Montag, 14. Dezember 2020

Zug um Zug. Sucht und Ordnung.

Es ist jetzt fast 30 Jahre her, dass ich die letzte Zigarette meines Lebens geraucht habe. Angefangen habe ich mit 15. Meine Mutter, die damals gerade das Rauchen aufgeben wollte, kam jetzt zu mir, um eine Kippe zu schnorren. Ein ungewohntes Machtgefühl. 

Rauchzeichen auf dem Schulklo. Nach der Schule beim Tchibo. Und während des Studiums mussten Benson & Hedges auf dem Schreibtisch liegen, bevor ich auch nur einen Gedanken denken konnte, die kamen in so einer schönen goldenen Schachtel, das täuschte Stil vor. Später bevorzugte ich Selbstgedrehte, Samson Halfzware, das krümelte zwar, war aber die stärkere Dröhnung (freihändig drehen kann ich noch heute). Die erste morgens im Bett. Die letzte abends im Bett. Davor, danach, zwischendurch. Immer. 

Bis mir zwei übermütige Ärzte den baldigen Tod verhießen und an meinen Überlebenstrieb appellierten. Ihre Diagnose war falsch, aber das wusste ich erst, als ich mit dem Rauchen aufgehört hatte. Und nein, es war nicht, wie schwache Charaktere behaupten, leicht – sie hätten das ja schon mehrmals geschafft! Es war eine Qual und bescherte mir zehn Kilo mehr. Andererseits: der Wein schmeckte besser und man roch nicht mehr so abgestanden, ganz zu schweigen von anderen Vorzügen. Doch wer denkt schon vernünftig, wenn es um Sucht geht?

Auch Matthias Matussek nicht, der brauchte einen Herzinfarkt, um das Rauchen aufzugeben. Das Buch, das er darüber geschrieben hat, ist ein wunderbarer Trip zurück in eine Welt, als Rauchen noch erotisch war, jedenfalls, wenn Lauren Bacall sich von Humphrey Bogart Feuer geben ließ. Oder Steve McQueen und Faye Dunaway. Was fing nicht alles mit einer geteilten Zigarette an! 

Das Buch ist eine Reise in eine längst entschwundene Ära, „in der in den Flugzeugen in den schmalen Seitenlehnen noch schmalere Aschenbecher untergebracht waren“. In Werner Höfers „Internationalem Frühschoppen“ wurde derart gequarzt, dass böswillige Menschen behaupten, man habe nur noch die Stimmen der sechs Journalisten aus fünf Ländern vernommen. (Ich habe später noch im Presseclub mitgequarzt.)

Man könnte nostalgisch werden. In den 70er Jahren war Rauchen irgendwie intellektuell. Oder existenzialistisch, hing ganz von der Marke ab. Rebellen rauchten, die Suffragetten taten es, und selbst Delinquenten erlaubte man einen letzten Zug vor der Hinrichtung. Die Raucher waren überhaupt die Interessanteren, selbst auf Parteitagen der Grünen, wo vor allem die Weiber auf dem Rauchverbotstrip waren (nicht alle, gottlob). Draußen vor der Tür fanden weltentscheidende Intrigen statt, das wollte man doch wissen! Noch heute gehe ich mit den Rauchenden (m/w/d) unter meinen Freunden auf den Balkon oder vor die Tür, um nichts zu versäumen. Und nicht vergessen: Wir verdanken den Rauchern die wärmespendenden Einrichtungen über den Tischen vor den Gasthäusern, auch Nichtraucher saßen da gern, watching the girls and boys go by. Ob es das jemals wieder gibt?

Rauchen ist eine Sucht, aber sicher. Doch Laster gehören „zum Erfahrungsschatz eines Lebens“, und Matussek hat damit einige Erfahrung (wie ja sogar der Hl. Augustinus, also bitte). Wenn es stimmt, dass niemand sich daran erinnern kann, der damals dabei war: Hier kann man all das aus den Tiefen des schwindenden Erinnerungsvermögens hervorkitzeln, was einst zur abenteuerfreudigen Jugend gehörte, jedenfalls bei denen, die nicht im RCDS waren. 

Ob die „Jugend von heute“ wissen will, wie es damals war, weiß ich nicht. Dringend zu empfehlen ist die Lektüre jedoch all den Veteranen, die bei Raucher-Entwöhnungskursen in der Reha in Bad Oeynhausen wie einst MM in den Sesseln liegen und über ihr verrauchtes und verrauschendes Leben nachdenken. Reihum sollte einer aus Matusseks Buch vorlesen, zum Miterleben: Als wir das erste Mal gekifft haben. Oder auf dem LSD-Trip waren. Es mit Heroin und Koks versucht haben, um beides schnell wieder aufzugeben. Oder in einem klapprigen VW-Bus Richtung Indien fuhren. Ich sehe die Damen und Herren lächeln und nicken – ja, so war das. Und eigentlich war es gar nicht so übel. Das Schönste aber: So naiv wie damals waren wir nie wieder. 

So naiv wie Matussek und seine Freunde, auf dem Trip nach Indien. Entweder Revolution oder Erleuchtung: Indien musste damals einfach sein. Die Freunde kamen auf die überzeugende Idee, schwarzen Afghan aus Pakistan nach Indien zu schmuggeln, als Reisefinanzierung. MM hatte sein Piece als orthopädische Einlage im Stiefel versteckt, wo es sich in der Hitze beim Grenzübergang verflüssigte – ein Duft, der niemandem entgehen konnte, dessen Nase tat, was sie soll. In Ketten gelegt, ins Gefängnis gebracht – ein Trip nach innen, dank der Lektüre von Marcuses „Der eindimensionale Mensch“. Vor allem aber dank Opium, was die zwei Monate im indischen Knast offenbar geradezu paradiesisch machte. 

Die Säufer wiederum waren ein anderer Stamm als die Kiffer. „Kiffer war verwöhnter Mittelstand, der Suff war Arbeiterklasse.“ Und wer soff wie Charles Bukowski, war Extraklasse. Der Bericht über den Besuch bei der „alten Drecksau“ (Der Spiegel) aber hat dennoch etwas von einem Trip, ebenso der bei William S. Burroughs, zwei Erfahrungen, um die man Matussek beneiden könnte. Vor allem um das Familientreffen der Gegenkultur zwanzig Jahre nach dem „Summer of love“ der Hippies in San Francisco. Und um die Katzen in Burroughs Häuschen: „Katzen schnüren über die zertretenen Dielenbretter, Katzen schwimmen in großen bunten Kissen auf dem Boden, Katzen sonnen sich auf der Durchreiche zur Küche.“ Der Meister selbst sammelt letzte Worte, etwa die von Billy the Kid. Der trat in ein dunkles Zimmer, sah einen Schatten und rief: „Quièn es“? Pat Garret erkannte die Stimme und erschoss ihn. „Quièn es“ heißt – wer ist da. Es war der Tod. 

Ja, der kommt näher. Da wird sogar einer, der sich noch immer wie ein alberner 14-Jähriger fühlt und manchmal auch so verhält, altersweise, zumal, wenn er mittlerweile ein guter Katholik geworden ist. „Auch Poeten, Priester und Philosophen werden älter – sogar Journalisten. Wie damit umgehen? Empörung bringt nichts – mag der innere Teenager auch noch so zürnen. Vorteil für uns Katholiken: Der Blick auf die Ewigkeit tröstet und ist für mich verbunden mit der Fähigkeit, Danke zu sagen. Oder, in diesem aktuellen Falle: Thank you for not smoking.“

Liebe noch immer Rauchende (m/w/d): Wenn Matthias Matussek den Entzug geschafft hat, schaffen Sie das auch. 

Matthias Matussek, Sucht und Ordnung. Wie ich zum Nichtraucher wurde und andere irre Geschichten, M&M productions 2020, E-Book 9,99, Buch 15 Euro.  

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Dienstag, 17. November 2020

Hilf, Mutti! Der Ruf der Kultuschaffenden

 Aber wir waren doch brav! Haben alles mitgemacht, im Frühjahr, als noch niemand so recht wusste, was da auf uns zurollte. Haben Abstand gehalten und Masken genäht, obwohl die angeblich nichts nutzten. Vielleicht, weil es gerade keine gab, die hatte man nach China geschickt. (Unsere Regierung hilft gern. Am liebsten weltweit.) Gaststätten und Versammlungsorte haben vorbildlich alles umgesetzt, was so empfohlen wurde, auch wenn es den Umsatz halbiert hat. Völlig egal, wie Gäste und Gastgeber das fanden, dass auch draußen im Biergarten die Maske aufgesetzt werden musste, wenn man aufs Klo ging, aber nicht, wenn man am Tisch saß. Wir haben Abstand gehalten, uns zur Begrüßung mit den Ellenbogen geknufft, gelacht und das Spiel gespielt. Better safe than sorry.

