100 Tage Große Koalition sind eigentlich keine Bilanz wert. Schließlich ist bislang alles so verlaufen, wie man es sich hat denken können. Die Kanzlerin hält auf bewährte Weise still, Sigmar Gabriel macht geübt den starken Mann und Andrea Nahles arbeitet an ihrer Unsterblichkeit. Mindestlohn, Rente mit 63, Energiewende: alles wie beschlossen und verkündet. Bedenken und andere störende Vorbehalte verfliegen im warmen Wind der Zustimmung, die der Regierung aus dem Volke zuströmt: was sozial aussieht, finden alle gut. Auch wenn es sozial nicht ist.
Angesichts dessen kommt sich furchtbar altmodisch vor, wer da noch an den Sinn der repräsentativen Demokratie erinnert, in der es nämlich nicht darauf ankommt, den Willen des Volkes zu exekutieren, sondern ihn sozusagen zu veredeln im Sinne des Interesses der Allgemeinheit. Doch von solchen Ideen ist die lobby- und klientelorientierte Parteiendemokratie so weit entfernt wie nie.
Die Rente mit 63 betrifft zwar nur eine Minderheit, aber das Signal ist gegeben: die sanfte Erhöhung des Renteneintrittsalters steht wieder zur Disposition, als ob nicht alle Welt wüsste, dass zunehmendes Lebensalter und abnehmende Geburtenzahl die deutsche Rentenformel längst obsolet gemacht haben. Und als ob nicht gerade erst eine Untersuchung bestätigt hat, dass der von lebenslanger harter Arbeit entkräftete Frührentner eine Ausnahmeerscheinung ist unter all den bis in die 80er energiegeladenen Senioren.
Auch die Einführung eines Mindestlohns ist nicht das, was sie zu sein behauptet: sozial. Zur Freude der besitzstandswahrenden Gewerkschaften drängt er die Jungen und die Unterqualifizierten aus dem Markt. Das ist den westdeutschen Arbeitervertretern ja bereits damals nach der Wende prima gelungen: gleicher Lohn für alle hat den Aufbruchswilligen im Osten die einzige Chance genommen, die sie hatten: sich mit niedrigen Löhnen einen Startvorteil zu verschaffen. Wie das geht, kann man in Polen sehen. Stattdessen legte man die neuen Bundesländer an den staatlichen Tropf.
Im Griff mächtiger Lobbies ist auch Sigmar Gabriel eingeknickt, der sich zunächst kühn ans Heiligtum der Energiewende wagte. In der Tat ist das Gesetz zur Förderung der erneuerbaren Energien, da man es leider nicht ersatzlos streichen kann, reformbedürftig. Es hat sich zu einem klassischen Fall für alle entwickelt, die die negativen Folgen staatlicher Subventionen studieren wollen: falsche Anreize führen mittlerweile zu einer gigantischen Geldvernichtung, während die versprochene Energiewende selbst ausbleibt. Energie wird weder sicherer noch erschwinglicher. Das EEG begünstigt Eigenheimbesitzer und Parzelleneigentümer. Man kann das auch Umverteilung von unten nach oben nennen.
Dem energiebedürftigen Industriestandort Deutschland schadet das. Und damit auch der alten Kernklientel der SPD, die übrigens erheblich unter der sogenannten kalten Progression leidet, einer außergesetzlichen Bereicherung des Staates auf Kosten der unteren Mittelschicht, wo jede Lohn- oder Gehaltserhöhung durch Aufrücken in der Steuerprogressionsleiter verloren geht. Das trifft gerade die Facharbeiter.
Die SPD scheint bemüht, alles abzuwickeln, was man ihr bislang zugutehielt. Nein, die Agenda 2010 ist nicht die alleinige Mutter des deutschen Wirtschaftswunders. Aber sie war ein wichtiger Teil, von dem nicht mehr viel übriggeblieben ist. Und so macht sich selbst bei Zynikern die Sehnsucht nach alten Haudegen wie Gerhard Schröder und Franz Müntefering breit, die das in jedem Interview selbstzufrieden auskosten.
