Der wabernde Wahnsinn
Robert Harris‘ neues Buch „Der zweite Schlaf“ liest sich zunächst
wie einer der üblichen Mittelalterromane aus England. Die Geschichte spielt im Jahre
des Herrn 1468, das Wetter ist mies, die Wege sind matschig und die Einheimischen
irgendwie verschlagen. Die Kirche hält das Land fest in ihrem Griff, schreibt
vor, was man sagen und denken darf. Wissensdurst ist gefährlich, weshalb Bücher
auf dem Index stehen. Das erinnert an den „Namen der Rose“, natürlich, und ist
ganz nach Geschmack von uns Autoren, denen am Kampf ums Buch liegen muss.
Und so entdeckt der junge Priester Christopher Fairfax in
der Bibliothek des gewaltsam ums Leben gekommenen Pfarrers des Örtchens
Addicott St George neben geheimnisvollen Artefakten einen Schatz von
Aufzeichnungen, die der alte Mann gesammelt hat. Unter den Artefakten befindet
sich auch ein dünnes, handtellergroßes, glänzendes Rechteck, auf dessen Rücken
das ultimative Symbol von Hybris und Blasphemie zu sehen ist: ein angebissener
Apfel.
Der Roman spielt also nicht in der Vergangenheit, sondern in
der Zukunft, Jahrhunderte nach dem großen Kladderadatsch. Wie und warum es zum
Ende der alten Zivilisation gekommen ist, ist niemandem bekannt, doch in den
Aufzeichnungen aus der Bibliothek entdeckt der junge Priester einen Text, der
diverse Untergangsszenarien nennt: Klimawandel, an erster Stelle. Es folgen: Atomarer
Schlagabtausch, ein gigantischer Vulkanausbruch, der Aufprall eines Asteroiden,
eine umfassende Störung der digitalen Technologie aufgrund von Hackerangriffen,
von unkontrollierbaren Viren oder von Sonnenaktivität. Die letzte Möglichkeit,
die in der hinterlassenen Botschaft eines früheren Nobelpreisträgers genannt
wird: eine Pandemie aufgrund von Antibiotikaresistenz. Wir haben die Wahl.
Woran die Welt der Alten dann wirklich untergegangen ist,
enthüllt der Roman nicht. Doch viele Rezensenten von Robert Harris‘ Bestseller
wissen, was der entscheidende Faktor dafür war: „unsere Gier, unser Ehrgeiz,
unsere Arroganz. Wir sind alle verantwortlich“ (Guardian). Harris‘ Buch sei ein
Warnruf – auch, wenn es den Brexit oder Trump nicht direkt thematisiere.
Erfreulicherweise ist Harris Schriftsteller genug, um seine Leser nicht mit
Offensichtlichem zu langweilen, doch er würde der Interpretation, es handele
sich um einen „brandaktuellen Thriller“ (Zeit) sicher zustimmen.
Und ja, brandaktuell ist das schon und spannend obendrein.
Denn das Buch erzählt vor allem von dem auf welche Katastrophe auch immer
folgenden religiösen Wahn, der alles ächtet, was die Menschheit gelernt und
vermocht hat. Die Herrschaft der Kirche ist getragen und durchdrungen von
Technik- und Wissenschaftsfeindlichkeit, alle, die sich auf die Suche nach
Spuren der Vergangenheit machen, sind geächtet.
Hat das mit dem Brexit oder mit Donald Trump zu tun? Oder
trifft das nicht eher auf jene Gruppen zu, die als religiöse Erweckungsbewegung
durch die Lande ziehen, „Haltet ein“ skandierend, und Kinder mit der Prophetie
eines Weltuntergangs schon in wenigen Jahren auf den Tod erschrecken?[1]
Sehen die „Aktivisten“ von Extinction Rebellion nicht ein wenig aus wie
fanatische Mönche und ihre Anhänger wie ekstatisch entfesselte Gläubige?
Auf die „Klimakatastrophe“ oder einen Meteoriteneinschlag müssen
wir nicht warten, damit es wieder zurück ins Archaische geht. Darum bemühen
sich ganz andere - nicht nur die FFF-Fans oder Extinction Rebellion. Wissenschafts-
und Technikfeindlichkeit ist in Deutschland längst bei den politischen und
medialen Eliten angelangt. Ganz ohne Naturkatastrophe geht Deutschland bereits
jetzt dem nachindustriellen Zeitalter entgegen. Wenn man Robert Harris folgen
mag: Leute, das wird ungemütlich.