Es hatte ja auch alles seine Vorteile. Diese Entschleunigung! Herrlich! Und im Theater oder Kino konnte man endlich bequem sitzen, weil niemand mehr neben einem herumlümmelte – himmlisch! Lerneffekte hatte das Ganze auch. Wir Autoren haben unsere Lesungen aus dem Wohnzimmer gesendet, alle Veranstaltungen mit Menschenkontakt waren ja abgesagt, seither ist digital kein Neuland mehr für uns.

Und im Sommer, hatten wir gedacht, hat unsere Regierung Zeit, sich Gedanken zu machen, wie man mit so einem Virus lebt, ohne gleich das ganze Land vor die Wand zu fahren, das Ding verschwindet ja nicht, ebenso wenig wie das Grippevirus. Sicher hat man daran gedacht, die Risikogruppen in Alten- und Pflegeheimen besser zu schützen und darauf zu achten, dass sich im Krankenhaus niemand mit einem anderen dort grassierenden gefährlichen Keim ansteckt. Haben wir gedacht. Und die Gesundheitsämter hat man gewiss ertüchtigt, falls sie kommt, die viel beschworene zweite Welle! 

Die Wirtshäuser, schon immer Hort des Widerstands. 

Doch nichts dergleichen. Wie schon zu Jahresbeginn war man offenbar auf nichts vorbereitet, obzwar doch immer wieder vor der nächsten Welle gewarnt worden war. Und jetzt – frisch nach der Devise: der Mensch ist das Problem, nicht das Virus – wird plötzlich wieder in den Sack gesteckt und zugebunden, was den Bürger ja bloß unterhalten würde. Kinos, Theater, Oper, Museen, Galerien. Und jene Stätten, wo er sich treffen könnte, um am Stammtisch zur Rebellion aufzurufen: die Wirtshäuser aller Preisklassen, schon immer Hort des Widerstands. 

Und warum? Nicht, weil von diesen Orten des Amusements und der Verbrüderung die stärkste Infektionsgefahr ausginge, ganz und gar nicht. Schließlich wisse man von 75 Prozent der mutmaßlichen Infizierten gar nicht, wo sie sich angesteckt hätten, gibt die Kanzlerin zu. Warum also dann? Weil man es mit den Bravsten der Braven ja machen kann?

Ja, wir waren brav. Und sind es immer noch. Insbesondere meine Branche, die der Autoren. Obwohl der neue Lockdown den ganzen November über uns nun ein weiteres mal tief trifft. Wenn ich allein die Lesungen der Autoren meines Verlages zusammenzähle, die im November ausfallen, dann komme ich auf die beachtliche Zahl von fast siebzig Veranstaltungen. Entsprechend sind die Verdienstausfälle, bei den Großverdienern der Branche kommen da hübsche Summen zustande.

Ach, uns geht es doch noch gold, rufen wir da einander zu! Schaut nach Frankreich! Da sind die Buchhandlungen geschlossen und aus Egalité und Fraternité dürfen nun auch in anderen Einkaufsstätten keine Bücher mehr verkauft werden. Die Franzosen müssen nicht mehr nur von körperlichem Kontakt absehen, das fällt wegen der dortigen Bussikultur besonders schwer, sondern auch geistiger Nahrung entsagen! 

Amazon – der absolute Krisengewinnler

Doch halt. Es gibt auch in Frankreich amazon – der absolute Krisengewinnler, der überlebt alles, was man von vielen kleinen Buchhandlungen nicht sagen kann.

Egal. Wir bleiben brav, schlucken ein wenig, legen die Ohren an und ziehen uns an den Schreibtisch zurück, das ist unser natürliches Habitat, und schreiben an gegen die Feinde von Freiheit und Menschenrecht. Das regelmäßige Lüften nicht vergessen, Kollegen!

Widerstand ist von unsereins nicht zu erwarten. Das überlassen wir lieber den 36 tapferen Bürgermeistern aus Baden-Württemberg, die nicht verstehen wollen, warum ausgerechnet jene dicht machen sollen, von denen fürs Infektionsgeschehen die geringste Gefahr ausgeht. Weil sie am ehesten entbehrlich wären? „Dieser Auffassung treten wir entgegen. Kunst, Kultur und Gastronomie machen das Leben in unseren Städten wesentlich aus. Sie einfach abzuschalten, gefährdet auf Dauer Bürgersinn, Zusammenhalt und Lebensgeist der Stadtgesellschaften. Wir sehen die Gefahr, dass die Maßnahmen“ – „abstrakte Verbote“, heißt es an anderer Stelle – „damit das gefährden, was wir zuallererst brauchen, um die Pandemie durchzustehen.“ „Allein mit Geld kann man Unternehmergeist, Kreativität und Leistungswillen nicht erhalten.“

So kritisch sind unsere Musiker und Humoristen nicht, von Peter Maffay bis Dieter Nuhr, die in ihrem Appell unter anderem an Monika Grütters, Olaf Scholz und Jens Spahn „politischen Dank“ für die Bemühungen des Kulturbetriebs bei der Bekämpfung der Pandemie eingefordert haben. Ist die Veranstaltungsbranche nicht der sechstgrößte Wirtschaftszweig hierzulande, mit 1.7 Millionen Menschen Beschäftigten? Also „systemrelevant“? „Helfen Sie uns! Sonst werden wir in ein paar Monaten kulturell ein ärmeres Land sein“ – mit Geld. Als ob das derzeit nicht wie Kamelle beim Karneval unters Volk geworfen wird, um die nahende wirtschaftliche Katastrophe möglichst lange hinauszuzögern. 

Wenigstens der Musiker Till Brönner beklagt, dass sich die meisten Künstler immer noch viel zu vorsichtig äußerten. In der Tat: Zu vorsichtig, zu untertänig, zu unkritisch. Sie bitten, wenn es hochkommt, um Hilfe, ohne in aller Deutlichkeit zu sagen: Wir tragen das nicht mit, diesen Irrsinn. 

Wir, die Braven. Seit Jahren haben sich die „Kulturschaffenden“ von dem verabschiedet, was einst ihr Markenzeichen war: eben nicht systemrelevant zu sein, sondern der Stachel im Fleische der Herrschenden. Allein, dass sie sich so titulieren lassen, ist schon verräterisch: So wurden sie in der DDR genannt, die Schriftsteller und Musiker, Arbeiter der Stirn, halt, als Hofnarren des Systems vereinnahmt. Und so verhalten sie sich auch jetzt. Um Hilfe wird gebettelt, um Anerkennung gebuhlt, die eigene Wichtigkeit hervorgehoben. Doch kaum einer wagt es, das Vorgehen dieser Regierung infrage zu stellen. Um Himmelswillen! Das nützt doch nur - na wem wohl?

Unsere „Kulturschaffenden“ werden schön stillehalten

Der Regisseur Leander Haußmann sagt’s, in einer herzzerreißenden Ergebenheitsadresse an die Kanzlerin - „lächeln Sie mal!“. Der Lockdown sei richtig, gewiss, aber es bestehe die Gefahr, „dass die rechtspolitischen Parteien als Gewinner aus der Krise hervorgehen“ und „das gemeinsame Lachen (...) der schmallippigen Fratze des Hasses“ weicht. Falls da was ironisch gemeint war: Das ist mir entgangen. 

Wenigstens Juli Zeh schert aus, Bestsellerautorin, Spitzenjuristin und Verfassungsrichterin in Brandenburg. Sie vermutet, dass der „Diskurs an den Lebensrealitäten vorbeigeht“. Und sie fürchtet, dass man nach der Pandemie in wieder ruhigerem Fahrwasser auf die Idee kommen könnte, „bei der nächsten massiven Grippewelle staatliches Eingreifen zu verlangen.“ Als ob der Staat Unsterblichkeit versprechen könne.

Es gibt, so kann man hoffen, noch Richter in diesem Land. Schon beim „Beherbergungsverbot“ haben sie eingegriffen. Unsere „Kulturschaffenden“ aber werden schön stillehalten, selbst jetzt noch, wo es ans Eingemachte geht. Und keinen Gedanken daran verschwenden, wie die Welt aussehen wird, wenn alles am Boden liegt, was Lebensqualität und Freiheit ausgemacht hat. 

Deutschland - eine Kulturnation? Ich fürchte, so wird das nichts mehr.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Tagespost vom 5. November 2020


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Die Spaltung Amerikas

Trump spalte die Gesellschaft, hieß es in deutschen Gazetten über seine Rede am amerikanischen Unabhängigkeitstag, dem 4. Juli 2020, vor dem Nationalmonument Mount Rushmore. Warum? Weil er vor einem „neuen, weit linken Faschismus warnte“? „Unsere Nation wird Zeuge einer erbarmungslosen Kampagne, die darauf abzielt, unsere Geschichte auszulöschen, unsere Helden zu diffamieren, unsere Werte auszulöschen und unsere Kinder zu indoktrinieren“, sagte er in einer patriotischen, ja pathetischen Rede. „Wütende Mobs versuchen, die Statuen unserer Gründer niederzureißen, unsere heiligsten Denkmäler zu verunstalten und eine Welle von Gewaltverbrechen in unseren Städten auszulösen.“

War das nicht die schlichte Wahrheit? Die schlimmsten Ausschreitungen seit Jahrzehnten hatten die USA wochenlang in Atem gehalten: gewalttätige Demonstrationen, Plündereien, Denkmalsstürze unter der Flagge „Black lives matter“ infolge des Todes des Schwarzen George Floyd bei seiner Festnahme durch weiße Polizisten – angeblich das Ergebnis von „systemischem Rassismus“. Der gewalttätige Mob spaltete die Gesellschaft, auch die schwarze Minderheit (13–14 Prozent der amerikanischen Bevölkerung), nicht die Präsidentenrede. Oder hätte Trump darüber schweigen sollen?