Gibt es also nichts Positives zu berichten? Doch! Man muss sich nur ein wenig Mühe geben.
Da ist zum ersten die erfreuliche Tatsache, dass die Kanzlerin wieder ohne Krücken gehen kann. Und zum zweiten: dass Deutschland endlich wieder einen Außenminister hat, der diesen Namen verdient. Und über die Fallstricke des Gesetzes über erneuerbare Energien darf wenigstens geredet werden. Insofern gibt es Hoffnung: dass die SPD wieder ihre Kernklientel entdeckt – jene Arbeiterschaft, der daran liegt, dass Deutschland ein Industriestandort bleibt. Und wo man unter Solidarität nicht versteht, dass dieses Land sich dem Wirtschaftsniveau Griechenlands annähert, sondern dass es, im Gegenteil, stark genug bleibt, um die Hilfe auch leisten zu können, die es anderen so gern anbietet.
23. März 2014, NDR Info, Die Meinung
Sonntag, 23. März 2014
Montag, 10. März 2014
Lehren aus der Geschichte?
Es schadet gewiss nicht, Despoten verstehen zu lernen – und beim Umarmen kommt man ihnen ja besonders nahe. Es wäre indes auch nicht schlecht, sich vorher seiner selbst zu vergewissern. Dabei hilft der historische Vergleich – manchmal. Und manchmal überhaupt nicht.
Nicht selten verdeckt Erinnerung die Wirklichkeit. Und mindestens so oft dienen historische Analogien der geschichtspolitischen Absicherung politischer Positionen. Hillary Clinton hat Putins Griff nach der Krim mit Hitlers Anspruch auf das Sudetenland 1938 verglichen. Und wir wissen doch, was darauf folgte, oder?
Sicher, die Begründungen ähneln sich, mit denen Hitler Anspruch aufs Sudetenland erhob und Putin nach der Krim greift. Hier wie dort gibt es einen nicht unerheblichen Bevölkerungsanteil, der den Anschluss ans „Vaterland“ wünscht, was zur völkerrechtswidrigen Revision von Staatsgrenzen geradezu einlädt. Und in beiden Fällen liegen wesentliche Ursachen in den unbewältigten Folgen des ersten Weltkriegs und eines Friedensschlusses, der Frieden verhinderte.
Folgt daraus nun die Lehre, man müsse dem Weltmachtaspiranten Putin rechtzeitig militärisch in den Arm fallen, um Schlimmeres zu verhüten, was man 1938 bei Hitler versäumt habe? Selbst Chamberlains Politik des Appeasement war nicht ganz so blauäugig, wie man heute, in Kenntnis des Holocaust, glaubt. Auch Chamberlain hatte aus der Geschichte gelernt: nie wieder Krieg. Nachdem man es in der Julikrise 1914 versäumt hatte, die Eskalation zu verhindern, wollte man 20 Jahre nach dem Ende der großen Katastrophe einen solchen Fehler nicht wiederholen. Das ist nicht ehrenrührig. Und: hinterher ist man immer schlauer.
Das mahnende „Wehret den Anfängen“ eignet sich prächtig zur Erpressung, wie Joschka Fischer wusste, der als Außenminister der rotgrünen Bundesregierung den Deutschen 1999 die Zustimmung zum Eingreifen im Kosovo mit dem Argument abverlangte, man müsse dort ein neues Auschwitz verhindern. Das ist so ziemlich das schärfste Schwert, das man hierzulande zur Verfügung hat, wenn es darum geht, Gefolgschaft zu sichern. Man sollte es auch mal stecken lassen.
