Montag, 30. Dezember 2013

Hundert Jahre Traurigkeit. Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs wäre vermeidbar gewesen

Wer in Nordfrankreich die Picardie besucht, ein Gebiet nördlich von Paris und Reims, ist meist weniger an seiner lieblichen Landschaft interessiert als an dem, was darunter liegt. Es sind die Toten, die Jahr um Jahr die Besucher anziehen. Vor allem Briten pilgern an die Somme, in das Dreieck zwischen Péronne und Abbeville, auf der Suche nach einem der rund 400 Friedhöfe, die zwischen Wiese, Rübenfeld und Wald liegen, dazwischen Monumente und Totenhallen, Kapellen und Denkmäler. Tausende weisser Steine über den Überresten von Briten und Franzosen – manchmal liegen darunter sogar die Knochen der Männer, deren Namen auf den Steinen stehen, mitsamt Rang, Geburts- und Todestag. Meist ist dazu ein Kreuz eingraviert, oft ein Davidstern, auf vielen aber steht kein Name, sondern nur «A Soldier of the Great War. Known unto God.»
In Thiepval erinnert der Ulster-Tower an die 2500 irischen Soldaten, die hier an einem einzigen Tag gefallen sind, in Beaumont-Hamel gilt die riesige Skulptur eines Karibus dem Regiment der Neufundländer, das dort fast völlig aufgerieben wurde. Noch heute erkennt man in der sanften Dünung des Bodens die Konturen der Schützengräben, in denen sich die gegnerischen Soldaten gegenüber lagen. Jeden Sommer, am 1. Juli, dem Datum, an dem 1916 die für die Briten mit fast 80 000 Toten verlustreichste Schlacht begann, sind die Stätten des grossen Sterbens übersät mit Poppies, jenen Mohnblumen, die zum Symbol der gescheiterten Offensive an der Somme geworden sind.

Unorte, explosiv
Das lothringische Verdun, im Nordosten Frankreichs, ist der wichtigste Erinnerungsort der Franzosen. Auch hier eine Parade weisser Steine, die sich bis zum Horizont erstreckt. Daneben verbotene Orte, unbetretbar, weil der Boden unter Krüppelbewuchs, Gestrüpp und schillernden Sümpfen noch heute explosiv ist. Der Erste Weltkrieg lebt: selbst im freigegebenen Gelände treffen die Pflüge der Bauern immer wieder auf Stacheldraht und Knochen, auf Geschosshülsen, Bajonette, Koppel. Und auf Blindgänger.
Noch vor zwanzig Jahren war man bei Reisen zu den Schlachtfeldern an der Westfront des Ersten Weltkriegs allein mit den Briten und Franzosen. Auch heute sind deutsche Besucher in der Minderzahl. Für viele Deutsche ist der Erste Weltkrieg «ein paar verwitterte Steine in Form von Kriegerdenkmälern und Soldatenfriedhöfen» und nicht weiter von Bedeutung, wie der ehemalige Aussenminister Joschka Fischer nicht ohne Bedauern anmerkt, er ist überschattet von der grösseren Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Und wie Joschka Fischer und sein Nachfolger als deutscher Aussenminister, Guido Westerwelle, reklamieren viele Deutsche die Schuld am Ersten, als ob es angesichts des Zweiten Weltkriegs darauf nun auch nicht mehr ankomme. Sie können mit den völkerverbindenden Trauerritualen der anderen wenig anfangen: Weil die Vorväter eine schmähliche Niederlage erlitten haben? Oder vielmehr, weil man glaubt, die Schützengräben hätten jede Menge williger Gefolgsleute Hitlers ausgebrütet, um die man nicht zu trauern hat?
Für die anderen aber ist der Erste Weltkrieg die bestimmende Signatur des 20. Jahrhunderts: hier begann, was in Strömen von Blut mündete und erst 1989 zu Ende ging. Und was derzeit auf ungemütliche Weise wieder nähergerückt zu sein scheint.