Womöglich hätte ihm ausgerechnet Arthur M. Schlesinger jr. beigepflichtet, Demokrat, Kennedy-Berater und Historiker, jedenfalls vor dreißig Jahren, als 1991 die erste Fassung seines Buchs „The Disuniting of America“ erschien, jetzt in der ergänzten Fassung von 1998 von Paul Nellen ins Deutsche übersetzt („Die Spaltung Amerikas“). Das Buch liest sich, als ob es von heute wäre.

Die Vergangenheit zählte nicht

Allein das ist schon deprimierend genug, heißt es doch, dass sich nicht nur etwas wiederholt, sondern dass es sich perpetuiert hat: Apartheid, nicht mehr nur zwischen Weiß und Schwarz, sondern zwischen Männern und Frauen, Hetero- und Homosexuellen und allen anderen, die sich einer besonderen Merkmalsgruppe zugehörig fühlen. Der Schlachtruf, unter dem die jeweiligen sich gekränkt und zurückgesetzt fühlenden Gruppen antreten, heißt Gerechtigkeit, ein kaum zu überbietender Anspruch, und für den scheint jedes Mittel recht.

Dabei war es doch das stolze Prinzip e pluribus unum – aus vielen eines –, das Amerika groß gemacht hat. Wer in die USA auswanderte und dort Aufnahme fand, war ab diesem Moment kein Ire, Deutscher oder Brite mehr, sondern Amerikaner – die Vergangenheit zählte nicht, es galt, den Blick nach vorn zur richten, ja, man sprach sogar von den Amerikanern als neuer Rasse, als neuer Typ Mensch. Tocqueville meinte, hier eine Gesellschaft ohne Wurzeln und Erinnerungen zu erkennen – eine glückliche.

Ob Erinnerungslosigkeit immer eine glückliche Sache ist, sei dahingestellt und auch Schlesinger merkt an, dass die These vom Schmelztiegel ein Euphemismus war. Die Mehrheit der Amerikaner kam zunächst aus Großbritannien, und die Puritaner lehnten deutschen bierseligen Frohsinn ebenso ab wie die als Papisten verschrienen Iren, die wiederum die Schwarzen verachteten. Gemäß Hansens Gesetz (der „Dritte-Generationen-Effekt“) begannen die Enkel wieder, nach ihren Wurzeln zu forschen, ein Drang, der sich mit dem abnehmenden amerikanischen Optimismus spätestens in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts verstärkte.

Das Zeug zu einer „Konterrevolution“

In Europa, von Bevölkerungsaustausch, Flucht und Vertreibung gezeichnet, dürfte man für die Suche nach den „Wurzeln“ mehr Verständnis haben als in den USA, obwohl man auch hierzulande weiß, dass bei dieser Suche oft lediglich hilfreiche nationale Narrative oder alte Mythen zutage treten. Schlesinger aber hielt es mit Gunnar Myrdal, der „intellektuellen Oberklassen-Romantizismus“ diagnostizierte: „Die Begierde nach ‚geschichtlicher Identität‘“, meinte Myrdal, „ist in keiner Hinsicht eine Volksbewegung. Solche Sehnsüchte werden durch wenige, gut etablierte Intellektuelle, Professoren und Autoren geweckt – meist, wie ich vermute, solchen der dritten Generation.“

Auch in ihrer heutigen Form als Identitätspolitik ist der Rekurs auf Gruppenzugehörigkeit ein Geschöpf des Campus. Schlesinger kannte die neuen Moden noch nicht, doch er attestiert dem Ethnokult schon damals das Zeug zu einer „Konterrevolution“ – gegen die ursprüngliche Vorstellung einer gemeinsamen Kultur in einer geeinten Nation. Den Historiker bestürzt dabei vor allem, wie Geschichte als Waffe eingesetzt wird – oder als Therapie für sich unterdrückt fühlende Minderheiten: Jeder gegen jeden und alle gegen den weißen Mann und das europäische Erbe.

Nach den Ausschreitungen infolge des Todes von George Floyd wundert es vielleicht weniger und erschreckt doch umso mehr, dass Schlesingers Analyse zeigt, wie das Unheil ausgerechnet im Zuge der schwarzen Bürgerrechtsbewegung seinen Lauf nahm. Der Kampf gegen die Vorstellung einer Überlegenheit der weißen Rasse war nichts als legitim, das betont Schlesinger, ein Linksliberaler, immer wieder. Umso bedrückender seine Schilderung, wie der Wunsch nach schwarzem Selbstbewusstsein in der Vorstellung von einer schwarzen Überlegenheit mündete.

Der Höhepunkt des schwarzen Ethno-Chauvinismus

Der eine fatale Irrtum: die Suche nach den eigenen Wurzeln in Afrika. In den 1960ern begannen schwarze Amerikaner, sich afrikanische Namen zuzulegen und fanden es hilfreich, die eigenen Kinder mit Riten, Rap und Voodoo zu erziehen. Dabei sind die amerikanischen Schwarzen eben keine Afrikaner – sofern sie sich als homogen empfinden, meint Schlesinger, liege das eher am Plantagenleben zur Zeit der Sklaverei denn an einem gemeinsamen afrikanischen Erbe. Afrika war (und ist) von blutigen Stammesfehden geprägt, die Männer des unterlegenen Stammes wurden von den Siegern in die Sklaverei verkauft. Egon Flaig schätzt, dass nur 360.000 von insgesamt 9,9 Millionen der afrikanischen Sklaven ins britische Nordamerika gingen, von diesen dürften die heute in den USA lebenden Schwarzen abstammen. (Egon Flaig, Weltgeschichte der Sklaverei, S. 196f.)

Der nächste Irrtum: Die Behauptung, dass Emotion „negroid“ sei und dass schwarze Kinder eben anders lernten und anders intelligent seien, weil sie tanzen und singen könnten, vermutet man eher beim Ku-Klux-Clan. Ebenso verquer die These der Ebonics, der höhere Melanin-Spiegel mache Schwarze überlegen, sie seien eben „Sonnenmenschen“. Fatal geradezu der Wunsch nach ethnischen Curricula an Schulen und Universitäten oder der Kampf gegen Standardenglisch oder die Behauptung, akademischer Erfolg sei ein Verrat an der schwarzen Sache und klassische Musik sei imperialistisch. Dass die europäische Kultur (und damit die Weißen) nicht mehr als Vorbild galt, versperrte vielen schwarzen Kindern den sozialen Aufstieg.

Auf dem Höhepunkt des schwarzen Ethno-Chauvinismus wurde gar verkündet, Afrika sei die Geburtsstätte aller Wissenschaft und aller Kultur. „Schwarze Intellektuelle verdammen die westliche Zivilisation und versuchen dennoch leidenschaftlich nachzuweisen, dass sie von ihren eigenen Vorfahren begründet wurde“, kommentiert der Wissenschaftshistoriker Pearce Williams diese Paradoxie.

Weiße Selbstverachtung und schwarzer Hass

Solcherlei mag man als Skurrilitätensammlung abtun, als intellektuelle Spinnereien, ohne großen Einfluss. Doch diese Thesen fielen besonders bei Weißen auf fruchtbaren Boden, es appellierte an ihre Schuldgefühle – und das verbindet die damalige Situation mit der heutigen. Gemeinsam ist den „Aktivisten“ damals wie heute die Verachtung des Westens, der europäischen Geschichte und Tradition. Westliche Bildungsinhalte gelten gar als „systemische Gewalt“. Dabei ist es die christliche Prägung Europas, der wir den Sieg des Individuums über kollektivistische Kulturen verdanken. Gewiss hat der Westen von der Sklaverei profitiert – und sie zugleich im Zuge der ihm inhärenten Selbstkritik abgeschafft, während sie in afrikanischen Ländern noch lange aufrechterhalten wurde. Der Stolz auf die afrikanischen Wurzeln blendet zudem aus, in welchem Ausmaß die Afrikaner selbst Sklavenhandel betrieben.