Fehlt noch die Frage, wo die Friedensbewegung bleibt. Die Frage ist die Antwort: man darf dort blauäugige Russophilie und ideologischen Antiamerikanismus vermuten. Die Friedensbewegung der 80er Jahre war nunmal moskautreu – und in nicht geringem Maße vom Realsozialismus infiltriert und bezahlt. Aber es spielte auch eine seit dem Dreißigjährigen Krieg tief verwurzelte Urangst mit, die Stillhalten empfahl angesichts eines Szenarios, das Deutschland als den Austragungsort eines atomaren Schlagabtauschs sah. Noch 1991, als es darum ging, Saddam Hussein an der Annexion Kuweits zu hindern, fürchteten viele in Deutschland den Beginn eines Dritten Weltkriegs. Man hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass das Ende des Kalten Kriegs auch ein Ende jenes Friedens bedeutete, der für Westdeutsche bequem war, für die Menschen im Ostblocks allerdings Friedhofsruhe hieß. Mit dem Ende der Sowjetunion wurden begrenzte Konflikte wieder möglich.
Außenminister Steinmeier hat gewiss recht, wenn er die derzeitige Krimkrise als die tiefste Krise seit 1989 bezeichnet. Der Kalte Krieg wirkte wie eine große Käseglocke, unter der die ungelösten Konflikte weiter schwärten. Nicht die EU, das Gleichgewicht des Schreckens verschaffte Europa Frieden. Seither ist die Welt unruhiger geworden, ohne dass es zur finalen Katastrophe kommt, aber die Geschichtsbilder überdauern, die Stillhalten nahelegen.
Und womöglich spielen ja nicht nur Russophilie und Antiamerikanismus ihre Rolle, sondern auch die schlichte Tatsache, dass Russland uns rein räumlich näher liegt als die USA. Deutschland ist zwar lange schon im Westen angekommen, hat aber sehr wohl Interessen, die eher östlich liegen, nicht nur, was die Energieversorgung betrifft. Es ist natürlich von besonderer Pikanterie, dass Deutschlands Sonderweg in Sachen Energiepolitik es stärker an die russischen Gaslieferungen bindet als uns lieb sein kann.
Auch die neuerliche Debatte über die Rolle der Großmächte im Ersten Weltkrieg und die Abkehr von der einseitigen Verurteilung Deutschlands lässt sich geschichtspolitisch vereinnahmen. Einem Deutschland, das sich noch immer als schuldig nicht nur am Zweiten, sondern auch am Ersten Weltkrieg sieht, ist schwer einzureden, dass es nun wieder machtpolitisch Verantwortung übernehmen soll. Schließlich haben wir doch gesehen, wohin Weltmachtambitionen führen, oder?
Dieses Argument, von einigen Verbündeten bereits seit längerem als „Drückebergerei“ kritisiert, soll für das große und wirtschaftlich mächtige Deutschland nun nicht mehr gelten. Doch es wird nicht einfach sein, die Deutschen davon zu überzeugen. Deutschland war nie Weltmacht, und bevor es sich in diese Rolle einüben konnte, war es mit seinen Ambitionen bereits gescheitert. In zwei verlorenen Weltkriegen hat man hierzulande auf machtpolitisches (oder gar geostrategisches) Denken verzichten gelernt. So einfach wird es sich nicht wieder einüben lassen.
Wer mit den Rebellen auf dem Maidanplatz gefiebert hat, wird sich mit dem vorsichtigen Lavieren von EU und USA nicht anfreunden können. Doch was ist die Alternative? Man muss Putin entgegentreten? Ihn hindern? Die Instrumente zeigen? Vielleicht. Wenn man kann. Und solange man nicht seinerseits Geschichtspolitik betreibt.
Warum nicht abwarten, wie sich die Dinge in der Ukraine selbst entwickeln? Die Aufteilung des Landes nach dem Vorbild der Tschechoslowakei ist keine völlig abwegige Option. Und: auch moralisch oder menschenrechtlich begründeteter Interventionismus kann machtpolitisch missbraucht werden. Wo Moral vernebelt, sind Interessen durchschaubar. Weshalb die immer wiederkehrende missbilligende Frage, warum die USA hier, aber nicht auch dort interveniert haben, müssig ist: natürlich muss sich jedes militärische Eingreifen einbinden lassen in das mäßigende Gerüst von Interessenspolitik. Auch „die Guten“ greifen nur dort ein, wo es ihnen nützt. Und manchmal sind sie noch nicht einmal „gut“.
