Dass man gewinnen und doch verlieren kann, erleben westliche Demokratien seit Jahrzehnten. Insofern ist die Prognose nicht sonderlich gewagt, dass Israel im Schlagabtausch mit der Hamas auf militärischer Ebene allein nicht siegen wird. Das folgt aus dem, was man „asymmetrische Kriegsführung“ nennt: keine reguläre Streitkraft behauptet sich auf Dauer in einem Partisanenkrieg ohne entsetzliche Menschenopfer. Denn es liegt in der Logik des Guerillakrieges, die Logik der staatlichen Streitkräfte außer Kraft zu setzen, die auf der strikten Trennung zwischen kämpfenden Truppen und Zivilbevölkerung beruht. Partisanen aber bewegen sich, wie Mao einst predigte, im Volk wie ein Fisch im Wasser. Wer sie schlagen will, schlägt also stets das Volk. Dagegen ist jede reguläre Armee hilflos. Sie verliert immer auch moralisch, und das ist heutzutage die Münze, in der vor der Weltöffentlichkeit bezahlt wird.
Dass das Volk es nicht groß mitkriegt, wenn seine Armeen sich bekämpfen, wie es der alte Fritz einmal formulierte, verdankt es dem Gewaltmonopol des Staates, das Selbstjustiz und Stammesfehden ein Ende setzte. Nur der „Kombattant“, der an seiner Uniform erkennbare Soldat, galt in regulären Schlachten als legitimes Ziel. Man schoss nicht auf Zivilisten. Entpuppten sich Zivilpersonen jedoch als Angreifer, mussten sie nicht mehr verschont werden. Im Gegenteil: die Rache war meist entsetzlich. Und immer traf es am schlimmsten den Ort und die Menschen, von denen man annahm, dass sie den Partisanen Schutz gewährt hatten. Im sogenannten Volkskrieg steht das Volk zwischen zwei Feuern.
Wer sich an die Regeln hält, hat schlechte Karten, sobald die gegnerische Seite es nicht tut. In der Geschichte des Krieges war er stets besonders blutig, wenn es „asymmetrisch“ zuging, wenn also die regulären Truppen einer Staatsmacht mit dem Monopol auf Gewalt auf Gegner traf, die sich als Irreguläre verstanden: als Freiheitskämpfer gegen eben diese Staatsmacht, als Aufständische, Freischärler, Partisanen, Terroristen oder Guerilleros. Der Namen sind viele, die Opfer sind immer die gleichen: das Volk, in dessen Namen sie zu kämpfen behaupten, obzwar ihre Legitimität nur aus den Gewehrläufen kommt.
Das Volk wird selten gefragt. Denn seine Toten sind die beste Waffe.
Wir sehen es nicht nur im derzeitigen Konflikt zwischen der israelischen Armee und der Hamas: eine Armee, die versucht, sich an die Regeln zu halten, zieht den Kürzeren, wenn der Gegner sich im Schutz der Zivilbevölkerung bewegt. Jeder Angriff auf einen Feind, der seine Munitionsdepots and Abschussrampen in der unmittelbaren Nähe oder sogar in zivilen Einrichtungen unterhält, erzeugt „Kollateralschäden“ unter den Zivilisten, also nicht beabsichtigte Wirkungen, und erntet damit weltweite Empörung. Wer aber anklagend die getöteten Kinder vorzeigen kann, hat die Weltöffentlichkeit auf seiner Seite.
Jedenfalls die Öffentlichkeit jenes Teils der Welt, in dem man vom Lebensrecht jedes einzelnen Individuums ausgeht, nennen wir ihn „den Westen“. Wer indes heilige Kriege erklärt, nimmt es mit dem einzelnen Todesopfer entschieden weniger genau. Saddam Hussein verkündete einst, er könne Millionen junger Männer in die Schlacht schicken, während die westlichen Memmen, die altenrden Gesellschaften mit ihrem immer selteneren und daher kostbareren Nachwuchs um jeden einzelnen ihrer Soldaten bangten. Den gleichen Zynismus findet man bei der Hamas, die das Volk, dessen Interessen sie angeblich vertritt, zum freiwilligen Selbstopfer auf den Dächern Gazas auffordert. Denn jedes tote Kind ist in der Propagandaschlacht ein Argument – die Propaganda der Bilder ist wirksamer als der Triumph der Waffen.
Diese Bilder treffen auf „edle Seelen“, wie schon Saddam Hussein spottete, nämlich auf westliche Menschen, die sich bei jedem von israelischen Salven getroffenen Kind mitgetroffen fühlen. Israel, die einzige Demokratie im nahen Osten, die westliche Werte vertritt, unterliegt der ebenso heftigen wie ungerechten Kritik, weil es eben zu unserer Wertegemeinschaft gehört. Eine mitfühlende Öffentlichkeit versteht das zynische Kalkül der Hamas nicht, das genau darauf setzt: dass in unserem Empfinden schon ein totes Kind eines zu viel ist. Für zum Märtyrertum bereite Palästinenser aber mag das Menschenopfer als nötig empfunden werden, weil es auch gegen die stärkere Waffenkraft der Israelis von weit größerer Wirkung ist.
Bei aller Kritik, vor der man sich Israel gegenüber nicht scheuen muss: das ist das eigentliche Drama. Man verstößt unweigerlich gegen westliche Werte, wenn man sie verteidigen muss, schon, weil der Gegner dafür sorgt. Das ist das Paradox, das die westliche Welt lösen muss, wenn sie überleben will.
Die Meinung, NDR-Info, 3. August 2014
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