Man kann, meint Schlesinger, die weiße Schuld auch zu weit treiben – und damit die amerikanische Nation ruinieren. Die weiße Selbstverachtung und der schwarze Hass auf den Westen zerstörten die Grundlagen gesellschaftlicher Freiheit. Die einst universalistische Linke, schließt Schlesinger, betreibe heute Identitätspolitik und votiere für Zensur und Repression, während nunmehr die Rechte bürgerliche Gemeinsamkeiten betone. Die Verfassung aber gelte für Individuen, nicht für Gruppen. „Es entbehrt nicht der Ironie, dass das, was die Multikulturalisten als fröhliches Feiern der Diversität gestartet haben, als grimmiger Kreuzzug für Konformität endet.“ Wer Menschen als „kollektive Merkmalsträger“ behandelt und sie anhand von Abstammungsmerkmalen in Gut und Böse unterteilt, schreibt Sandra Kostner in ihrem Vorwort, betreibt im Kern rechte Politik. Der Antirassismus entpuppt sich als Rassismus.

Verletzte Gefühle sind nicht wichtiger als Verfassungsrechte, betont Schlesinger. Cancel-Culture und De-Platforming, mittlerweile auch hierzulande beliebt, nützt – um ein beliebtes Argument einmal umzudrehen – immer auch dem Gegner, denn der Zensor klingelt stets zweimal.

Eine Erleichterung für alle, die ihren Kopf nicht anstrengen wollen

Ob Schlesinger heute noch so hart argumentieren würde, wie er es hier streckenweise tut? Man kann über das eine oder andere sicher streiten. Doch eines ist gewiss: Wir waren bereits vor 30 Jahren gewarnt. Die Schlussfolgerungen für Europa und Deutschland heute liegen auf der Hand: „Multikulti ist gescheitert“ – Horst Seehofer und Angela Merkel noch 2010 – wenn es nichts Gemeinsames mehr gibt, man nenne es Leitkultur oder nationale Identität. Und noch nicht einmal eine gemeinsame Sprache: Parallelgesellschaften von Menschen mit Hintergrund, womöglich noch mit einer kulturellen Prägung, die Frauen aus der Öffentlichkeit verbannt, da sie nicht mitreden können, machen die Gesellschaft nicht bunt.

Das spaltet ebenso wie der Kult um die „Opferidentität“, hinter dem sich nur schlecht getarnt Machtanspruch verbirgt. Der Hass auf die Verachtung der europäischen „weißen“ Kultur beraubt im übrigen gerade Minderheiten jeder Aufstiegschance, es ist ein Verrat an all denjenigen, die wegen des Versprechens von Freiheit und Aufklärung ins Land gekommen sind. Aber wer weiß: vielleicht hat Schlesinger auch mit seiner schlitzohrigen Andeutung recht, dass der Abschied von der europäischen Kultur eine Erleichterung für alle sein könnte, die ihren Kopf nicht anstrengen wollen.

Arthur M. Schlesinger: „Die Spaltung Amerikas. Überlegungen zu einer multikulturellen Gesellschaft“, aus dem Amerikanischen von Paul Nellen, ibidem Verlag, im Handel, hier bestellbar. 

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Die große Entfernung

 Früher war mehr Lametta, ganz klar. Früher hatten sich Verlage und ihre Autoren lieb, war ein Verlag Heimat und gehörte selbst der Autor mit mäßigen Verkäufen zum Inventar. Oder?

Nein, wir wollen nicht nostalgisch werden. Und doch. Wer an Verlegerpersönlichkeiten wie Siegfried Unseld oder Monika Schoeller denkt, erinnert sich an enge, oft sogar innige Beziehungen zwischen Verlag und Autor. Was nicht heißt, dass die einen den anderen nicht immer mal gehasst haben: Die feinsinnigen, hochgeistigen Autoren ihren schnöde am Kommerz interessierten Verkäufer, der ihnen stets zu wenig Liebe und zu wenig Geld hat zukommen lassen, Beispiele dafür sind legendär. Ob man sich auch politisch gefetzt hat? Das mögen Literaturkenner beurteilen können, mir sind keine Fälle bekannt, ich vermute, meist galt die Unterscheidung zwischen Autor und Werk. Der oder die eine mochte ein bösartiger Wicht mit dubiosen Ansichten sein, aber wenn das Werk ein wahres Werk war, hatte das keine Rolle zu spielen.

Ist das heute anders? Mag sein. Die Schriftstellerin Monika Maron jedenfalls hatte ein enges Verhältnis zu ihrer Verlegerin Monika Schoeller, die, Tochter des Verlegers Georg von Holtzbrinck, lange Jahre über den Fischer-Verlag in Frankfurt am Main geleitet hat. Dort fand Maron tatsächlich eine Heimat im wahrsten Sinne des Wortes: „Er war mein Leben, auf jeden Fall mein Leben als Schriftstellerin“, sagte sie kürzlich über den Verlag in einem Interview in der Welt am Sonntag. „Als Autorin bin ich nun heimatlos.“ Ob das Stefan von Holtzbrinck schmeckt, Bruder von Frau Schoeller und Geschäftsführer der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck?

Maron lebte von 1951 bis 1988 in der DDR. Als dort ihr Debütroman „Flugasche“ nicht erscheinen sollte, eine literarische Auseinandersetzung mit der Umweltverschmutzung in der DDR, sprangen Monika Schöller und der Fischer-Verlag ein. Seither, also seit beinahe 40 Jahren, erschien jeder der sehr erfolgreichen Romane bei Fischer. Nun, exakt ein Jahr nach dem Tod Monika Schoellers, kündigt der Verlag die Zusammenarbeit mit Maron auf. 

„Munin“ und „Artur Lanz“ verkauften sich hervorragend

Das darf er, natürlich. Wir Autoren sind ja keine Festangestellten und können insofern auch nicht klagen, wenn man uns nicht mehr will, man gibt uns einfach keinen neuen Vertrag mehr, was, wenn man vom Schreiben lebt, natürlich an die Existenz geht. Aber so ist das Leben. Bei derart erfolgreichen Autoren wie Monika Maron ist so etwas allerdings eher selten der Fall, zumal sich auch ihre beiden jüngsten Bücher, „Munin“ und „Artur Lanz“ hervorragend verkaufen. Warum also? Weil die Autorin im nächsten Jahr 80 wird und der Verlag nur noch frische junge Ware verkaufen möchte? Weil so filigrane Literatur wie die von Maron nicht mehr en vogue sei?

Der Anlass ist, scheint mir, ein nichtiger: ein Band mit bereits andernorts veröffentlichten Essays erschien in der Reihe „Exil“ in der von den Dresdner Buchhändlern Susanne Dagen und Michael Bormann seit 2002 verantworteten „Edition Buchhaus Loschwitz“. Der Titel „Exil“ ist vielleicht ein wenig zu hoch gegriffen – „dass die Reihe ‚Exil‘ heißt, finde ich auch nicht glücklich, denn keiner der Autoren ist ja im Exil. Gemeint ist damit auch eher ein Rückzug aus dem ideologisch aufgeladenen Gezeter in die Sprache der Literatur“, meint Maron. Sicher durfte sich auch der Fischer-Verlag daran stören, schließlich wurde die Eigentümerfamilie 1936 aus Deutschland herausgedrängt, und im Ausland gründete der Verlagsleiter Gottfried Bermann Fischer mehrere Exilverlage. Mehr aber auch nicht.

Skandalisiert wird vor allem, dass die Bücher der Edition Loschwitz auch – auch! – von „Antaios“ vertrieben werden, dem Verlag von Götz Kubitschek, der zugleich eine Online-Buchhandlung unterhält. Kubitschek wiederum gilt als Exponent der „Neuen Rechten“. Die Verlegerin von Fischer verlautet: „Besonders problematisch ist für uns das Umfeld des Antaios Verlages [...]. Zu dessen Programm gehören zahlreiche Bücher, die völkisch-rassistische Positionen vertreten. Mit völkischen und rassistischen Diskursen will der S. Fischer Verlag nicht assoziiert werden, auch nicht mittelbar. Die Diktatur des Nationalsozialismus hat die Geschichte und Tradition unseres Hauses geprägt.“ 

Auch wenn man Kubitschek dubios findet, kann man ihn wohl kaum daran hindern, Bücher zu vertreiben, egal, von wem. Dort wird sogar ein Buch („Eure Heimat ist unser Albtraum“) vertrieben, das u.a. von Hengameh Yaghoobifarah herausgegeben wurde – das ist die, die Polizisten auf den Müll versetzen will.  

AfD-Wählern Bücher von „linken“ Verlagen verbieten?

Autoren wissen oft gar nicht, über welche Vertriebskanäle ihre Werke an Mann und Frau kommen. Aber ist das nicht vielleicht auch völlig egal? Ist es nicht sogar wünschenswert, dass Kunden von Antaios auch mal etwas anderes zu lesen bekommen als das, was dort womöglich die gängigere Ware ist? Oder soll man nun auch AfD-Wählern verbieten, Bücher zu lesen, die in einem „linken“ Verlag erschienen sind?

Lassen wir einmal außen vor, was man von Götz Kubitschek hält. Dann läuft der Vorwurf auf die derzeit allseits beliebte „Kontaktschuld“ hinaus. Schuldig ist Maron bereits für den Kontakt zu Susanne Dagen. Großartig. Soll man sich also von einer alten Freundin trennen, nur, weil man der in der Öffentlichkeit vorwirft, „rechts“ zu sein, ein Vorwurf, der mittlerweile wie ein abgegriffener Pfennig herumgereicht wird und jeden treffen kann? 