Was tun? Im Unterschied zu vielen gelehrten Ratgebern weiß ich es nicht. Außer: Nerven bewahren und alle Geschichtsbilder bannen, die sich allzusehr in den Vordergrund drängen.
Die Welt, 10. März 2014
Nicht selten verdeckt Erinnerung die Wirklichkeit. Und mindestens so oft dienen historische Analogien der geschichtspolitischen Absicherung politischer Positionen. Hillary Clinton hat Putins Griff nach der Krim mit Hitlers Anspruch auf das Sudetenland 1938 verglichen. Und wir wissen doch, was darauf folgte, oder?
Sicher, die Begründungen ähneln sich, mit denen Hitler Anspruch aufs Sudetenland erhob und Putin nach der Krim greift. Hier wie dort gibt es einen nicht unerheblichen Bevölkerungsanteil, der den Anschluss ans „Vaterland“ wünscht, was zur völkerrechtswidrigen Revision von Staatsgrenzen geradezu einlädt. Und in beiden Fällen liegen wesentliche Ursachen in den unbewältigten Folgen des ersten Weltkriegs und eines Friedensschlusses, der Frieden verhinderte.
Folgt daraus nun die Lehre, man müsse dem Weltmachtaspiranten Putin rechtzeitig militärisch in den Arm fallen, um Schlimmeres zu verhüten, was man 1938 bei Hitler versäumt habe? Selbst Chamberlains Politik des Appeasement war nicht ganz so blauäugig, wie man heute, in Kenntnis des Holocaust, glaubt. Auch Chamberlain hatte aus der Geschichte gelernt: nie wieder Krieg. Nachdem man es in der Julikrise 1914 versäumt hatte, die Eskalation zu verhindern, wollte man 20 Jahre nach dem Ende der großen Katastrophe einen solchen Fehler nicht wiederholen. Das ist nicht ehrenrührig. Und: hinterher ist man immer schlauer.
Das mahnende „Wehret den Anfängen“ eignet sich prächtig zur Erpressung, wie Joschka Fischer wusste, der als Außenminister der rotgrünen Bundesregierung den Deutschen 1999 die Zustimmung zum Eingreifen im Kosovo mit dem Argument abverlangte, man müsse dort ein neues Auschwitz verhindern. Das ist so ziemlich das schärfste Schwert, das man hierzulande zur Verfügung hat, wenn es darum geht, Gefolgschaft zu sichern. Man sollte es auch mal stecken lassen.
Fehlt noch die Frage, wo die Friedensbewegung bleibt. Die Frage ist die Antwort: man darf dort blauäugige Russophilie und ideologischen Antiamerikanismus vermuten. Die Friedensbewegung der 80er Jahre war nunmal moskautreu – und in nicht geringem Maße vom Realsozialismus infiltriert und bezahlt. Aber es spielte auch eine seit dem Dreißigjährigen Krieg tief verwurzelte Urangst mit, die Stillhalten empfahl angesichts eines Szenarios, das Deutschland als den Austragungsort eines atomaren Schlagabtauschs sah. Noch 1991, als es darum ging, Saddam Hussein an der Annexion Kuweits zu hindern, fürchteten viele in Deutschland den Beginn eines Dritten Weltkriegs. Man hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass das Ende des Kalten Kriegs auch ein Ende jenes Friedens bedeutete, der für Westdeutsche bequem war, für die Menschen im Ostblocks allerdings Friedhofsruhe hieß. Mit dem Ende der Sowjetunion wurden begrenzte Konflikte wieder möglich.
Außenminister Steinmeier hat gewiss recht, wenn er die derzeitige Krimkrise als die tiefste Krise seit 1989 bezeichnet. Der Kalte Krieg wirkte wie eine große Käseglocke, unter der die ungelösten Konflikte weiter schwärten. Nicht die EU, das Gleichgewicht des Schreckens verschaffte Europa Frieden. Seither ist die Welt unruhiger geworden, ohne dass es zur finalen Katastrophe kommt, aber die Geschichtsbilder überdauern, die Stillhalten nahelegen.