Mich hat das Thema nie losgelassen. Mehr als fünfzehn Jahre habe ich mit der Suche nach dem Grund verbracht, der die Männer in den Schützengräben ausharren liess, im stinkenden Schlamm, verseucht mit Rattenkot, Leichenresten und Chlorkalk. Was hielt sie dort? Vaterlandsliebe? Der Glaube an die Kultur (die Deutschen) oder die Zivilisation (die Briten)? Der Hass auf den Gegner, die Liebe zum eigenen Regiment? War es ein «guter», ein «gerechter» Krieg, den Briten und Franzosen führten; ging es um die lebensnotwendige Verteidigung gegen feindliche Umzingelung, wie die Deutschen dachten? War es gar der «Krieg, um alle Kriege zu beenden» und galt es, die Welt «sicher für die Demokratie» (der amerikanische Präsident Woodrow Wilson) zu machen? War das legitime Kriegsziel der Alliierten im Ersten ganz ebenso wie im Zweiten Weltkrieg, ein nach der Weltmacht strebendes barbarisches Deutschland in seine Schranken zu weisen? Und war man mit dem Deutschen Reich am Ende viel zu sanft umgegangen, hätte man es «zerschmettern» müssen? Oder war es, umgekehrt, just das ungerechte und rachsüchtige Diktat von Versailles, das Deutschland reif für Hitler machte?
Und was bedeutete noch ein «Sieg» nach einem vierjährigen Schlachten, in dem schätzungsweise zehn Millionen Männer umkamen, nicht zu reden von den tödlichen Folgen der Blockadepolitik und der Grippewelle, die vielfach auf eine ausgehungerte Zivilbevölkerung traf?
In Grossbritannien ist ein Etat von 50 Millionen Pfund für die Gedenkfeierlichkeiten ab 2014 beschlossen, doch dort streitet man schon jetzt um das, was genau das Grosse Erinnern denn nun vermitteln soll. Trauern um des Trauerns willen? Erinnerung um der Erinnerung willen? Was bei den Deutschen so auffällig fehlt, ist bei den Briten im Überfluss vorhanden, wo es in den letzten Jahrzehnten eine Flut von Literatur zum «Krieg des kleinen Mannes» gegeben hat. Während viele Deutsche ihre Vorfahren offenbar allesamt für irgendwie schuldig halten, sehen die Briten in ihren Gefallenen nur Opfer, und nicht Männer, die doch ebenfalls getötet haben, wie die Historikerin Joanna Bourke moniert, die fürchtet, dass Erinnerung auch verklären, verkleistern und Rachegefühle nähren kann.
Kurz: es geht um die Lehren aus dem Grossen Krieg, und die sind, sofern man es nicht beim mahnenden «Nie wieder Krieg!» belässt, nicht eben leicht zu ziehen. Kritiker unter den britischen Historikern bestreiten, dass es sich um einen «gerechten Krieg» gehandelt habe – und konstatieren, dass von einem «Sieg» wohl kaum gesprochen werden könne. Tatsächlich hat der Erste Weltkrieg nicht ein einziges Problem gelöst, dafür viele neue geschaffen. Er gebar die bolschewistische Revolution und den Stalinismus. Die Verträge von Versailles schufen keinen Frieden, sondern neuen Sprengstoff, etwa zwischen Polen und Deutschland. Sie ebneten Hitler den Weg, der die Welt glauben machte, in den Schützengräben hätten «Volk und Führer» zusammengefunden, eine Propagandalüge, die Thomas Webers «Hitlers Erster Krieg» abschliessend widerlegt hat. Ebenso wenig befriedete die Nachkriegsordnung den Balkan oder den Nahen Osten. Schon 1994 machten die Kriege im auseinandergebrochenen Jugoslawien klar, dass die Transformationsprozesse auf dem Balkan hinter dem Eisernen Vorhang nur ruhiggestellt, aber nicht abgeschlossen waren.
Paradigmenwechsel
Tatsächlich war das Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo am 28. Juni 1914 mehr als ein blosser Anlass eines aus anderen Gründen überfälligen Konflikts. Es war die (nur zufällig geglückte) Tat der «Schwarzen Hand», einer von Serbien unterstützten Terroristentruppe. Österreich hatte jedes Recht, Serbien dafür zur Verantwortung zu ziehen. Erst im Laufe der Julikrise weitete sich der lokale Konflikt im Chaos von Bündnisverpflichtungen und diplomatischen Fehleinschätzungen aus und wurde, zuerst durch die russische Mobilmachung und zuletzt durch den Kriegseintritt Grossbritanniens, global. Seine Ausweitung war, so argumentieren auch Historiker wie Sean McMeekin, Niall Ferguson oder Andreas Rose, alles andere als notwendig, zwingend oder konsequent. Und die Rolle des Schurken mit dem rauchenden Colt in der Hand bleibt unbesetzt, es sei denn, man möchte unbedingt Frankreich und Russland an die Stelle des Deutschen Kaiserreichs setzen.
