Samstag, 1. März 2014

Nebelwerfer 1

Der Mensch steht im Mittelpunkt und darf damit als größtes Hindernis für klare Sicht betrachtet werden. Er ist nicht nur in aller Munde, jedenfalls der Politiker, er verursacht auch Gedrängel, weil seine Vertreter ihn unermüdlich abholen und in den Arm nehmen wollen. Wo vom Menschen die Rede ist, gebe man acht: seine Anrufung vernebelt alles, was Sache ist. Das ist natürlich Absicht. „Mensch“ erzeugt so ein schönes, warmes Gefühl, beginnt mit „M“ wie Mama und endet mit einem besänftigenden „Schschsch...“, mit dem man Kleinkinder zu beruhigen versucht. Mensch ist Nähe. Beim Kuscheln braucht es keinen Weitblick.
Dem Menschenbild vieler Volksvertreter zufolge ist der Mensch ein unreifes und hilfsbedürftiges Wesen, um das man sich unermüdlich kümmern muss. Daraus ist eine ganze Kümmerindustrie geworden, die auf höchstem Niveau professionelle Wärme verbreitet. Wer diese soziale Errungenschaft nicht hoch und heilig hält, verbreitet soziale Kälte. Und das ist, na klar, unmenschlich.
Unmenschlich – das ist so einer wie Thilo Sarrazin. Der sei gefühlskalt, hieß es in der Debatte über sein Buch „Deutschland schafft sich ab“, weil er „den Menschen“ auf Zahlen und Statistiken reduziere. Politiker brauchen keine Analysen, hielt ihm eine Politikerin entgegen. Denn sie kenne „meine Menschen“.
Und so löst sich die Wirklichkeit auf in ein menschliche Wärme erzeugendes Gekuschel und Gewimmel, in dem niemand mehr den Überblick hat, weil keiner den Kopf über die Menge zu erheben wagt. Das Menscheln ist der stärkste Nebelwerfer, über den die öffentliche Sprache verfügt, vor allem, wenn es sich auf höhere Moral beruft.
Als unmenschlich gilt, wer da nicht mitfühlen will. Doch was wäre das Unmenschliche am Menschen? Noch die größte Schandtat ist menschengemacht. Dem Menschlichen ist nichts Unmenschliches fremd.
Und deshalb bleibt der wahre Menschenfreund kühl und sachlich. Auf den Verstand kann man sich meist besser verlassen als auf das Gefühl.

"Nebelwerfer" heißt meine regelmäßige Kolumne im "Schweizer Monat", die erste erschien im Märzheft 2014.
Der Schweizer Monat ist eine ehrwürdige und zugleich überaus frische Angelegenheit - "freiheitlich, sachlich, mit Lust an der Debatte". Hier gibt es das "intellektuelle Knistern", das man in Deutschland nur noch selten findet.

1 Kommentar:

  1. Hallo Frau Stephan,
    Warum so einen Widerspruch in der Debatte zwischen Gefühl und Verstand? Die schlimmsten Untaten sind aus und mit logischen Erwägungen erdacht und begangen worden! Nebelwerfer sind doch diejenigen, die bewusst andere mit vermeintlich logischen aber in Wahrheit ablenkenden, verwirrenden und damit vernebelnden Argumenten überfallen. Dass sie dabei auch an das Gefühl appellieren, soll ja nur die Wirkung erhöhen.

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