Der Vorwurf trifft paradoxerweise mittlerweile vor allem jene, die sich in einer einst linken Tugend üben: Kritik an den „Mächtigen“ zu üben. Kritik an der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel? Hetze. Ernsthafte Bedenken wegen der Zuwanderung einer islamisch geprägten Kultur von Frauenverachtung, Homophobie, Gewaltverherrlichung? Rassismus. Konsens wird eingefordert, was zu der Wunderlichkeit führt, dass heute Kritik an the powers that be von „rechts“ kommt, nicht mehr vom linken Establishment, das sich gleichwohl stets und ständig im Widerstand fühlt – gegen rechts, mittlerweile ein unendlich weites Feld. Dabei hat es in Deutschland seit Jahrzehnten nie Mut erfordert, gegen rechts zu sein. Das war selbstverständlich. 

Worum also geht es? Ist die Trennung des Fischer-Verlags von Monika Maron Ausdruck der um sich greifenden „cancel culture“?

Es ist schon erstaunlich, dass Autoren Zensur verlangen

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Verlage sind Wirtschaftsunternehmen, warum sollten sie sich also von Autoren trennen, die auch in diesen für das Literaturleben schwierigen Zeiten erfolgreich sind? Weil Buchhändler „rechte“ Literatur nicht auslegen wollen – oder sagen wir besser: Bücher von Autoren, die dieses Etikett verpasst bekommen haben? Oder weil die lieben Mitautoren mit diesem oder jenem Autor nicht in einem Verlag erscheinen wollen?

Es gibt da ein paar Fälle, die dafür sprechen. Akif Pirinçci (nein, schweigen wir hier von verunglückten Auftritten und Formulierungen) wurde von seinem Verlag mit allem Drum und Dran verstoßen, trotz des Erfolgs seiner Felidae-Romane. Für diese Ächtung hatte sich offenbar eine andere Verlagsautorin stark gemacht. Thilo Sarrazins Bücher werden auch von Leuten abgelehnt, die sie gar nicht gelesen haben (Angela Merkel wirkte in dieser Hinsicht vorbildlich). Bereits zwei Verlage haben auf die erheblichen Einnahmen aus seinen auflagenstarken Büchern verzichtet (auch das neue verkauft sich bereits wieder sechsstellig). Es ist schon eine rühmliche Ausnahme, dass der Rowohlt-Verlag seinen empörungsstarken Autoren widerstanden hat, die sich gegen die Veröffentlichung der Autobiografie von Woody Allen gewandt hatten. Seit Jahren wird Woody Allen der Missbrauch seiner Adoptivtochter unterstellt, ein Vorwurf, für den es keine hinreichenden Beweise gibt. 

Es ist schon erstaunlich, dass Autoren Zensur verlangen. Denn eines muss uns allen klar sein: Meinungsfreiheit ist unteilbar. Was Autoren Anderen wünschen, kann auch ihnen passieren. „Der Zensor klingelt immer zweimal.“ (Louis Menand)

Also doch cancel culture? Oder haben wir es schlicht mit einer Veränderung der Verlags“landschaft“ zu tun? Bekenntnisse jugendlicher Quietscheentchen und Dorfkrimis lassen sich offenbar besser verkaufen als die alte, abgestandene, hochgeistige „Literatur“. Internationale Konzerne, wie auch Holtzbrinck einer ist, sind „entortet“, die Verbindung zur jeweiligen nationalen Kultur ist schwächer geworden. Internationale Bestseller stammen in den wenigsten Fällen von deutschen Autoren. Darüber Klage zu führen, ist müßig. So ist die Welt. 

Oder auch nicht. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Im übrigen: Die Produktionsmittel sind dank Self Publishing mittlerweile in des Autors Hand. Man kann als Autor seine Heimat verlieren – aber nicht seine Sprache und seine Leser. 

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Dienstag, 6. Oktober 2020

Brachial die Zügel anziehen!

Man sollte nie eine Krise ungenutzt verstreichen lassen, lautete einst die zynische, aber realistische Empfehlung Winston Churchills, der sich auf diesen Rat auch stets verlassen hat. Die Corona-Krise bietet dazu viele Gelegenheiten - auch zur sprachlichen Entgleisung.

Der bayerische Ministerpräsident möchte "die Zügel anziehen", als ob seine Untertanen störrische Zugtiere wären, die man zur Räson bringen muss. Und die Kanzlerin, die ja bereits vor "Öffnungsdiskussionsorgien" gewarnt hat, soll jetzt bei einer Videokonferenz mit dem CDU-Präsidium gesagt haben, es müsse in den Regionen, die stark betroffen sind, "brachial durchgegriffen" werden. Zu Weihnachten könne es 19.200 Neuinfektionen am Tag geben, wenn sich das Infektionsgeschehen so weiterentwickelt. Sie habe das hochrechnen lassen.

Nun haben sich bislang alle Hochrechnungen in Sachen Covid-19 als wenig verlässlich erwiesen. Doch wollen wir kleinlich sein, wenn es darum geht, Leben zu retten? In der "größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg", wovon nicht nur der Generalsekretär der UN spricht? In höchster Not hilft nur - genau. Brachial sein. Das übersetzt man gemeinhin mit handgreiflich - und mit rücksichtslos.

Nun ist der Umgang mit Corona Ländersache. In die Entscheidungen der Bundesländer hat sich die Kanzlerin nicht einzumischen. Allerdings ist ihr das bereits einmal geglückt - als sie dekretierte, die Wahl eines FDP-Mannes zum Ministerpräsidenten in Thüringen sei ein "unverzeihlicher Vorgang", der "rückgängig" gemacht werden müsse. Das soll jetzt wohl Schule machen. Ganz offenbar hat die Kanzlerin vor, über die Länderzuständigkeit hinweg die Leitlinien der Corona-Politik selbst zu bestimmen.

Doch noch sträuben sich insbesondere die Ministerpräsidenten aus den östlichen Bundesländern wie Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Dort ist die Zahl der an Covid-19 Erkrankten oder Gestorbenen vergleichsweise niedrig und die Zahl der AfD-Wähler hoch, da empfiehlt es sich, die Bürger zu umschmeicheln, statt ihnen brachial die Kandare ins Maul zu schieben. Schließlich gibt es demnächst wieder Wahlen. Im Übrigen möchten sich nicht alle Ministerpräsidenten vom Bund diktieren lassen, wie sie ihre Bürger kontrollieren - und kujonieren.

Schon an den Grenzen der Bundesländer dürfte die Kanzlerin scheitern. Gottlob, denn die Vorschläge der Regierung sind, höflich gesagt, ein wenig abenteuerlich. Das gilt insbesondere für die Forderung, falsche persönliche Angaben in Restaurants in Zukunft mit einem Mindestbußgeld von 50 Euro zu belegen - in Schleswig-Holstein drohen sogar 1000 Euro. Wie soll das gehen? Sollen Gastronomen sich von ihren Gästen demnächst Ausweis oder Führerschein vorlegen lassen? Darauf dürften sich weder die Wirte noch ihre Gäste einlassen. Das, sowie Ausschankverbote von Alkohol, wären der Todesstoß für die eh schon gebeutelte Branche.

Nun, mit den Deutschen kann man‘s ja machen, wird sich mancher denken, und den kurzen Weg zum Wutbürger antreten. Denn falsche Angaben von Asylbewerbern zu ihrer Identität oder Staatsangehörigkeit bleiben auch weiterhin straffrei. Kann es sein, dass unsere Politiker nicht wahrnehmen wollen, dass das durchaus noch vorhandene Vertrauen in die Regierung zu schwinden beginnt?

Nun, das schert offenbar keinen, dem es um höchste Ziele geht, da muss man auch mal Späne machen beim Hobeln. Am deutlichsten zeigte der Grüne Anton Hofreiter während der Haushaltsdebatte, dass er von Churchill gelernt hat: Die Handlungsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft, mit der die Politik der Pandemie begegnet sei, müsse nun genutzt werden, um die Klimakrise zu bewältigen. 

Der Schriftsteller Daniel Kehlmann zieht keine erfreuliche Bilanz: "Ich werde mich in der demokratischen Zivilgesellschaft nie wieder so sicher fühlen wie früher. Denn ich habe ja jetzt gesehen, wie schnell unter dem Druck der Angst wesentliche Freiheitsrechte reduziert werden können. Potenzielle Autokraten wissen jetzt sehr gut, dass eine Epidemie ein sehr effektiver Weg zur Machtergreifung sein kann."

NDR Info, Die Meinung, 4. Oktober 2020

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Samstag, 26. September 2020

Kinder an der Macht. Leider.