Man darf das sicher einen Paradigmenwechsel nennen. Christopher Clarks «Die Schlafwandler» und Herfried Münklers Werk «Der Grosse Krieg» sind dazu die Bücher der Stunde. Zwei literarische Ereignisse, die zeigen, was Geschichtsschreibung vermag, die sich der moralischen Wertung und ideologischen Verzerrung enthält und die so weit wie irgend möglich auf jenen «Rückschaufehler» verzichtet, mit dem vergangene Ereignisse vom Wissen um ihr «Ergebnis» her beurteilt werden. Der historische Kanon muss neu aufgelegt werden.
Die Führungselite von Grossbritannien und Russland, Frankreich und Österreich-Ungarn, Serbien und Deutschland: sie alle haben ihren Anteil an der grossen Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Die Deutschen, nicht nur, aber auch, weil sie dumm genug waren, Österreich-Ungarn eine Blankovollmacht zu erteilen; die Franzosen, die der russischen Führung versprachen, im Falle eines österreichischen Angriffs auf Serbien den Bündnisfall zu erklären; die Russen, die als erste mobilmachten, und die britischen Politiker, die neben ihrer Bündnisverpflichtung gegenüber Frankreich und Russland keinen Grund hatten, sich einzumischen – ausser, dass sie Russland mehr fürchteten als Deutschland. War es wirklich das Leid Belgiens, das der britischen Regierung ein Eingreifen gebot? Oder diente die deutsche Verletzung der belgischen Souveränität, jene unbestreitbaren «Greuel» beim Durchmarsch durch Belgien, als Vorwand? Erst mit der britischen Intervention wurde der Konflikt global. Wussten sie, was sie taten?
Der Grosse Krieg war, wie Niall Ferguson schon vor Jahren schrieb, ein «falscher Krieg». Fergusons provozierende These: Hätte man das Deutsche Reich 1914 nicht bekämpft, sondern an den Tisch der Grossmächte gelassen, hätte man ganz ohne Millionen von Toten erreicht, was heute der Fall ist: Deutschland ist als stärkster (ökonomischer) Faktor die Zugmaschine Europas.
Tatsächlich deutet einiges darauf hin, dass man in Grossbritannien langsam vom nationalen Mythos Abschied nimmt, dass man im Deutschen Reich das Böse bekämpft habe und in diesem grauenvollen Gemetzel die Guten gewesen sei. Eine nationale Legende, die über den Verlust der Weltmacht an Amerika hinweggetröstet hat: Bei Kriegsende war Grossbritannien nicht mehr Gläubiger, sondern Schuldner der USA, des einzigen Beteiligten, der vom europäischen Krieg profitiert hat. Deutschland, sonst gewohnheitsmässig Objekt britischer Häme, ist im Land des Hun-Bashing heute so beliebt wie nie zuvor. Nur die Deutschen trennen sich ungern von der Rolle des schuldigen Schurken.
Warum? Weil Rechtsausleger nun frohlocken könnten, die «Kriegsschuldlüge» sei endlich widerlegt? Lasst sie doch. Dass es keinen gibt, den man als einzig Schuldigen am Tod von Millionen herausgreifen kann, macht die Sache ja nicht besser, ganz im Gegenteil. Der wahre Skandal ist die Erkenntnis, dass das grosse Schlachten vermeidbar gewesen wäre, dass es ganz und gar sinnlos gewesen sein könnte, dieses Ausharren und Sterben der Männer in den Schützengräben und der Menschen an der «Heimatfront». Und dass es beim besten Willen nicht gelingt, dem gigantischen Blutbad im Nachhinein auch nur ein Fünkchen Sinn zu implantieren. Der Krieg, der alle Kriege beenden sollte, endete in einem Frieden, der allen Frieden zunichtemachte. Es gibt keine Sinngebung des Sinnlosen.
Die Europäer haben nicht nur eine traumatische Erfahrung gemeinsam, wie man heute vielleicht deutlicher erkennt als je zuvor. Sie haben auch allesamt einen Trost verloren: dass es, hier wenigstens, Schwarz und Weiss gibt im Krieg, Täter und Opfer, Schuldige und weisse Ritter, Schurken und Helden. Nur, solange man an das Böse glauben kann, ist auch das Gute denkbar. Das mag einer der Gründe sein, warum man in Deutschland die Bürde des Schurken nicht erleichtert abwirft. Und könnte eine Paradoxie erklären: Wer an eine Inkarnation des Bösen glaubt, erwartet vom «Guten» oft mehr, als menschenmöglich ist.