Und womöglich spielen ja nicht nur Russophilie und Antiamerikanismus ihre Rolle, sondern auch die schlichte Tatsache, dass Russland uns rein räumlich näher liegt als die USA. Deutschland ist zwar lange schon im Westen angekommen, hat aber sehr wohl Interessen, die eher östlich liegen, nicht nur, was die Energieversorgung betrifft. Es ist natürlich von besonderer Pikanterie, dass Deutschlands Sonderweg in Sachen Energiepolitik es stärker an die russischen Gaslieferungen bindet als uns lieb sein kann.
Auch die neuerliche Debatte über die Rolle der Großmächte im Ersten Weltkrieg und die Abkehr von der einseitigen Verurteilung Deutschlands lässt sich geschichtspolitisch vereinnahmen. Einem Deutschland, das sich noch immer als schuldig nicht nur am Zweiten, sondern auch am Ersten Weltkrieg sieht, ist schwer einzureden, dass es nun wieder machtpolitisch Verantwortung übernehmen soll. Schließlich haben wir doch gesehen, wohin Weltmachtambitionen führen, oder?
Dieses Argument, von einigen Verbündeten bereits seit längerem als „Drückebergerei“ kritisiert, soll für das große und wirtschaftlich mächtige Deutschland nun nicht mehr gelten. Doch es wird nicht einfach sein, die Deutschen davon zu überzeugen. Deutschland war nie Weltmacht, und bevor es sich in diese Rolle einüben konnte, war es mit seinen Ambitionen bereits gescheitert. In zwei verlorenen Weltkriegen hat man hierzulande auf machtpolitisches (oder gar geostrategisches) Denken verzichten gelernt. So einfach wird es sich nicht wieder einüben lassen.
Wer mit den Rebellen auf dem Maidanplatz gefiebert hat, wird sich mit dem vorsichtigen Lavieren von EU und USA nicht anfreunden können. Doch was ist die Alternative? Man muss Putin entgegentreten? Ihn hindern? Die Instrumente zeigen? Vielleicht. Wenn man kann. Und solange man nicht seinerseits Geschichtspolitik betreibt.
Warum nicht abwarten, wie sich die Dinge in der Ukraine selbst entwickeln? Die Aufteilung des Landes nach dem Vorbild der Tschechoslowakei ist keine völlig abwegige Option. Und: auch moralisch oder menschenrechtlich begründeteter Interventionismus kann machtpolitisch missbraucht werden. Wo Moral vernebelt, sind Interessen durchschaubar. Weshalb die immer wiederkehrende missbilligende Frage, warum die USA hier, aber nicht auch dort interveniert haben, müssig ist: natürlich muss sich jedes militärische Eingreifen einbinden lassen in das mäßigende Gerüst von Interessenspolitik. Auch „die Guten“ greifen nur dort ein, wo es ihnen nützt. Und manchmal sind sie noch nicht einmal „gut“.
Was tun? Im Unterschied zu vielen gelehrten Ratgebern weiß ich es nicht. Außer: Nerven bewahren und alle Geschichtsbilder bannen, die sich allzusehr in den Vordergrund drängen.
Die Welt, 10. März 2014
Montag, 3. März 2014
Nebelwerfer 2
Mutig? Wer wäre es nicht gern! Wir alle wären von morgens bis abends die reinsten Mutbürger, hätten wir nicht mit profanen Dingen zu tun wie Geld verdienen und Steuern zahlen. In weiser Einschätzung der geringen Mutkapazität der Bürger kümmern sich daher professionelle Mutmacher in Politik und Medien um geeignete Themen, bei denen mutig beizupflichten allen leicht fällt.
Mutig „gegen rechts“ zu sein ist dabei die leichteste Übung, schon mit „Rock gegen rechts“ ist man dabei, manch einer seit Jahrzehnten. So billig kommt uns Widerstand nie wieder! Auch in den Kampf gegen Angstkrankheiten reihen wir uns gern ein: wir sind gegen „Homophobie“, „Xenophobie“, ja selbst gegen „Transphobie“ sollen wir sein, wie es der deutsche Koalitionsvertrag fordert, auch wenn wohl die wenigsten wissen, wovor sie da keine Angst haben dürfen.