„Kinder an die Macht!“, jubelte Herbert Grönemeyer einst. „Gebt den Kinder das Kommando, sie berechnen nicht, was sie tun!“ Ist erledigt. Kindermund tut Wahrheit kund, sie sind die neuen Propheten, vor ihrem „I want you to panic“ erzittern die Mächtigen der Welt. Und sie berechnen in der Tat nicht, sie können ja gar nicht rechnen, Zahlen sind kalt und unmenschlich, das weiß schließlich jedes Kind.

Ist das lustig? Nein. Ja. Aber nur für Erwachsene, die längst schon das Wahlalter nicht herunter-, sondern heraufsetzen würden. Und zwar gehörig.

Es ist verblüffend, wie sehr die Infantilen heute das Bild beherrschen. Das betrifft nicht mehr nur den Habitus – Mutti trägt die gleichen kunstvoll zerlöcherten Jeans wie die Tochter, im Fitnessstudio und in der Kneipe wird geduzt, auch wenn der Altersunterschied zwischen Personal und Kunde mehr als vierzig Jahre beträgt. Es reicht bis in die Politik, wo Gesetze dem Bürger schelmisch als „Gute-Kita-Gesetz“ oder „Starke-Familien-Gesetz“ nahegebracht werden.

„Ministerien duzen die Bürger, Bildungszentralen erklären die Demokratie mit Piktogrammen, Medien machen aus Nachrichten lustige Clips, Laute und Bilder ersetzen Begriffe wie in Vor- und Grundschule. Kommunikation wird zum niedrigschwelligen Angebot für alle Schichten, alle Generationen.“ Ja, das verbindet! Verkindern statt spalten! Schon deshalb sieht man in den Städten des Landes allenthalben Menschen auf putzigen Rollern durch die Stadt sausen. 

Ein loser Bund der Rücksichtslosen

Alexander Kisslers neues Buch ist ein Panoptikum des aktuellen Irrsinns. Doch halt: So neu ist das Phänomen gar nicht, die Kindsvergottung setzt nicht erst ein, seit Kinder ein seltenes und um so kostbareres Gut geworden sind. Schon bei Dickens findet sich jener „morbide Kult des Infantilen“, den Aldous Huxley beklagt. Und was ist mit Peter Pan, erfunden um die Wende zum 20. Jahrhundert, das Vorbild für alle Menschen, die nicht erwachsen werden wollen? Morbide vielleicht, mörderisch auf jeden Fall: ein niedlicher Killer und Ausbeuter. Eine Gesellschaft der Peter Pans wäre asozial, ein loser Bund der Rücksichtslosen.

Der ewig Kind bleibende Peter hat weder Moral noch Gedächtnis und schon gar kein Gespür für die Folgen seines Tuns. „Der kindische Mensch wird schnell zum manipulierten Bürger – oder zum skrupellosen Machthaber.“ Wer sich noch an den eigenen unerbittlichen Willen zur Weltverbesserung dank allumfassender Gerechtigkeit erinnert, die idealistische Jugendliche schon immer gerne pflegten, den dürfte das Sendungsbewusstsein einer Greta Thunberg und das herrische Gebaren der Klimaretter von Fridays for Future eher an Maos Junge Garde gemahnen denn an niedliche kleine Gummibärenwerfer.

Doch Kinder und Jugendliche dürfen das, was erwachsene Menschen sich verbieten sollten. „Von den Kindern solle man lernen, tönt es aus Politikermund. Auf die Kinder möge man hören, fordern Künstler und Wissenschaftler. Das eben ist dann doch eine kindische Zumutung zu strategischen Zwecken. Nicht Kindern ist vorzuwerfen, dass sie wie Kinder reden. Aber Erwachsenen ist vorzuwerfen, wenn sie Aussagen von Kindern nutzen, um ihre eigene erwachsene Agenda gegen Kritik zu immunisieren. (…) Sie schaffen sich durch Kinder auf dem Podest eine Tabuzone, in der die Positionen des Podestebauers nicht kritisiert werden sollen.“ Das ist die Macht hinter der Infantilisierung. 

Das Kindische schlägt die göttlichsten Kapriolen. Man kann Alexander Kisslers Buch mit seinen unzähligen Beispielen lesen, um sich zu gruseln – oder aber, um sich, auch dank seiner spitzen Anmerkungen, zu amüsieren. Etwa über Berti, den lustigen kleinen Kerl, von Beruf Borkenkäfer, seine Aufgabe: den Fichtenwald zu zerlegen, was Waldbesitzer nicht erbaut. Im Harz aber freut man sich auf ihn und hat ihn neben Lena Luchs und Wolle Wolf als Helden einer Aufklärungskampagne erkoren. Natur ist gut, egal, in welcher Form sie auftritt.

Projektionsfläche erwachsener Sehnsüchte

Überhaupt, der Wolf: Der ist vor allem lieb. Auch das Ehepaar Habeck hat ihm schon mehr als ein literarisches Denkmal gesetzt. Der Wolf muss gerettet werden, koste es, was es wolle – Hühner, Kinder, Lämmer. Nun mag man zur „Rückkehr des Wolfes“ stehen, wie man will. Doch was hinter der Wolfsbegeisterung steckt, ist meist eine Vorstellung von Natur, die nicht nur hoffnungslos verkitscht ist, sondern auch gefährlich naiv. Die Natur ist immer gut? Achwas. Die Menschheit hat nur deshalb überlebt, weil sie gehörig Respekt vor ihrer natürlichen Umgebung hatte. 

Kisslers Analyse der Verherrlichung von Greta Thunberg ist erhellend. Ein ihrer Selbstanalyse zufolge autistischer junger Mensch wird zur Projektionsfläche erwachsener Sehnsüchte. Geradezu rauschhaft wird ihr applaudiert, wenn sie sich in ihre Wut hineinsteigert – panisch sollen sie werden, die Erwachsenen, man wird ihnen nicht verzeihen, wird es ihnen nicht durchgehen lassen, die herbeifantasierte Weltzerstörung. Man wird ihnen gehörig was hinten drauf geben! 

Vor soviel Moralfuror kapituliert offenbar der Verstand vieler ihrer Anhänger – ein Reporter ließ sich zu der Frage hinreißen: „Wie kann der Wandel zu einer CO2-freien Welt gelingen?“ Auf die gleiche Weise, wie man eine genfreie Welt erzeugt – durch sofortiges Indieluftsprengen derselben.

Es sind, darauf weist Kissler immer wieder hin, nicht die Kinder, sondern die Erwachsenen, die heute das denunzieren, was das Erwachsensein ausmacht: Vernunft. Rationalität. Und bei allem, was man tut, an die Folgen denken. 

Nicht jeder Zorn ist heilig, fürwahr. Doch das Kindischsein frisst sich durch alle Bereiche. Ausgerechnet an den Universitäten herrschen die „Schneeflocken“, die „Safe spaces“ und Trigger-Warnungen brauchen, damit sie nichts und niemand erschreckt. Lernen war gestern, Wissen ist doof. Leben unter der Kuscheldecke.

Exemplifiziert am Duktus der Frau Kanzler

Die Politik assistiert mit „leichter Sprache“, die jeder, aber auch jeder verstehen soll. Kissler exemplifiziert das am Duktus der Frau Kanzler, die sich gern in den Grenzbereichen der Leichten Sprache tummelt, mit „haben“ und „sein“ und „Dingen“ und „Maßnahmen“. Das muss man gelesen haben: „Im Ist-Glanz leuchten Plattitüden. Die Erde ist ein Planet, die Sinne ein Stern, die Bundesrepublik ein Staat. Dies ist ein Buch. Sie sind die Leserin.“ Das ist Tyrannei im Namen der Toleranz. Betreutes Denken für Menschen, denen man keine eigenen Gedanken zutraut.

Das Feuchtbiotop für die Verkindlichung der Welt ist Berlin – „die Stadt gewordene Kinderüberraschung“, wo nichts funktioniert, aber alles so schön bunt ist. Nicht zu übertreffen? Doch! Von den christlichen Kirchen. Dort beherrscht man die Sprache der Bibel längst nicht mehr, man spricht das Pidgin der Sozialarbeiter und Werbetreibenden. Man hänge eine Schaukel in die Kirchenkuppel, und schon hat man „eine spannende Intervention, die befreiende und seligmachende Erfahrungen und Begegnungen (…) ermöglicht“. Die Losung: „Selig schaukeln, glauben, hoffen und lieben auf eigene Gefahr!“ 

Gefahr ist das Wort der Stunde, Mut muss man haben, Glauben „wagen“, „schauen wagen“ und, ja, „getragen wagen“, wenn im Kirchenschiff Klettergerüste aufgebaut werden. Zur Belohnung gibt es „Kirchenkuscheln im Adventsstress“ oder, in Thüringen, „Gottesdienst zum Kloßsonntag“. Fürchtet euch nicht, ihr Kinder, alles ist im warmen Kloß. Kuscheln wagen.

Wie verzweifelt muss man in unseren Kirchen sein, dass sie nicht mehr mit ihrer ureigenen Botschaft für sich werben können? Allem wohl, keinem weh – EKD. Wer sein Produkt auf diese schäbige Weise meint verkaufen zu müssen, glaubt nicht mehr daran. 