Doch hat der deutsche Schurke nicht wenigstens den Nachbarn ein gutes Gefühl gegeben: den Franzosen moralische Überlegenheit trotz Niederlage, den Briten den Trost, ihr Weltreich für die richtige Sache riskiert zu haben? Gewiss. Zyniker verweisen überdies darauf, dass nur ein Schuldspruch den Siegern erlaubte, die enormen Kosten des Krieges auf den Besiegten abzuwälzen. Die Reparationszahlungen sind seit dem 3. Oktober 2010 abgeleistet.

Moralische Sinngebung
Der Abschied von Gut und Böse führt ins Reich der Schatten und in die kalte Welt der Realpolitik, in der Interessen zählen, ohne dass Moral sie veredelt. Und das ist gut so. Denn der Erste Weltkrieg hat weiteres Unheil in die Welt gesetzt: die moralische Aufladung, aus der Notwendigkeit gezeugt, dem Sinnlosen einen Sinn zu verleihen. Ging es wirklich, wie der britische Premier Asquith 1916 postulierte, um einen edlen Kreuzzug gegen «Barbarei» und «ungezähmte Machtgier»? Dass Grossbritannien wegen «Little Belgium» das Risiko der Globalisierung des Konflikts eingegangen ist, dass es moralisch dazu gezwungen gewesen sei, dass es eingreifen musste, ist natürlich eine entschieden sympathischere Deutung als die kühle Schilderung Christopher Clarks: Belgien sei das einzige Argument gewesen, dass die Regierung Grey noch hatte, um den Krieg vor der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen. Denn auch in den britischen und französischen Kriegsplänen war das neutrale Belgien als Durchmarschgebiet vorgesehen. Und die USA, die erst recht keinen Grund hatten, sich in die kontinentalen Querelen einzumischen? Woodrow Wilson wählte die hochtrabende Begründung, dies sei nicht weniger als «ein Krieg, um alle Kriege zu beenden».
Man bemühte höchste Ziele, weil naheliegende nicht zu haben waren. Dabei weiss jeder verstandesbegabte Befehlshaber, dass ein Sieg von überlegenen Kräften und dem Glück abhängt, und nicht vom moralischen Zuschnitt des Siegers.
Tatsächlich setzte der Erste Weltkrieg vor allem in Grossbritannien eine Propagandamaschinerie in Gang, die das Sinnlose mit den gröbsten Mitteln moralisch zu veredeln suchte. Es ist halt das Problem von Demokratie, dass man Kriegshandlungen nicht einfach anordnen kann, man muss das Volk überzeugen – was meistens heisst: es manipulieren. Wie immer man die Appeasement-Politik Chamberlains gegenüber Hitler beurteilen mag (und auch hier gibt es nicht nur schwarz und weiss): britischen Politikern war später sehr wohl bewusst, dass die britische Propaganda gegen das Kaiserreich sämtlichen Gepflogenheiten widersprach, die in den europäischen Staatenkriegen bis dato galten, wozu Respekt vor dem Gegner gehörte. Frontsoldaten hat der Jingoismus an der Heimatfront denn auch zutiefst abgestossen. Nicht zufällig gab es zu Weihnachten zwischen Deutschen und Briten Versöhnung über die Schützengräben hinweg.
Was zu lernen wäre
Welche Lehren soll man also ziehen? «Nie wieder Krieg»? Das ist ein frommer, aber kindlicher Wunsch. Militärische Gewalt ist ja nicht immer sinnlos. Und berechtigte Interessen oder die nationale Souveränität muss man auch verteidigen können.
Mehr Europa? Auch das ist ein frommer Wunsch, wenn man ihn an der Realität misst. Nicht in erster Linie die EU oder die deutsch-französische Freundschaft haben dem Kontinent Jahrzehnte des Friedens geschenkt, sondern der Kalte Krieg. Mit dem Ende der bipolaren Welt 1991 ist Krieg wieder begrenzbar und damit möglich geworden. Die krisenhafte Neuformierung Ex-Jugoslawiens ist einstweilen beendet, die Brandherde im Nahen Osten aber sind noch lange nicht gelöscht.
