Während ich am Schreibtisch sitze und mir „Gedanken zur Zeit“ mache, erfahre ich, dass Baroness Margaret Thatcher gestorben ist, Premierminister von Großbritannien in den Jahren 1979 bis 1990, die große alte Dame des Konservatismus. Aber war sie nicht eigentlich eher eine Liberale? Sie sagte einst: „If I lose liberty, then it takes away the basic reason for living.“ Mit Bundeskanzlerin Angela Merkel könnte man das modern übersetzen als „Ohne Freiheit ist alles andere nichts“, aber ehrlich gesagt: das klingt geradezu geschäftsmäßig kühl angesichts der Emphase der hierzulande zu Unrecht verschrienen „Iron Lady“. Eher war sie die Schwester von Hannah Arendt. „Der Sinn der Politik ist Freiheit“, sagte die.
Freiheit ist der Grundgedanke des Liberalismus. Der aber hat in Deutschland wenig Freunde. Warum bloß? Weil das immer schon so war? Weil es ein deutsches Phänomen ist, dieses Fremdeln mit dem Freiheitsgedanken, das Ludwig Mises 1927 sagen ließ: „Der Hass gegen den Liberalismus ist das Einzige, in dem sich die Deutschen einig sind“? Weil man hierzulande einen „gefühlsbetonten Antikapitalismus“ pflegt, der immer auch ein „unreflektierter Antiliberalismus“ sei, wie der erste deutsche Bundespräsident Theodor Heuss erkannte? Weil man in deutschen Landen das Gemeinwohl stets höher schätzte als den Egoismus, den man dem individuellen Freiheitsstreben unterstellte? Oder weil bei uns Sklavenmentalität herrscht, womit wir bei einer anderen großen Liberalen wären, bei Marie von Ebner-Eschenbach: „Die glücklichen Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit“, sagte die.
Kann sein, dass viele Deutsche der Freiheit und dem Risiko das Rundumsorglospaket des deutschen Ammenstaats vorziehen. Der Sozialstaat als Agentur für Brot und Spiele – und wir die glücklichen Slaven, die ihre Freiheit nicht vermissen, solange da einer ist, der sich „kümmert“. Ein selbstbestimmtes Leben, mit der Freiheit, auch das Falsche zu tun und das Maßlose zu denken? Nicht hier bei uns.
Hat es die Partei, die sich liberal nennt, deshalb so schwer? Oder verdient, umgekehrt, womöglich die liberale Idee eine vehementere Verteidigerin als die FDP?
In ihrer wechselhaften Geschichte waren die Liberalen meist nur das Zünglein an der Waage, der Mitspieler, der nicht seines eigenen Profils wegen geschätzt wurde, sondern weil er für die Regierungsbildung der größeren Parteien wichtig war. Ansonsten profitierte die Partei vom Missfallen der Wähler an den anderen Optionen. Und so ist wohl auch das gute Wahlergebnis der letzten Bundestagswahlen von über 14 Prozent zu erklären. Schon bei der Landtagswahl in Niedersachsen am 20. Januar diesen Jahres konnte sich die FDP nur mit christlicher Nächstenliebe ins Parlament retten, gerade so, was womöglich die Union den Wahlsieg kostete. Bei der Bundestagswahl wird sie auf Großzügigkeit ihres jetzigen Koalitionspartners nicht hoffen können. Der liebäugelt längst mit einer großen Koalition.
Folgt man den Umfragen, dümpelt die FDP auf historischem Tiefstand. Wird sie es im September 2013 noch in den Bundestag schaffen? Wetten werden entgegengenommen. Doch man sollte der FDP nie zu früh das Totenglöckchen läuten. Sie hat schon mehr als einmal auf den letzten Metern Wechsel- und Nichtwähler mobilisiert. Doch diesmal könnte das Spiel anders ausgehen. In diesen Tagen trifft sich in Berlin eine neue Partei, die sich „Alternative für Deutschland“ nennt – ein treffender Name angesichts der Tatsache, dass die Kanzlerin in vitalen, ja in existentiellen Fragen schon lange behauptet, ihr Weg sei alternativlos. Die Alternative könnte der CDU Stimmen wegnehmen, aber vor allem der FDP den Weizen verhageln. Denn sie spricht Themen an, denen ein liberaler Champion fehlt.
Die Behauptung, etwas sei „alternativlos“, ist nicht nur vermessen, sie ist auch unverhüllt autoritär. In einer Demokratie ist alles verhandelbar. Überdies gibt es viele gute sachliche Gründe, zu bezweifeln, dass es bei der Euro- und Staatsschuldenkrise oder gar bei der sogenannten Energiewende eine einzige richtige Strategie gibt. Diese Gründe aber werden im Bundestag nicht mehr verhandelt. Kurz: es gibt in existentiellen Fragen keine Opposition mehr im Parlament. Wer hier eine „Alternative“ darstellt, dürfte auf Zustimmung stoßen - dafür spricht auch, dass die neue Partei in den gerade zwei Monaten ihres Bestehens schon mehr als 7000 Mitglieder angezogen hat. Denn nicht wenige Bürger hegen mittlerweile den Verdacht, dass sie in wesentlichen Angelegenheiten ihres Landes nicht mit der Wahrheit bedient werden. Ach was: sie fühlen sich belogen.