Nun, wer an die Jubelchöre denkt, die angesichts des Coming-Out eines deutschen Fußballidols erschollen, dürfte begriffen haben: Mut lohnt sich! Immer. Es ist einfach zu schön, mit den richtigen und guten Einstellungen konform zu gehen.
Das ist ja der Sinn dieser Sorte Mut. „Mutmacher“ erzeugen Konformität. Mutig ist demnach, wer das Selbstverständliche im Brustton des Widerstands fordert. Das schafft Gemeinschaftsgeist, dessen Inhaltsstoffe die bestallten Mut- und Meinungsmacher in Politik und Medien vorsortiert haben.
Wirklichen, nonkonformen Mut braucht man heutzutage für ganz andere Sachen. Oder trauen Sie sich vielleicht, öffentlich gegen den beliebten „Kampf gegen rechts“ zu argumentieren, weil Sie glauben, dass auch „Irre“ – Zitat Joachim Gauck - und andere Menschen ein Recht auf ihre, wenn auch vielleicht blöde, Meinung haben? Na, sehen Sie!
Zugegeben, diesbezüglich Voltaire zu zitieren, ist zwar auch nicht sonderlich mutig: „Le droit de dire et d’imprimer ce que nous pensons est le droit de tout homme libre, dont on ne saurait le priver sans exercer la tyrannie la plus odieuse.“ Sich darauf verpflichtet zu fühlen, schon eher.
Nebelwerfer, Kolumne im Schweizer Monat, April 2014
Mutig „gegen rechts“ zu sein ist dabei die leichteste Übung, schon mit „Rock gegen rechts“ ist man dabei, manch einer seit Jahrzehnten. So billig kommt uns Widerstand nie wieder! Auch in den Kampf gegen Angstkrankheiten reihen wir uns gern ein: wir sind gegen „Homophobie“, „Xenophobie“, ja selbst gegen „Transphobie“ sollen wir sein, wie es der deutsche Koalitionsvertrag fordert, auch wenn wohl die wenigsten wissen, wovor sie da keine Angst haben dürfen.
Nun, wer an die Jubelchöre denkt, die angesichts des Coming-Out eines deutschen Fußballidols erschollen, dürfte begriffen haben: Mut lohnt sich! Immer. Es ist einfach zu schön, mit den richtigen und guten Einstellungen konform zu gehen.
Das ist ja der Sinn dieser Sorte Mut. „Mutmacher“ erzeugen Konformität. Mutig ist demnach, wer das Selbstverständliche im Brustton des Widerstands fordert. Das schafft Gemeinschaftsgeist, dessen Inhaltsstoffe die bestallten Mut- und Meinungsmacher in Politik und Medien vorsortiert haben.
Wirklichen, nonkonformen Mut braucht man heutzutage für ganz andere Sachen. Oder trauen Sie sich vielleicht, öffentlich gegen den beliebten „Kampf gegen rechts“ zu argumentieren, weil Sie glauben, dass auch „Irre“ – Zitat Joachim Gauck - und andere Menschen ein Recht auf ihre, wenn auch vielleicht blöde, Meinung haben? Na, sehen Sie!
Zugegeben, diesbezüglich Voltaire zu zitieren, ist zwar auch nicht sonderlich mutig: „Le droit de dire et d’imprimer ce que nous pensons est le droit de tout homme libre, dont on ne saurait le priver sans exercer la tyrannie la plus odieuse.“ Sich darauf verpflichtet zu fühlen, schon eher.
