliten“ wieder lauter wird. Von den Klimarettern kennt man das schon. Dort ist man seit langem der Meinung, dem Wahlvolk sei nicht zuzutrauen, auch mal über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, weshalb Klimafragen zu Menschheitsfragen erklärt werden müssten, über die eine „ethische Elite“ wacht. Wer das sein soll? Ach, das findet sich schon. Meistens bescheinigt sich die Elite ja selbst jene Weisheit und Ethik, an die der Rest der Welt glauben soll, wie man in jeder Talkshow besichtigen kann, in denen Heiner Geissler oder Helmut Schmidt das Sagen haben. Erkenntnis ist hier selten zu erwarten.
Nein, wir haben nicht zu viel Demokratie hierzulande. Weshalb man dennoch an ihr manchmal verzweifeln möchte, liegt an dem, was ihren Charme ausmacht. Ein Diktator kann befehlen. In der Demokratie muss das Wahlvolk überredet werden, entweder charmiert und hofiert oder belogen und hinters Licht geführt. Die Überredungskunst, die sich materieller Mittel bedient, mag dabei auf lange Sicht noch am unschädlichsten sein, obwohl sie an der Wurzel der Staatsschuldenkrise liegt. Das Wohlstandsversprechen, das Parteien relevanten Wählergruppen machen, trägt ja nur zum Schuldenberg bei, mehr nicht. Und dagegen helfen schließlich Steuererhöhungen, oder?
Schlimmer sind jene historischen Analogien, vor denen Jan-Werner Müller zu Recht warnt: Saddam Hussein? Ein neuer Adolf Hitler. Intervention im Kosovo? Um ein neues Auschwitz zu verhindern. Gewiss: Diktatoren befehlen ihre Untertanen ins Feuer. In einer Demokratie aber kann den militärischen Einsatz der eigenen Bürger nur zweierlei rechtfertigen: Selbstverteidigung und Menschheitsfeind. Überredungskunst und Manipulation sind Geschwister.
Das Dringlichkeitspathos in der Euro-Debatte ist von dieser Art. Nein, Europa geht nicht unter, wenn der Euro nicht überlebt. Und Deutschland ist nicht der Vergangenheit wegen in der Pflicht. Um verbale Abrüstung wird gebeten. Und, in der Tat, um eine neue Debatte über das Volk, seine Eliten und die Demokratie.
In: Die Welt, 2. Januar 2012

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