Und dann kam auch noch Corona – und „keineswegs nur in Deutschland wuchs der Verdacht, die Regierenden nutzten die krisenhafte Situation, um ihre Wähler geistig endgültig in die Kita zu schicken“. Selbst das Händewaschen glaubte man – „Freude, schöner Götterfunken!“ – dem kindischen Bürger beibringen zu müssen. Und da er sich ja nicht selbst schützen könne, fuhr die Regierung vorausschauend das öffentliche Leben und die Wirtschaft an die Wand, als eine Art Lockdownkuscheln. Das ist so kindisch, wie es so gar nicht lustig ist. 

Und was ist die Moral von der Geschichte? Erwachsensein wagen. Denn „der erwachsene Mensch vergisst nicht, dass er Kind war, aber er weiß, dass er es gewesen ist. Er kennt seine Gefühle gut genug, um sie nicht allen Menschen zumuten zu müssen. Er ist souverän genug, zu sich selbst auf Abstand zu gehen, und erträgt darum Distanz zu Anderen. Er weiß um die Unendlichkeit der Gefühle und die Endlichkeit des Lebens und sieht deshalb nicht in jeder Grenze eine Kränkung.“

Kisslers neuestes Werk ist ein Buch für alle, die sich manchmal fragen, ob sie die Irren sind oder vielleicht doch die Anderen. Nach der Lektüre fühlt sich der Zweifelnde nicht mehr ganz so einsam. Und es ist ein perfektes Geschenk für jene, die man noch unter der Kuscheldecke hervorlocken könnte. Ganz klar: ein Buch, das Leben retten kann.

Alexander Kissler, Die infantile Gesellschaft. Wege aus der selbstverschuldeten Unreife, HarperCollins, Hamburg 2020

Zuerst auf der Achse des Guten, 22. 9. 2020


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Männer: Runter von der Schleimspur!


„Sobald oft genug behauptet wird, Männer seien gefährlich, unfähig und überflüssig, glauben es irgendwann sogar die Betroffenen selber“, schreibt Holger Fuß. In der Tat. Und genau da, bei den Männern, liegt das Problem. Der verteufelte Mann ist in Wirklichkeit der Komplize einer weiblichen Machtstrategie. Und das hat er bis heute nicht gemerkt.

Denn er hat sich mit seiner aus Feigheit geborenen Anpassung an die aggressivste Variante des Feminismus dort keineswegs beliebter gemacht. Im Gegenteil: Je mehr er sich beugt, desto lustvoller wird nachgetreten. Zwar war er schon in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts als „potenzieller Vergewaltiger“ (Alice Schwarzer) angezählt, aber als rundherum „toxisch“ und als „Abfall“ gilt er erst heute. Es hat also alles nichts genützt: Auch nicht, dass Mann fleißig gendert, damit ja keine Frau auf die Idee kommt, beim Wort „Fußgänger“ oder „Bürgersteig“ komme sie nicht vor. Nichts hat geholfen, keine Bußübung, keine öffentliche Reue, keine großzügige Geste an die Damen, von denen Mann offenbar nicht erwartet hat, dass sie gern die ganze Hand nehmen, wenn man ihnen schon entgegenkommt.

Die „Weiber“ triumphieren

Männer haben ihr Elend selbst heraufbeschworen, über das sie sich heute durchaus beklagen dürfen. Sie haben Frauen unterschätzt, haben einigen zarten, aber lautstarken Wesen abgenommen, dass sie alle Opfer sind, die entschädigt gehören, haben sich gemüht (und sich dabei an ihrer eigenen Großmut besoffen) und nicht gemerkt, dass sie dabei sind, im Kampf um die Macht zu unterliegen. In der Öffentlichkeit sind sie längst unterlegen. Den triumphierenden Weibern ist es gelungen, alles madig zu machen, was einst dem Mann eine gewisse Größe verliehen hat, unterstützt von gewieften Frauenfreunden, die sich anschicken, sogar das Rad feministisch neu zu erfinden.

Körperkraft? Ist nur noch beim Holzhacken gefragt. Erfindergeist? Höchstens, wenn das Ergebnis CO2- und genfrei ist. Realitätssinn? „Kalte Zahlen und Fakten“, deklariert das ewig Weibliche, das es gern warm und menschlich haben will. (Wer das für Polemik hält, sollte sich die entsprechenden Aussagen führender Politikerinnen antun.)

Seit Jahrzehnten, seit der Wiederauferstehung der Frauenbewegung vor 50 Jahren, wird um Frauen gebuhlt – mindestens eine Alibifrau musste es schon damals sein, wenn es um die Besetzung eines Podiums oder einer Talkshow ging. Mittlerweile ist gleich Parität gefragt, also 50 Prozent, auch im Parlament, obzwar Frauen in den Parteien nur zu um die 30 Prozent vertreten sind. Fifty-fifty auch in Aufsichtsräten, offenbar besonders bedeutende Institutionen. In der Politik hat sich der Sexismus mittlerweile umgekehrt: Längst geht es bei der Besetzung von Listen und Posten nicht mehr um Kompetenz und Qualifikation, die, gewiss, auch bei männlichen Politikern durchaus rar ist. Das „richtige“ Geschlecht und andere Merkmale wie Hautfarbe oder Migrationshintergrund sind offenbar die weit wichtigeren Kriterien, wie man am Beispiel von Sawsan Chebli studieren kann, Staatssekretärin in Berlin. Frauenpower, koste es, was es wolle. Ketzerische Frage: Ob es nicht der Bundeswehr besser bekommen wäre, wenn sich die ehemalige Verteidigungsministern Ursula von der Leyen nicht gar so engagiert um das Wohl der winzigen Minderheit schwangerer Soldatinnen gesorgt hätte?

Giffey: „Rückfall in traditionelle Rollenbilder“

Bei allem „Fortschritt“ an der Frauenfront aber gilt das alte Wort von Alice Schwarzer: „Frau sein allein genügt nicht“, nein, es muss schon eine mit den richtigen Überzeugungen sein. Heute ist es längst nicht mehr so, dass Männer Frauen vorschreiben, wie sie zu sein, was sie zu tun und was zu lassen haben. Es sind die in der Öffentlichkeit dominierenden Frauen, die wissen, was Frauen sollen: Nicht etwa, wie während der Coronakrise, wieder mehr an Kinder und Küche denken, denn das sei eine „entsetzliche Retraditionalisierung“ (Jutta Allmendinger, Sozialwissenschaftlerin) beziehungsweise ein „Rückfall in traditionelle Rollenbilder“ (Franziska Giffey, immerhin Familienministerin). Sozialdemokratische Planerfüllung aber fordert Frauen Vollzeit in Führungspositionen, egal, welchen Lebensentwurf diese selbst haben.

Denn seit sie die Freiheit haben, zu tun, was sie wollen, entscheiden sie sich keineswegs massenhaft für das, wovon man glaubte, es sei der Männer gehütetes Privileg. Statt Baggerführer zu werden, machen sie lieber „was mit Menschen“. Sie ziehen Teilzeit einer Doppelbelastung vor, und der vielbeklagte „Gender Pay Gap“ verdankt sich eher ihren eigenen Entscheidungen denn den perfiden Unterdrückungsstrategien der Männer.

Die kleinbürgerliche Ehe als Hort der Subversivität

Frauensolidarität, die oft beschworene, ist eine Illusion. Solidarisch sind feministische Akademikerinnen mit allen, die ihrem Rollenverständnis entsprechen, doch niemals mit den Plätzchen backenden Müttern oder anderen entsetzlichen Traditionalistinnen, die ihren Kindern, weiblich, Zöpfe flechten und Puppen schenken. Wir lernen: Die von Politikern gern gepriesene bunte Vielfalt aller Lebensmodelle gilt nicht für irgendein „traditionelles“ Modell (das im Übrigen noch immer das eher normale ist).

Die wütende Attacke manch öffentlicher Akademikerin auf das „traditionelle“ Modell ist nicht nur nebenbei ein Angriff auf eine ganz andere Solidarität, auf die Solidargemeinschaft nämlich zwischen Mann und Frau. Dabei ist die kleinbürgerliche Ehe mittlerweile geradezu ein Hort der Subversivität, eine Nische des Widerstands gegen einen übergriffigen Nannystaat, der das Leben der Bürger bis in die Lufthoheit über den Kinderbetten bestimmen möchte. Die derzeitige Regierung hat längst erkannt: Der fundamentalistische Feminismus arbeitet einem Gesellschaftsmodell zu, in dem die Arbeitsmonade nur noch Mutter Staat kennt.

Aus allem kann man eine „Opfergeschichte stricken“

Was tun? Männer, ihr habt die Frauen unterschätzt. Sie waren noch nie lediglich „das unterdrückte Geschlecht“, dazu waren sie viel zu wichtig – und viel zu mächtig. Ihretwegen haben sich Männer in der Vergangenheit die Köpfe eingeschlagen – entweder, um sie zu erobern, oder, um sie (und ihre Nachkommen) zu schützen. Auch daraus kann man natürlich, wie es Hillary Clinton vorgemacht hat, eine Opfergeschichte stricken: Unter Kriegen leiden am meisten die Frauen, meinte sie, weil sie dadurch Sohn, Vater oder Mann verlieren könnten. Und daran sind, na klar, die Männer schuld. Auch die toten.

