Wie wird man plötzlich zum Experten
für Heimat und für „die Frage, welche verschiedenen Vorstellungen von Heimat es
gibt und worüber da gerade so viel diskutiert wird“? Das ZDF, Redaktion
„Aspekte“, lässt (nicht ganz stilsicher) anfragen, und würde zu einem Interview
auch „zu Ihnen nach Frankfurt kommen“. Dort wohne ich allerdings seit achtzehn
Jahren nicht mehr. Und für ein Drittel des Jahres lebe ich noch nicht einmal
mehr in Deutschland. Und diskutiert wird ja wirklich über vieles.
Jedenfalls habe ich ein paar Minuten
lang gegrübelt, was mich für eine solche Anfrage qualifiziert. Denn ich habe
ein eher nüchternes Verhältnis zu Heimat. Ich bin gern sesshaft, das stimmt, an
verschiedenen Orten zwar, aber ich mag Deutschland. Und Frankreich und Großbritannien,
überhaupt Europa. Aber Heimat? Die haben andere, meine französischen und
deutschen Nachbarn etwa, und ich bestaune das und schreibe in meinen Romanen darüber:
Was mag das für ein Gefühl sein, verwurzelt zu sein an einem Ort, Gemeinsamkeit
und Geschichte zu teilen, die allerdings beinahe überall ihre Abgründe hat?
Heimat ist für die einen Schutz und für die anderen Fessel und für viele beides
zugleich. Ein Ruhekissen ist sie nie. Manchmal bin ich froh, dass ich nur
Zaungast bin.
Mag sein, dass das biografische
Gründe hat, meine Nüchternheit. Meine Mutter ist 1947 aus Thüringen in den
Westen gegangen, wozu mein Vater ihr riet, der aus der französischen
Kriegsgefangenschaft zu ihr stieß. Die beiden und meine Geschwister lebten
lange „einquartiert“ und galten auch viele Jahre später noch bei manch
niedersächsischem Bauern als „tolopen Pack“, aber sie sprachen bald besseres
Hochdeutsch als die Osnabrücker und waren auch in anderer Hinsicht
Musterbeispiele von Integration, ja: Assimilation. Nostalgische Heimatsehnsucht
habe ich bei ihnen nicht erlebt, man nahm den Verlust hin, ohne sich zu Vertriebenenveranstaltungen
hingezogen zu fühlen.
Von der „Volksgemeinschaft“ hatten
beide die Nase gestrichen voll. Jedenfalls habe ich von ihnen eher die Lust am
Einzelgängertum als die auf Anschluss.
Also: warum ich? Dann las ich ThomasSchmid. Und jetzt ahne ich, warum.
Mein alter Bekannter aus Frankfurter
Zeiten, einst mit Neigung zur Militanz, später mit Neigung zu diesem oder
jenem, nur nicht zur Wiedervereinigung, nach harten Zeiten und erst in späten
Jahren zum Stern am Himmel von FAS und Welt aufgestiegen, neigt zu länglichen
Berichten zur Lage der Zeit und hat kürzlich eine „neue Heimatfront“
analysiert, zu der offenbar auch ich gehören soll. Mitsamt anderen, „die sich
fast ausnahmslos einmal zum linken Spektrum zählten“ und die nun die
„gemeinsame Erklärung 2018“ unterschrieben haben.
Wuchtig konstatiert Schmid: „Wer (wie
‚wir’ 68ff., CS) die Nation, das Vaterland, den Wunsch nach Volksgemeinschaft
und die Freude am Staketenzaun einfach abwirft, wird das nicht los, er oder sie
schleppt viel davon weiter mit sich herum, irgendwo weggeschlossen.“
Was weggeschlossen ist, das, na?
Genau: wird zum Wiedergänger. „Und dann kann, viel später, ein Moment kommen,
an dem sich diese ungefähren Wünsche und Sehnsüchte zurückmelden und an die
Oberfläche kommen.“ Westdeutsche Vereinzelte und ostdeutsche Verbitterte
„spendet die nationale Attitude wohl so etwas wie eine neue Heimat.“ An Merkel
störe all diese Sehnsüchtigen, „dass sie nichts Heimatliches habe, sie gibt
keinen Halt.“ Die „sich ausgegrenzt Fühlenden“ aber „wollen sich im Schatten
des nationalen Baumes ausruhen“ und verlassen nun die Hinterzimmer, in denen
sie vor sich hingegrummelt haben und „streben den politischen Raum an.“
Wer da an Ratten denkt, die es aus
ihren Löchern drängt, sollte innehalten: das klingt nur so, das meint der
Schmid nicht, der will nur – ja, was will er eigentlich? Geht da nicht
irgendwie einiges durcheinander, Heimat, national, Baum und Halt?
