Donnerstag, 6. Oktober 2011

Mama mag kein Risiko

Radio is good for you. Aber ein Übermaß schadet der Gesundheit. Denn Radio schrumpft.
Zum Beispiel Deutschland: während alle Welt behauptet, das Land sei so reich und so mächtig, dass man Angst vor ihm und seinem unbändigen Drang nach Größe haben müsse – ein Titan, der beständig alle Ketten sprengt und dabei „Nein! Nein! Nein!“ ruft, weshalb das Land an- und eingebunden gehöre, also ab ins Laufgeschirr oder in harte Bandagen... Während wir also in den Augen der Welt ganz schön was hermachen, schrumpft Radio den Titanen auf Erdmännchengröße.
Nach vier Stunden sanfter Moderation zwischen Oberhessen und Berlin weiß man, dass alle Welt keine Ahnung von uns hat. Deutschland ist nicht mächtig und nicht Titan und schon gar nicht gefährlich – und Weltmeister auch nur alle Jubeljahre. Wir beißen nicht und wir wollen noch nicht einmal spielen. Schalt dein Radio ein: Deutschland ist Mamaland. Bevölkert von Mamasöhnchen und von Frauen, die möglichst schnell zu Mama mutieren möchten.
Also: Alles tranquilo. Keine Aggro.
Mama ist nichts Böses. Mama passt nur auf. Nach der Erdbebenkatastrophe in Japan, die hierzulande „Atomkatastrophe“ hieß, fragten sich Tausende gehobener Schreibtischinhaber, ob der Verzehr ihres geliebten Sushis zu Mittag noch zuträglich sei. Mama riet ab von rohem Fisch, da man ja nicht wisse, ob der im atomar verseuchten Gewässer von Fukushima schon vorgegart wurde. So wie sie vor Salatgurken aus Spanien warnte, von denen man auch nichts Genaues weiß. Man sollte Mama nicht unterschätzen: sie kann ganze Volkswirtschaften niedermachen, wenn es um ihre Lieben geht. Um deren Sicherheit und die Gesundheit, das wichtigste von allem. Denn Freiheit und Risiko hatten wir. Und was hat es uns und der Welt gebracht? Eben.
Radio macht klein und friedlich. Wer dem Öffentlich-Rechtlichen mit Bildungsauftrag und reger Hörerbeteiligung eine Weile zugehört hat, könnte auf die Idee kommen, seine Landsleute gingen alle mit dem Schnuller ins Bett – nicht ohne sich zuvor vergewissert zu haben, dass der Honig, der ihn schmackhaft macht, nicht durch irgendeine unwissend an gentechnischem Pollen naschende Biene verseucht ist. „Gentechnisch verändert“ rangiert hierzulande direkt hinter „atomar verseucht“ und löst Urängste aus. Schon gewusst? Radio sorgt dafür, dass sowas in Mamaland nicht auf den Tisch kommt.
Oder gar nicht erst ins Haus oder auf die Straße. Die Muttilation erfasst alle Lebensbereiche. Keine Internationale Automobilausstellung ohne die Warnhinweise sanfter Moderatorinnenstimmen, dass PS-starke Autos Umweltzerstörer und Phallussymbole sind und wir es doch bitte lieber nachhaltig und klein hätten. Schlimm genug, dass aufstrebende Länder gentechnisch verändert essen und aufgemotzte Boliden fahren wollen, aber wenigstens an Deutschland soll die Welt nicht mehr zugrundegehen. Schon der Kinder wegen, auch wenn man hierzulande immer weniger davon bekommt.
Und das ist vielleicht auch besser so. Denn für kleine Jungs, die schon im Sandkasten einen Fahrradhelm tragen müssen, ist Mamas schützende Hand eine echte Plage. Übrigens auch für kleine Mädchen, die solche Mamasöhnchen später mal heiraten sollen, und für eine Alternative dankbar wären.
Also schalt dein Radio aus und gib Gas, damit wir endlich wieder in Deutschland und bei der Alternative sind.