Und was den Euro betrifft: ganz offenbar hat er Europa nicht vereint, sondern die unterschiedlichen Interessen, die seine Nationen vertreten, schmerzhaft deutlich gemacht. Deutschland zur Kasse bitten mit dem Argument, dass das Land nach zwei verschuldeten Weltkriegen mit seiner Euro-Politik die dritte Katastrophe verursache, ist keine überzeugende Basis für ein einiges Europa. Dass das Argument überhaupt eine Rolle spielt, zeigt, dass das neue Deutschland in einer Hinsicht das alte ist: wieder wirkt es isoliert, unsicher, in welche Richtung es schwanken soll, unwillig, eine Rolle zu übernehmen, die es nicht ein einziges Mal gemeistert hat, nämlich wenn nicht Weltmacht, so doch zumindest Führungsmacht zu sein. Es ist heute das, was Churchill ihm einst an den Hals wünschte: «fat and impotent».
Wir müssen, gerade jetzt, in seiner schwersten Krise seit 1945, Europa neu denken. Der Kontinent hat sich vereint die Wunde geschlagen, von der er sich bis heute nicht erholt hat. Hitlers unvorstellbare Verbrechen haben den Blick darauf verstellt.
Kann man die Wunde heilen? Die erneute Isolation Deutschlands als des ewigen Schurken ist fatal. Wenn der Euro als „Fortsetzung von Versailles mit anderen Mitteln“ betrachtet wird, muss er scheitern. Das starke Deutschland braucht starke Bündnispartner. Ein Tipp: man kann ihnen womöglich am 1. Juli an der Somme begegnen.


Samstag, 7. Dezember 2013

Alles Alice oder was?

Dass der deutsche Feminismus wie Alice Schwarzer aussieht, ist ihm nicht bekommen.

Zur Fußballweltmeisterschaft 2006 wurden in Deutschland 40 000 zugereiste Prostituierte erwartet. Wer damals schon wusste, dass es sich nur um 40 000 Zwangsprostituierte handeln konnte, war Alice Schwarzer. Sie hat seither dazugelernt. Heute weiß sie es besser: nicht alle, nur 95 % der Prostituierten täten ihren Job ungern, verkündete sie jüngst. Denen (und den restlichen 5 % gleich mit) soll ihr ungeliebtes Geschick zukünftig erspart werden. Die neueste Kampagne von Alice Schwarzer zielt auf die Abschaffung des ältesten Gewerbes der Welt.
Woher die „Ikone der Frauenbewegung“ ihre Zahlen hat? Das bleibt das Geheimnis Schwarzerscher Wahrheitsfindung und ist im Grunde auch wurscht. Denn es geht ihr nicht um den widerwärtigen Menschenhandel, in dem es eindeutig Opfer gibt, die beschützt, und Täter, die bestraft werden müssen. Es geht ihr ums sorgsam gepflegte Weltbild, wonach Männer Schweine und Frauen Opfer sind.
Dagegen gibt es nun einen Aufschrei besonderer Art: die im „Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen“ organisierten Frauen protestieren gegen ihre Vereinnahmung durch die Berufsfeministin Schwarzer. Sie halten deren Kampagne für einen Akt der Bevormundung. „Man kann Menschen nicht gegen ihren Willen helfen“, sagt Verbandssprecherin Undine de Rivière. Denn die Professionellen sehen sich nicht als Opfer. Männer, die sexuelle Dienstleistungen bezahlen (müssen), üben im Regelfall keine Macht aus. Es mag sein, dass manche von ihnen Schweine sind – arme Schweine, etwa, wie jene Kunden, „ die einmal zahlen, zehn Mal wollen und dann zwei Mal können“ (de Riviére über Flatrate-Freier). Aber eine freie Vereinbarung zweier Erwachsener über eine Dienstleistung ist keine Unterdrückung der Frau – es sei denn, man vertritt die Auffassung, Frauen seien mit ihrem Körper und ihrem Sex identisch. In paternalistischen Kulturen wird das so gesehen, weshalb man Frauen in den Ganzkörperschleier zwingt. Manch einer scheint das auch hierzulande für eine gute Idee zu halten.
Die neue Kampagne ist, was Schwarzers Kampagnen immer waren: Selbstinszenierung. Dass sie eine Ikone der Frauenbewegung sei, beruht auf einem Missverständnis. Eigentlich ist sie der beste Freund der Männer. Denen hat das Weltbild der Oberfeministin zunächst einen unschätzbaren Dienst getan: Sie dürfen Frauen als arme Hascherl betrachten, als Opfer, die beständig gefördert und beschützt werden müssen. Die überwiegend rein symbolischen Akte der Wiedergutmachung sind ein kleiner Preis für den geübten Frauenfreund, und das gendergerechte Parlieren tut nur einer winzigen Minderheit weh, die unter der Sprachverhunzung im öffentlichen Raum leidet.