Wahnsinn der Massen
Die passende Lektüre zu diesem Szenario bietet das neue Buch
des britischen Schriftstellers Douglas Murray. „Wahnsinn der Massen“[2]
zeichnet in erschreckender Detailfülle den Weg in den Abgrund der wahnhaften
Unwissenheit nach, zur Begleitmusik von Hass und Rachsucht. In einer der besten
Gesellschaften, die die Menschheit kennt, wächst die Unzufriedenheit proportional
zu ihren Errungenschaften.
Murrays Auseinandersetzung mit der Schwulen- oder
Schwarzenszene zeigt, wie wenig es im Kampf um „soziale Gerechtigkeit“ genau
darum geht. Auch in der Frauenbewegung herrsche eine politische Agenda vor:
nicht Gleichberechtigung sei das Ziel, auch nicht Gleichheit, sondern
Hegemonie. Und so behauptet jede Gruppe, als einzige das Gelbe vom Ei zu sein:
Schwule sind die wahren Männer, Schwarze können keine Rassisten sein und Frauen
sind die besseren Menschen. Murrays Frage, ob Schwule einfach nur normal und
unangefeindet leben oder die Gesellschaft verändern wollen, gilt für all diese
Bewegungen, in denen man sich als Opfer inszeniert und noch in Anerkennung und Zuwendung
Aggression wittert.
Dabei agieren die selbsternannten Vertreter der „Opfer“ oder
„Minderheiten“ selbst mit höchster Aggressivität und reproduzieren just das,
was sie bekämpfen. Das wird von den Adressaten der Attacken – bevorzugt weiße
Männer - gern freundlich beschwiegen, als ob es sich um Kinder handelte, die schon
mal ein bisschen überziehen. Aber „Weiße sind Schweine“ oder „Männer sind
Abfall“ sind auf die Dauer keine Aussagen, die ein friedvolles Zusammenleben
befördern. Auch nicht die triumphierende Freude schwarzer Frauen, im Urlaub mal
keine Weißen sehen zu müssen. Vor allem ist bemerkenswert, dass diese
kämpferischen Posituren just in dem Moment eingenommen werden, in dem man davon
ausgehen kann, dass die wichtigsten Schlachten geschlagen sind und alle
gemeinsam die Früchte ernten könnten.
Warum beharren Frauen auf ihrer auch sprachlichen
„Sichtbarkeit“ mit Sternchen und anderem Pipapo, wo sie längst nur schwer noch
zu übersehen sind? Gibt es nur toxische Männlichkeit oder auch toxische
Weiblichkeit? Darf ein schwuler Mann vom Schwulsein exkommuniziert werden, nur,
weil er Trump mag? Warum verdrängen amerikanische Eliteuniversitäten in ihrem
Bemühen um „Diversität“ die begabtesten aller Anwärter, nämlich asiatische
Studenten? Und warum zeigt Google, wenn man auf die Suche nach weißen Paaren
geht, vor allem Links zu schwarz-weißen Paaren?[3]
Sollen wir erzogen werden? Etwa zur Überzeugung, dass mindestens 50 % aller
Menschen schwarz oder schwul sind?
Fakten? Ich brauche
keine Fakten
Es gibt im Kosmos dieser ideologischen Bewegungen weder
Wahrheit noch Fakten. Erschreckend ist das Buch insgesamt, aber besonders
unerfreulich ist das Kapitel über die Meinungsfreiheit an amerikanischen
Universitäten. Wer es aushält, sollte sich das in den Fußnoten verlinkte
Videomaterial dazu ansehen. Offener Streit und faire Auseinandersetzung
zwischen Studenten und Professoren ist nicht möglich, die Studenten verweigern
das Gespräch mit Beschimpfungen und Unterstellungen, insbesondere mit dem
Vorwurf, der (weiße) Professor könne gar nicht wissen, was er (der schwarze)
Student fühle. Den Höhepunkt der Szenen aus dem Kosmos der Wissenschaft bietet der
Ausruf eines Studenten: „Don’t tell me about facts. I don’t need no facts.“ Der
Begriff der Objektivität oder gar der „Wahrheit“ sei lediglich ein Mittel, um
unterdrückte Menschen zum Schweigen zu bringen. Die Wahrheit sei überhaupt nur
ein Konstrukt des europäischen Westens.