Klar doch: man kann gegen Männer vieles einwenden, vor allem, dass sie es so wahnsinnig gerne krachen und stinken und explodieren lassen, wenn sie sich einer Sache mal richtig angenommen haben. Doch genau das spricht eben auch für sie. Ohne ihre Risikofreude wäre Deutschland nie das Land der Tüftler, Erfinder und Ingenieure geworden – ohne sie und all die Frauen, die ihnen für ihre Experimente den Küchentisch freiräumten oder ihre Mitgift plünderten. Wie einst Bertha Benz, die sich für ein gewagtes Menschenexperiment zur Verfügung stellte, indem sie sich auf eine unbekannte Höllenmaschine setzte, über deren Spätfolgen man noch nichts wusste.
Sowas käme heute nicht mehr vor. Spaß, Spiel, Risiko sind in Mamaland verpönt. Dort rechnet man sich frühzeitig die Rente aus, die ja sicher ist, und die man möglichst fit und entspannt antreten will, weshalb man sich nicht zuviel vornehmen sollte im Leben, oder?
Ja, Deutschland schafft sich ab. Da muss man gar nicht an die Geburtenrate denken. Ein Land, in dem „Risiko“ zum Inbegriff des Schreckens geworden ist, verdient nichts anderes.
Doch halt. Ist Deutschland nicht noch immer der Wachstumsmotor Europas? Das Land der Erfinder? Der Ingenieure und Maschinenbauer? Das Reich des Mittelstands, wo handfeste Männer und Frauen dafür sorgen, dass der Schornstein möglichst schadstoffarm raucht?
Die Zahlen sprechen für diesen Befund. Doch die produktive Klasse waltet im Verborgenen. Mamaland jedenfalls nimmt sie nicht zur Kenntnis. Den unsichtbaren Heinzelmännchen scheint das ganz recht zu sein. Sie sind die neue schweigende Mehrheit, dein Mittelstand, das unbekannte Wesen. Sie reden nicht über ihr abenteuerliches Leben voller Chancen und Risiken, mit oder ohne Fukushima-Sushi und Gen-Honig. Sie klagen nicht über mangelnde Aufmerksamkeit. Denn Erfindergeist stinkt und macht Krach, hinterlässt Schmauch- und Bremsspuren und ist nie, niemals ohne Risiko zu haben. Und er ist eher selten der Liebling von Krötenschützern und Frauenbeauftragten.
In Mamaland gibt es nicht nur ein oder zwei Parallelgesellschaften. Politik und Öffentlichkeit blenden die interessantesten gern aus. Weshalb man davon ausgehen kann, dass der Erfindergeist seine Heimat heute in der größten Partei von allen findet: in der der Nichtwähler. Weil er bei fast allen relevanten Debatten in der Öffentlichkeit intonieren müsste, was einst Minderheiten zu behaupten pflegten: ich komme hier wieder einmal nicht vor.
Doch das sollte besser so bleiben. Denn es spricht nicht für den festen Glauben ans eigene Produkt, wenn Möbelhäuser Kunden mit dem Versprechen werben, einen Teil ihres Umsatzes den Armen zu spenden. Entweder haben sie für den Kauf ihrer Waren keine guten Argumente. Oder sie wollen aller Welt beweisen, dass man sich vor deutscher Wertarbeit nicht fürchten muss.
Doch das wüsste alle Welt längst – wenn sie unser Radio einschalten würde. Gut, dass sie es nicht tut.
In: Die Welt, 6. Oktober 2011

Samstag, 1. Oktober 2011

Hüter der Demokratie bestätigt Zweifel am Parlament als Forum der Nation

Der zweite Mann im Staat über die Kritik am Rederecht für Abgeordnete mit von der Mehrheit der Parlamentarierer, nicht der Bevölkerung, abweichender Meinung: „Dass meine Entscheidung, die beiden reden zu lassen, Ärger verursachen würde, war mir durchaus klar. Dass die parlamentarischen Geschäftsführer aller Fraktionen so geschlossen und massiv auf ein exklusives Benennungsrecht der Redner durch die Fraktionen bestanden haben, hat mich dann doch gewundert und nachdenklich gestimmt. Mit Blick auf die Verfassungslage und die Erwartungen der Öffentlichkeit auf einen repräsentativen Parlamentarismus empfinde ich diese Kritik als erstaunlich: Sie bestätigt eher die Zweifel am Parlament als Forum der Nation, statt sie offensiv auszuräumen.“
Mehr über Norbert Lammert hier...

Wir Untertanen.

  Reden wir mal nicht über das Versagen der Bundes- und Landesregierungen, einzelner Minister, der Frau Kanzler. Dazu ist im Grunde alles ge...