Und, Männer: Auch eure eingebildete Großmut fällt auf euch zurück. Mag sein, dass sich der ein oder andere Mann einst gedacht hat, es sei doch schön, wenn es Frauenlehrstühle gäbe, dann hätte man sich die lästige Konkurrenz mit den Frauen um normale Professuren elegant vom Hals geschafft. Das Ergebnis: Von „Frauenlehrstühlen“, es gibt so um die 100 im deutschsprachigen Raum, geht jener Obskurantismus aus, der mittlerweile die Gesellschaft spaltet. Dort gedeihen die irrsten feministischen Theorien, darunter die These von der „Intersektionalität“, von einer Hierarchie der Opfer, eine Theorie, die eine neue Konkurrenz eröffnet – die Konkurrenz der Opfer um den ersten Platz. Es gewinnt, wer die meisten Minderheitsmerkmale auf sich vereint, schwarz, Frau, lesbisch und/oder Migrationshintergrund siegt durch alle Instanzen.

Es kann genügen, „Mann“ zu sein, um „schuldig“ zu sein

Gewiss gibt es Opfer, Opfer von Gewalt, auch, aber nicht nur unter Frauen. Doch die Definition dessen, was Opfer und was Gewalt ist, ist mittlerweile so unendlich weit gefasst, dass es, hielten sich alle an die neue Empfindlichkeit, keinen normalen Umgang mehr geben dürfte. So hört man nicht nur aus den USA den Rat, Männer sollten am besten nicht in einen Fahrstuhl steigen, in dem sich eine Frau befindet, und ihre Bürotür stets offen halten, ist eine Kollegin oder Studentin zu Besuch. Mittlerweile kann jeder, auch der unbegründete Vorwurf, ein Mann habe sexuell belästigt, ihn Ehre und Karriere kosten.

Denn ja: Die Behauptung, Opfer geworden zu sein, lässt sich trefflich als Waffe nutzen. Männern müsste spätestens seit dem „Fall“ Jörg Kachelmann – der fälschlich der Vergewaltigung beschuldigt wurde – klar geworden sein, dass manche Frauen diese Waffe auch nutzen. Warum? Weil sie es können. Weil ihnen Rache leicht gemacht wird. Weil sie die Chancen ergreifen, die sich ihnen bieten. Weil sie nicht die besseren Menschen sind. Weil sie nicht blöd sind. Weil sie, liebe Männer, stark genug sind, um als Gegner zu taugen, vor allem dann, wenn sie sich als Opfer deklarieren.

Nun könnte die derzeitige Opferschwemme der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt. Bei Feministens scheinen sich die schrillsten Vertreter durchgesetzt zu haben. Wer sich als Opfer fühlt, von was auch immer, dessen Gefühl darf beileibe nicht angezweifelt werden, zumal nicht von toxischen weißen Männern. Wer fühlt, hat recht. Was für eine Anmaßung.

Doch das machen auch viele Frauen nicht mit. Es beleidigt ihre Intelligenz. Es ist toxisch für ein gedeihliches Zusammenleben. Vielleicht sollte Mann, der verteufelte, endlich runter von der Schleimspur und sich diesen Frauen anschließen – den normalen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Tagespost.


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Parität? Nachhilfestunden in Demokratie

 Sie hätten doch nur ins Grundgesetz schauen müssen, die roten und grünen Parteien in Thüringen, dann hätten sie gewusst, dass sie auf dem falschen Dampfer waren. Die von ihnen im Juli 2019 verabschiedete Änderung des Landeswahlgesetzes, mit der Parteien gezwungen werden sollten, ihre Landeslisten paritätisch mit Männern und Frauen zu besetzen, ist vor dem Verfassungsgerichtshof in Weimar gescheitert. Die lesenswerte Begründung liest sich wie eine Nachhilfestunde in Sachen Demokratie. Dem „Prinzip der Repräsentation“ gemäß, heißt es da, „vertritt jede und jeder Abgeordnete das gesamte Volk und ist diesem gegenüber verantwortlich. Die Abgeordneten sind nicht einem Land, einem Wahlkreis, einer Partei oder einer Bevölkerungsgruppe, sondern dem ganzen Volk gegenüber verantwortlich; sie repräsentieren das Volk grundsätzlich in ihrer Gesamtheit, nicht als Einzelne.“

„Im Parlament schlagen sich die parteipolitischen Präferenzen des Volkes nieder, nicht dessen geschlechtermäßige, soziologische oder sonstige Zusammensetzung.“ M. a. W.: Weder Hautfarbe noch Herkunft, weder die soziale Schicht noch die sexuelle Neigung oder das Lebensalter spielen dabei eine Rolle. Wir leben nicht in einem Ständestaat, in dem jede Interessengruppe eine eigene Vertretung beanspruchen darf.

Heiter stimmt im übrigen auch, dass der rotrotgrüne Vorstoß vor Heteronormativität nur so strotzt: war nicht kürzlich noch Geschlecht ein bloßes Konstrukt? Und wo bleiben die Diversen?

Wollen Frauen nicht, was sie sollen?

Doch ebenso verblüffend ist, dass CDU und FDP eine Klage gegen das so offenkundig verfassungwidrige Gesetz der AfD überlassen haben, die sich nun als einzige Opposition verstehen darf, die Demokratie und Rechtsstaat verteidigt. Auch im Land Brandenburg wird sie gegen das dort verabschiedete Paritätsgesetz klagen. Und solange wir noch Richter haben, wird sie auch dort obsiegen.

Nun könnte man einwenden, dass doch gar nichts dagegen spricht, mehr Frauen in die Parlamente zu bringen. Sicher, nur: warum sollen ausschließlich Frauen in der Lage sein, die Interessen von Frauen zu vertreten? „Die“ Interessen „der“ Frauen gibt es nicht, schließlich wollen nicht alle in Führungspositionen oder in Aufsichtsräte einziehen oder die nächste Verteidigungsministerin werden. Dass sie heutzutage an solchen Karrieren noch gehindert würden, dürfte ein Gerücht sein, sie werden ja regelrecht angebettelt. Könnte es sein, dass sie nicht wollen, was sie sollen?

Denn um in ein Parlament gewählt zu werden, müssten Frauen in eine Partei eintreten. Das tun sie jedoch nicht zu den gewünschten 50 Prozent, egal, wie heftig sie umworben werden. Womöglich haben sie keine Lust auf allzu häufige Kungelsitzungen.

Kurz: sind nicht zuallererst die Parteien gefragt, wenn es um etwas geht, das sie sich offenbar wünschen, aber nicht hinkriegen? Brauchen sie dafür ein Gesetz, das sie dazu nötigt? Konsequenterweise müsste es dann auch eins geben, das Frauen dazu zwingt, paritätisch in Parteien einzutreten.

Wenn nur noch das zählt, was man zwischen den Beinen hat

Die CDU wird dieses Problem noch beschäftigen. Annegret Kramp-Karrenbauer, stolz darauf, eine Quotenfrau zu sein, möchte, dass sich die CDU auf eine verbindliche Frauenquote von 50 Prozent bis 2025 verständigt. Doch woher die Frauen nehmen, wenn die Partei nur über gut 26 Prozent weiblicher Mitglieder verfügt?

Dabei könnte es gut sein, dass Wähler und Wählerin ein ganz anderes Problem quält: dass es nunmehr offenkundig ist, dass es in der Politik nicht darum geht, dass sich der Kompetenteste durchsetzt, der gerne auch eine Frau sein darf. Gewiss, in der Frauenbewegung kursierte einst der Spruch: Gewonnen haben wir erst, wenn Frauen an der Macht genauso beschränkt sein dürfen wie Männer. Ziel erreicht, möchte man entnervt rufen, wenn nur noch das zählt, was man zwischen den Beinen hat und nicht, was sich im Kopf abspielt.

Und wäre es nicht an der Zeit, über das deutsche Wahlrecht nachzudenken, demzufolge nur die Hälfte der Volksvertreter vom Souverän direkt gewählt werden, während alle anderen über Listen in die Parlamente geraten, Listen der Parteien, die meist nach parteiinternen Kriterien besetzt werden, die nichts mit der Qualifikation zur Repräsentation der Interessen aller zu tun haben müssen?

Die modische Aufteilung des Wahlvolks in zu begünstigende Teilmengen wird den Parteien nicht das Wohlwollen jener einbringen, auf die sie setzen. Außer Frau Kramp-Karrenbauer will nämlich keine Frau, die etwas auf sich hält, eine Quotenfrau sein.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Homepage des NDR.


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Wir Untertanen.

  Reden wir mal nicht über das Versagen der Bundes- und Landesregierungen, einzelner Minister, der Frau Kanzler. Dazu ist im Grunde alles ge...