Das, darauf verweist Douglas Murray, haben die Studenten
sich nicht selbst ausgedacht. Es wurde ihnen beigebracht.
Einzelfälle? Vielleicht. Doch aggressive Minderheiten mit
starken Überzeugungen können, wie es Nassim Nicholas Taleb[4]
beschreibt, extrem mächtig sein. Es braucht nur ein paar aggressive
„Aktivisten“, und schon gibt die gutwillige Mehrheit nach. Auf diese Weise kann
man Speisepläne verändern, Bücher verbieten und Leute auf eine schwarze Liste
setzen.
Die Welt als Wille
und Vorstellung
In der Debatte um Transsexualität kulminiert die Vorstellung,
dass Biologie und „Normalität“ nichts bedeuten und der eigene Wille und die
eigene Vorstellung von sich selbst entscheidend sind.
Murray lässt keinen Zweifel daran, dass den wenigen
Menschen, die tatsächlich weder eindeutig männlich noch weiblich sind, Respekt
und Hilfe zuteil werden muss. Aber er wundert sich zurecht über die beinahe
explosionsartige Vermehrung insbesondere von Männern, die sich plötzlich im
falschen Körper wähnen. Eine blühende medizinische Industrie findet nichts
dabei, auch bereits Kindern vor der Pubertät geschlechtsumwandelnde Maßnahmen angedeihen
zu lassen. Dabei zeigen, ganz nebenbei, die Folgen der Hormonbehandlung
überdeutlich, dass Männer und Frauen sich unterscheiden.
Das ist mindestens so absurd, wenn auch weit gefährlicher,
als die Begeisterung einer Grundschullehrerin in der Schweiz für eine dritte
Toilette, wohlgemerkt: in der Grundschule, also für Sechs- bis Zwölfjährige,
denn die Schüler sollen sich „stolz mit dem dritten Geschlecht identifizieren“
dürfen.[5]
Murrays Auseinandersetzung mit der Transsexualität ist weit
differenzierter als ich es hier zusammenfassen kann. Bezeichnenderweise sind es
oft Feministinnen, die sich dagegen wehren, dass Männer einfach behaupten
dürfen, Frauen zu sein und damit nicht zur Zugang zu Frauentoiletten bekommen,
sondern sich auch, wie jüngst aus Großbritannien berichtet, als verurteilter
Vergewaltiger in den Frauenknast verlegen lassen dürfen.[6]
Und während man der für ihre sämtliche Grenzen überschreitende Flapsigkeit
bekannte July Burchill das Geständnis durchgehen ließ, am liebsten bei der
Bombardierung Dresdens dabei gewesen zu sein, hat sie ihre Attacke auf
„Schwänze in Frauenklamotten“ die Karriere beim „Observer“ gekostet. Was die
eine oder andere womöglich am meisten schmerzt: die umgearbeiteten Männer
lassen sich einen perfekten Frauenkörper zurechtschneidern, wie unsereins ihn eher
selten hat und bestärken damit Geschlechterklischees.
Die Welt als Wille und Vorstellung: es ist der Abschied von
Kriterien wie Normalität, biologischen und anderen Fakten, von „Wahrheit“ und
Wissenschaft; es ist die Rückkehr zu magischem Denken und Aberglauben, die
Murray in diesem Panoptikum des Zeitgeistes entdeckt. Womöglich tritt der
Rückfall ins Dunkle auf diese Weise ganz ohne äußere Einflüsse ein.
[2] München
2019
[3] Ein
Beispiel: https://www.google.com/search?q=wei%C3%9Fe+Paare&oq=wei%C3%9Fe+Paare&aqs=chrome..69i57j69i59.1911j0j8&sourceid=chrome&ie=UTF-8
[4]
Nassim Nicholas Taleb, Das Risiko und sein Preis. Skin in the Game, München 2018