Und was hat das eigentlich mit der
„Erklärung 2018“ zu tun? Dort steht nichts von Heimat und Staketenzaun.
Was mich an den schlichten zwei
Sätzen der „Erklärung“ immer wieder erstaunt, sind die phantasievollen
Interpretationen, die sie zu provozieren scheinen. Vor allem aber, wie sehr es einige
lockt, aufs Menschliche auszuweichen, wenn ihnen die Argumente fehlen. Schmid
ist hier Spitze: Soviel Küchenpsychologie war selten. Ob auch der alte
Streetfighter etwas verdrängt hat, das er jetzt nachholen muss – Vergemeinschaftung
mit der herrschenden Klasse, vielleicht? Das wird man ja nicht so leicht los,
als Deutscher, oder?
Aber lassen wir die Polemik, fragen wir
lieber: was ist dran an der These, dass die von ihm verorteten Unterzeichner
der Erklärung 2018 an der „Heimatfront“ Haltung annähmen? Da ich sie nicht im
einzelnen kenne, weiß ich natürlich nicht, welche Sehnsüchte und Wünsche sie
haben, ich weiß ja noch nicht einmal, wie links sie vor ca. 40 oder 50 Jahren
mal waren, finde das in diesem Kontext auch eher belanglos.
Aber ganz allgemein ist sicher eines
nicht falsch: Viele von Schmids (und meiner, der etwas jüngeren) Generation
haben ein gestörtes Verhältnis zu Deutschland. Viele haben sie verachtet, die
„Heimatvertriebenen“, die nach dem verlorenen Krieg ihren Verlust nicht einfach
hinnehmen wollten. Und dann das „Gerede“ von der Wiedervereinigung! Ich gebe
zu: ich habe das auch lange von mir gewiesen; doch ebenfalls schon lange stört
mich die Mitleidlosigkeit, die darin liegt. Alles Nazis, also schuldig, Frauen,
Kinder, Alte? Das ist selbstzugeschriebene Kollektivschuld. Ebenso das
Argument, „wegen Auschwitz“ sei Deutschland (und zu Recht) geteilt worden. Das
glaubte man lediglich im Westen, wo man gern übersah, dass im Mai 1945 nur ein
Teil Deutschlands befreit wurde.
Auch die These, dass es nachgeahmte
„Volksgemeinschaft“ sei, die viele lustvoll habe mitmarschieren lassen, 1968ff.,
untergehakt, Ho Chi Minh skandierend, ist mir schon lange zu schlicht. Das
haben auch andere ohne die spezifisch deutsche Vergangenheit getan. Gemeinsame
Bewegung im gleichen Rhythmus hat in allen Kulturen und zu allen Zeiten etwas
Mitreißendes. Auch ist es in den meisten Menschen verankert, irgendwo
dazugehören zu wollen. Wer damals glaubte, deutsch nicht sein zu können, suchte
sich eben irgendeine „Freiheitsbewegung“ in der dritten Welt, egal, wie obskur
sie war, und machte sich zum nützlichen Idioten.
Vielleicht aber wirkte damals, 68ff,
etwas anderes viel mächtiger gegen „Heimat“ und ähnliche Vergemeinschaftungen:
die Individuierung, die der Markt in den 60er Jahren anbot. Da gab es mit einem
Mal eine eigene, eine Jugendkultur: erschwingliche Kleidung und vor allem
Musik, unsere, die wir dank Piratensendern und Kassenrekordern bald ohne die
herkömmlichen Kanäle anhören konnten. Den Erwachsenen überließen wir die
Caprifischer und die Heimat, die Jungen fühlten sich als Teil einer
internationalen Jugendbewegung. Die Stadt war Ort der Freiheit, der Parties und
Drogen, die dörfliche oder provinzielle „Heimat“ stand im Verdacht, reaktionär
zu sein. (Der Euphorie folgte Katerstimmung, als die Drogen nicht mehr der
Befreiung dienten, sondern in die Knechtschaft führten.) Freiheit war Bindungslosigkeit.
Ohne es womöglich zu merken, folgte
manch einer der Ideologie des von allem losgelösten Individuums, das nur eine
Bindung kennt: die an Mutter Staat.
