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Donnerstag, 6. September 2012
Führungslos
Ist Deutschland auf dem Weg zum Vierten Reich? Oder ist es, im Gegenteil, mit seiner neuen Rolle als europäische Führungsmacht mental überfordert, wie Clemens Wergin kürzlich schrieb, fehlt es ihm an Machtehrgeiz und „Mentalität“?
Es sieht ganz so aus. Es ist nicht „das Ausland“, trotz des einen oder anderen Nazivergleichs, das Angst hat vor Deutschland und einer ihm zuwachsenden Führungsrolle. (Und den Griechen mag man den einen oder anderen unappetitlichen Ausfall verzeihen.) Der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski etwa hält die deutsche Zurückhaltung in Sachen Euro und Europa mittlerweile für weit gefährlicher. Es sind vor allem die Deutschen selbst, die nicht „führen“ wollen, in welchem Kontext auch immer, und sich dabei auf „die Geschichte“ berufen. Zu Recht?
Wer Helmut Schmidt für das größte lebende Orakel hält, mag ihm folgen, wenn er zustimmend Winston Churchill zitiert: „Wir alle wissen, dass die beiden Weltkriege, durch die wir gegangen sind, aus dem eitlen Verlangen des erst vor kurzem (also 1870/71, CS) geeinten Deutschland entsprungen sind, die führende Rolle in der Welt zu spielen.“ Andere mögen sich wundern, dass man sich hierzulande von jemandem sagen lässt, wie die eigene Geschichte zu beurteilen ist, der seine Diagnose gewiss nicht interesselos formuliert hat. Doch ganze Nachkriegsgenerationen hierzulande teilen nun einmal die Vorstellung, die deutsche Geschichte habe sich seit 70/71 oder gar bereits seit Luther (mindestens!) auf das dreckige dutzend Hitlerjahre hinzubewegt, ein Geschichtsdeterminismus, der das Verhängnis der Nazizeit geradezu aus dem Volkscharakter erklärt. Wer will mit dieser Bürde noch „führen“? Gerade deshalb trifft uns der Vorwurf tief, wir maßten uns eine Führungsrolle an.
Doch stimmt die Diagnose überhaupt?
Das Führungsbedürfnis Deutschlands war nach 1870/71 keineswegs so groß, dass es die zerstörerische Wucht zweier Weltkriege gebraucht hätte, um ihm dieses Verlangen endlich auszutreiben. Der schottische Historiker Niall Ferguson machte vor einigen Jahren in seinem so anregenden wie umstrittenen Buch über den Ersten Weltkrieg eine provozierende Rechnung auf: hätten Großbritannien und Frankreich das aufstrebende deutsche Kaiserreich damals ernst genommen und an den Tisch der Mächtigen gebeten (statt sich mit dem reaktionären zaristischen Russland zusammen zu tun), wäre Deutschland ebenfalls das geworden, was es heute ist, die führende Macht auf dem Kontinent – aber es hätte zwei Weltkriege weniger gegeben.
Für Fergusons These spricht einiges. Schon vor dem großen Krieg bemühte sich die englische Propaganda, der Selbstdarstellung der biederen Deutschen weit überlegen, Angst vor „den“ Deutschen zu schüren, die angeblich Kellner und Dienstmädchen ausschickten, um für den Kaiser zu spionieren. Dass die Flottenpolitik Wilhelms II., gewiss eher von Eitelkeit als von Vernunft getrieben, Britannien als Beherrscherin der Weltmeere derart provoziert habe, dass das Deutsche Reich hätte bestraft werden müssen, gehört ebenfalls ins Propagandaarsenal. Auch dass die deutsche Kolonialmacht anmaßender und brutaler gewesen wäre als andere Kolonialmächte (man denke an Belgien), ist Legende. Die Deutschen wollten auch „einen Platz an der Sonne?“ Ein Verbrechen war das nicht.
Als „Hunnen“ und „Barbaren“ erwiesen sich Deutsche erst mit den Nazis und Adolf Hitler, und nun schien die antideutsche Propaganda des Ersten Weltkriegs, für die man sich in England später durchaus geschämt hatte, im Nachhinein gerechtfertigt: Die Deutschen waren so barbarisch, wie man immer schon behauptet hatte.
Es gibt wohl kein anderes Land, dessen Bewohner so bereitwillig (Kollektiv-)Schuld annehmen selbst da, wo sie nicht vorhanden ist. Ein moralisch verkürztes Geschichtsverständnis opfert die gesamte deutsche Geschichte einer zwölfjährigen Diktatur. Mit einem solchen Selbstbewusstsein ist in der Tat keine „Führung“ zu machen.
Mit „Lehren aus der Geschichte“ wird bis heute begründet, warum die Deutschen sich zurückzuhalten haben – auch und mittlerweile gerade da, wo die Zögerlichkeit einer wirtschaftlich und demografisch so starken Macht ihre Kehrseite enthüllt, und die heißt Verantwortungslosigkeit. Bernhard Schlink hat das Problem dabei in seiner Philippika „Die Kultur des Denunziatorischen“ auf den Punkt gebracht: schon in der Schule lerne man hierzulande, das Gestern von der Höhe heutiger Moral aus zu beurteilen – denn „Moralisieren reduziert Komplexität“. Eine ganze Generation von Schülern und Studenten ist mit dem systematischen Rückschaufehler aufgewachsen, Geschichte von ihrem Ende her verstehen zu wollen.
Doch die Geschichte gibt uns keinen Vorwand. In Wirklichkeit ist es ist nicht so sehr ein deutscher Machtanspruch (als angeblicher „Grundzug“ unserer Geschichte), der uns unheimlich sein sollte – sondern das fast vollständige Fehlen strategischen Denkens in der Öffentlichkeit. Wir sind es gewohnt, das deutsch-französische Bündnis als moralisch bedeutsam, als einen Akt der Versöhnung wahrzunehmen, und verstehen den Euro als Preis für den Frieden. Uns kann man mit der Behauptung erpressen, wir schuldeten Solidarität der Vergangenheit wegen. Das alles ist edel gedacht, übersieht aber die Rolle von Machtstrategien und Interessen, die selbstbewusste Nationen um uns herum mit großer Selbstverständlichkeit in Rechnung stellen. Wir finden Interessen noch immer „schmutzig“, in guter alter idealistischer Tradition. Doch über sie ist weit leichter zu verhandeln als über hochgesteckte moralische Standards.
Unsere „Moral“ macht uns nicht zu besseren Menschen, im Gegenteil: meistens zu naiveren, oft sogar zu dümmeren. Moral ist der rosa Schleier vor den Augen, der uns daran hindert, die Welt so zu sehen, wie sie ist: nicht deshalb schlechter, weil dort statt reiner Menschenliebe Kalkül und Interesse walten.
Es gibt nur ein Argument, das gegen deutsche Führung in der Eurokrise spricht – und das ist eben dieser Hang zum Moralisieren. Denn die schuldbewusste Furcht vor den kühlen Fakten erlaubt allen anderen, ihre Interessen hinter moralisch aufgeladenen Formeln wie „Solidarität“ und „Vergangenheit“ zu verstecken. So wird Geschichte zur Magd der Politik.
Lassen wir also die Geschichte. Nach vorne geht der Blick: nur mit einem vernünftigen Selbstbild kann Deutschland eine souveräne Position einnehmen, die verständlich und verständig ist. Europa täte das womöglich gut.
Zuerst in: Welt, 3. 9. 2012
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