Tatsächlich wird in Sachen Euro mittlerweile qua Notstand regiert. Seit über zehn Jahren ist die Geschichte der Gemeinschaftswährung eine Geschichte von Rechtsbrüchen. Das beginnt 2003, als erst Deutschland und dann Frankreich gegen die Haushaltsregeln des Maastricht-Vertrags verstoßen. Das setzt sich fort mit der regelwidrigen Griechenland-Rettung und kulminiert am 10. Mai 2010, als die Europäische Zentralbank griechische Staatsanleihen kauft. Zum Demokratiedefizit in der EU gesellt sich permanenter Regelbruch, was weit schlimmer ist.
Jeden liberal Denkenden muss das alarmieren. Ganz offenbar wird derzeit nicht Europa gerettet, denn noch nie in der Nachkriegszeit waren europäische Nachbarn so zerstritten wie heute. Vielleicht liegt es also gar nicht im Interesse Europas, wenn der Euro, die Banken oder fallierende Staaten gerettet werden. Gewiss aber schadet das der europäischen Idee.
Freiheit heißt, dass man weder von einer Minderheit noch von einer Mehrheit unterdrückt werden kann. Deshalb ist Demokratie nichts ohne das Rule of Law, wie es sich im angelsächsischen Raum entwickelt hat, bzw. ohne Rechtsstaatlichkeit, wie wir sie hierzulande verstehen. Regeln sind Schutz vor Willkür. Demokratie funktioniert nicht ohne verlässliche Institutionen, Verfahrensgerechtigkeit und Rechtssicherheit. Das Grundgesetz oder die amerikanische Verfassung tragen dem Rechnung.
Genau dieses aber, die Bindung der Demokratie ans Recht, lässt den Liberalismus in unserer gefühlsbesessenen Öffentlichkeit als kalt erscheinen, wo man „warme“ Tugenden wie Solidarität und Mitgefühl vorzieht. Dabei hat doch die Gefühlsferne, die Objektivität von Institutionen und Regeln einen unschätzbaren Vorzug vor dem individuellen Mitgefühl: Ihre Distanziertheit pflegt keine Vorlieben. Unserer umarmungsfreudigen Kuschelkultur aber fehlt genau jener Respekt, den zivilisierter Kontakt braucht. Es möchte nicht jeder gleich „in den Arm“ genommen werden, wenn es lediglich um konfliktfreien Umgang miteinander geht.
Welches Thema könnte wichtiger sein für eine liberale Partei als die Kritik am fortwährenden Regelbruch? Ganz ohne Verstoß gegen Regeln und Verträge ging es übrigens auch bei der sogenannten „Energiewende“ nicht ab. Sollte nicht auch das Kernthema sein für eine liberale Partei, die überdies marktwirtschaftlich denkt?
Einst begünstigte der Staat die Atomenergie, heute verzerrt er den Markt, indem er Windräder und Solarpaneele subventioniert, bezahlt nicht nur vom Steuerbürger, sondern von allen Stromkunden, die sich die Photovoltaik auf dem Eigenheimdach nicht leisten können. Die haben längst erkannt, dass der Satz nicht stimmt, wonach die Sonne keine Rechnung schreibt.
Und was ist mit der Steuerpolitik? Es ist schon seltsam: ausgerechnet die FDP hat es nie geschafft, sich vom Verdacht zu befreien, sie vertrete lediglich die Interessen ausgewählter Lobbies, während alle anderen nur das Gemeinwohl im Auge hätten. Dabei sind es gerade die großen Parteien, die sich gegenseitig im Vergeben von Wahlgeschenken überbieten – doch wer viel geben will, muss viel einnehmen. Deshalb immer wieder die geradezu brünftigen Schreie nach Steuererhöhungen. Doch der Staat hat gerade heute, in einer Zeit, in der die Steuereinnahmen nur so sprudeln, kein Einnahmen-, sondern ein Ausgabenproblem. Aber wem fällt das schon noch auf, seit im Neusprech der Politiker „Sparen“ nicht weniger ausgeben, sondern weniger schuldenmachen heißt?
Die wahren Steuersünder sind nicht die mehr oder weniger fehlbaren Steuerzahler, sondern all jene, die mit dem Geld, das sie treuhänderisch entgegennehmen, nicht vernünftig wirtschaften – Politik und Staat, mit anderen Worten. Die meisten Parteipolitiker „glauben an die wohlmeinende Kleptokratie“. Die Regierungen, sagt Peter Sloterdijk, „verpfänden die Luft über ihrem Staatsgebiet, und Banken atmen tief durch. Wenn man es sich recht überlegt, ist das haarsträubend. Das wird möglicherweise europaweit eine Desorientierung von historischen Größenordnungen auslösen.“
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