In diesem Frauenbild ist kein Platz für Partnerinnen. Für Konkurrentinnen, die zu respektieren sind. Oder für Gegnerinnen, die man fürchten sollte. Denn fürchterlich kann Frau sein, wenn sie sich den Opferbonus zunutzemacht und den Spieß umdreht. Wer einen Mann des Sexismus oder der Vergewaltigung beschuldigt, ist mittlerweile in einer unschlagbaren Machtposition: so kann man Existenzen ruinieren.
Schwarzers Feminismus, demzufolge alle Männer potentielle Vergewaltiger sind, ist männerverachtend, gewiss. Aber sie hat, wie ihre Biografin Bascha Mika sagt, „vor allem ein Problem auf der Welt: Frauen. In nahezu allen Konflikten und Krächen, die sie ausgefochten hat, standen Frauen auf der Gegenseite. Mit Männern hat sie sich kaum je persönlich angelegt.“
In der Tat. Mit Frauen, die ihr die Gefolgschaft verweigern, geht sie gnadenlos ins Gericht. Das sind „"Wellness-Feministinnen“, die sich nur „für Karriere und Männer“ interessierten. Andere wiederum sind, wenn sie ihr kritisch kommen, Erfüllungsgehilfinnen, die „den Jungs nach dem Maul reden“ und ihre eigene „Vernuttung“ betreiben. Dass Frauen sich gegen solcherlei Anmaßungen der selbsternannten „Ikone“ selten wehren, liegt nicht nur an mangelndem Mut, sondern auch an fehlendem Masochismus: Schwarzers Gegenangriffe pflegen stets sexistisch zu sein und immer unter die Gürtellinie zu zielen. Wer ihr widerspricht, behauptet sie, handelt denunziatorisch und ist eine von Männern bestellte und bezahlte Agentin des Bösen.
Dass auch Alice Schwarzer von Männern bezahlt wird, ist hingegen kein Problem, steht sie doch so zweifelsfrei fürs Gute. Ihre komfortable Existenz im Kölner Bayenturm, wo sie über die Linie der „Emma“ und über ein „Frauenarchiv“ wacht, das jährlich weniger als 300 Besucher anzieht, verdankt sie Männern, darunter dem Mäzen Jan-Philipp Reemtsma, der sie mit Millionenbeträgen förderte. Auch so einer, der die Frauenbewegung mit Alice Schwarzer verwechselt hat. Erst eine Frau, Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, hatte den Mut, den Landeszuschuss für ein Privatprojekt von recht geringem öffentlichen Interesse radikal zu kürzen. Dass ausgerechnet Kristina Schröder, die Familienministerin, dann mit Bundesgeldern aushalf, ist ein Sonderfall von weiblichem Masochismus. Schröder wurde von Alice Schwarzer einst in einem offenen Brief als „hoffnungslose(r) Fall. Schlicht ungeeignet“ attackiert. Sie eigne sich höchstens als „Pressesprecherin der neuen, alten, so medienwirksam agierenden, rechtskonservativen Männerbünde und ihrer Sympathisanten.“
Doch ausgerechnet die haben längst ihren Frieden mit Alice Schwarzer gemacht. Eine Krawallschachtel, die ihre Geschlechtsgenossinnen kleinhält, ist entschieden einfacher zu handhaben als erwachsene Frauen, die keine Opfer sein wollen. Und das beantwortet schon die Frage, warum Alice Schwarzer „größer (ist) als der Feminismus in Deutschland“. Dies überaus zweischneidige Kompliment von Harald Schmidt sagt vor allem eins: dass es der „Ikone des Feminismus“ gelungen ist, die Frauenbewegung klein zu halten.
Dass ausgerechnet die „"Dienstleisterinnen“ des horizontalen Gewerbes den Opferbonus ablehnen, der ihnen angeboten wird, ist wahre Größe. Andere fühlen sich schon bei täppischen Männersprüchen als Opfer von Sexismus. Was lernen wir daraus? In Deutschland ist Feminismus zu einer weiblichen Problemzone geworden, die mit symbolischen Sprechakten glattgebügelt werden soll. Mit der Wirklichkeit hat das alles nichts zu tun. Höchstens mit Alice Schwarzer.



Wir Untertanen.

  Reden wir mal nicht über das Versagen der Bundes- und Landesregierungen, einzelner Minister, der Frau Kanzler. Dazu ist im Grunde alles ge...