Dass Familie und Nachbarschaft auch
stützende Funktion haben, dass sie ein probates Mittel gegen Staatsabhängigkeit
sind, ist eine Erkenntnis, die viele erst später erreicht hat. Auch, dass
andere Menschen als man selbst ein positives Verhältnis zu Heimat haben, ohne
Staketenzaun und all die anderen Paraphernalia des Spießertums, wie es Schmid
zu unterstellen scheint, der sich unter Heimatgefühlen offenbar nur etwas
irgendwie Rückwärtsgewandtes vorstellen kann.
Es gibt städtische Milieus, denen
die Erfahrung ihr Leben lang erspart blieb, dass es auch in Deutschland ein
Leben jenseits der Städte gibt. Das sind jene „Anywheres“, denen noch nicht
einmal bei der Abstimmung über den Brexit oder bei der Trumpwahl aufgefallen
ist, dass ihre Lebensweise nicht die einzig mögliche und erlaubte ist, dass es,
in der Formulierung von David Goodhart, „Somewheres“ gibt. Goodhart zufolge
besteht etwa die Hälfte der Bevölkerung allem Globalisierungsgerede zum Trotz
aus fest Verwurzelten, während die „weltoffen“ Fluiden, die jeden Flughafen der
Welt kennen, vielleicht 25 % ausmachen. Haben die „Verhockten“ hinter ihrem
Staketenzaun wirklich kein „Recht auf Heimat“ oder einfach nur auf ihre
Lebensweise? „Heimat“ nehmen übrigens vor allem jene in Anspruch, die es nach
Deutschland, Großbritannien oder Frankreich gezogen hat und die dort in einer
Parallelgesellschaft leben, in der die Bräuche der fernen verlassenen Heimat strikt
eingehalten werden.
Also: was spricht gegen Heimat? Was
spricht gegen späte Einsichten wie die, dass man den Wunsch danach weder
ignorieren noch lächerlich machen sollte, was Schmid partout nicht lassen kann?
Und kommen wir auf den Angang
zurück: Was haben solche vielleicht oder auch nicht verdrängten Wünsche und
Sehnsüchte mit der „Erklärung 2018“ zu tun? Wieso steht jemand an der
Heimatfront, der die Einhaltung der Gesetze fordert? Was ist national am Verweis
auf den Rechtsstaat und die Demonstrationsfreiheit?
Mal ganz abgesehen davon, dass ich
nichts Despektierliches darin sehe, wenn Menschen Heimatgefühle haben und dass
ich jeden verstehe, dem das substanzlose Gerede von der „bunten Weltoffenheit“
auf den Zeiger geht: Sieht der alte Linksradikale Schmid wirklich keinen rationalen
Grund, die Bundesregierung an Recht und Gesetz zu erinnern? Denkt er: „Danke,
liebe Antifa“, wenn von Militanten und mit regierungsamtlicher Unterstützung Demonstrationen
von Menschen verhindert werden, die mit der willkürlich unreglementierten Masseneinwanderung
nicht einverstanden sind, zu der im übrigen noch nicht einmal das Parlament befragt
wurde? Vergisst er, dass ein Sozialstaat nur im nationalen Rahmen funktioniert
und dass man für diese Erkenntnis keine Heimatgefühle wiederentdecken muss?
Oder diente der ganze langatmige
Essay wieder nur dem Zusammenflicken eines Pappkameraden, um gemütlich auf ihn
einschlagen zu können?
Alle Argumente gegen eine Politik
der Alternativ- und Kopflosigkeit, wie sie sich mit der „Energiewende“, der EU-
und Eurorettungspolitik und zuletzt der Politik der offenen Grenzen und offenen
Taschen nun schon seit Jahren offenbart, wären Ausfluss einer Sehnsucht nach
Heimat und „Heimatschutz“ und danach, „dass Deutschland so bleibt, wie es ist“?
Da lachen doch die Hühner und alle anderen gleich mit. Ist es wirklich
reaktionär, sich ein Deutschland zurückzuwünschen, in dem man im Vertrauen auf
Recht und Gesetz den zivilen Umgang miteinander nicht täglich neu aushandeln
musste?
Auch ich möchte, dass in Deutschland
das Recht regiert und nicht die voraussetzungslose und für alle Folgen des
guten Willens blinde Moral. Ich habe das immer für eine erzliberale Position
gehalten. Doch wenn das in Wirklichkeit konservative Heimatliebe ist, dann
meinetwegen.