Nebelwerfer, Kolumne im Schweizer Monat, April 2014
Samstag, 1. März 2014
Nebelwerfer 1
Der Mensch steht im Mittelpunkt und darf damit als größtes Hindernis für klare Sicht betrachtet werden. Er ist nicht nur in aller Munde, jedenfalls der Politiker, er verursacht auch Gedrängel, weil seine Vertreter ihn unermüdlich abholen und in den Arm nehmen wollen. Wo vom Menschen die Rede ist, gebe man acht: seine Anrufung vernebelt alles, was Sache ist. Das ist natürlich Absicht. „Mensch“ erzeugt so ein schönes, warmes Gefühl, beginnt mit „M“ wie Mama und endet mit einem besänftigenden „Schschsch...“, mit dem man Kleinkinder zu beruhigen versucht. Mensch ist Nähe. Beim Kuscheln braucht es keinen Weitblick.
Dem Menschenbild vieler Volksvertreter zufolge ist der Mensch ein unreifes und hilfsbedürftiges Wesen, um das man sich unermüdlich kümmern muss. Daraus ist eine ganze Kümmerindustrie geworden, die auf höchstem Niveau professionelle Wärme verbreitet. Wer diese soziale Errungenschaft nicht hoch und heilig hält, verbreitet soziale Kälte. Und das ist, na klar, unmenschlich.
Unmenschlich – das ist so einer wie Thilo Sarrazin. Der sei gefühlskalt, hieß es in der Debatte über sein Buch „Deutschland schafft sich ab“, weil er „den Menschen“ auf Zahlen und Statistiken reduziere. Politiker brauchen keine Analysen, hielt ihm eine Politikerin entgegen. Denn sie kenne „meine Menschen“.
Und so löst sich die Wirklichkeit auf in ein menschliche Wärme erzeugendes Gekuschel und Gewimmel, in dem niemand mehr den Überblick hat, weil keiner den Kopf über die Menge zu erheben wagt. Das Menscheln ist der stärkste Nebelwerfer, über den die öffentliche Sprache verfügt, vor allem, wenn es sich auf höhere Moral beruft.
Als unmenschlich gilt, wer da nicht mitfühlen will. Doch was wäre das Unmenschliche am Menschen? Noch die größte Schandtat ist menschengemacht. Dem Menschlichen ist nichts Unmenschliches fremd.
Und deshalb bleibt der wahre Menschenfreund kühl und sachlich. Auf den Verstand kann man sich meist besser verlassen als auf das Gefühl.
"Nebelwerfer" heißt meine regelmäßige Kolumne im "Schweizer Monat", die erste erschien im Märzheft 2014.
Der Schweizer Monat ist eine ehrwürdige und zugleich überaus frische Angelegenheit - "freiheitlich, sachlich, mit Lust an der Debatte". Hier gibt es das "intellektuelle Knistern", das man in Deutschland nur noch selten findet.
Dem Menschenbild vieler Volksvertreter zufolge ist der Mensch ein unreifes und hilfsbedürftiges Wesen, um das man sich unermüdlich kümmern muss. Daraus ist eine ganze Kümmerindustrie geworden, die auf höchstem Niveau professionelle Wärme verbreitet. Wer diese soziale Errungenschaft nicht hoch und heilig hält, verbreitet soziale Kälte. Und das ist, na klar, unmenschlich.
Unmenschlich – das ist so einer wie Thilo Sarrazin. Der sei gefühlskalt, hieß es in der Debatte über sein Buch „Deutschland schafft sich ab“, weil er „den Menschen“ auf Zahlen und Statistiken reduziere. Politiker brauchen keine Analysen, hielt ihm eine Politikerin entgegen. Denn sie kenne „meine Menschen“.
Und so löst sich die Wirklichkeit auf in ein menschliche Wärme erzeugendes Gekuschel und Gewimmel, in dem niemand mehr den Überblick hat, weil keiner den Kopf über die Menge zu erheben wagt. Das Menscheln ist der stärkste Nebelwerfer, über den die öffentliche Sprache verfügt, vor allem, wenn es sich auf höhere Moral beruft.
Als unmenschlich gilt, wer da nicht mitfühlen will. Doch was wäre das Unmenschliche am Menschen? Noch die größte Schandtat ist menschengemacht. Dem Menschlichen ist nichts Unmenschliches fremd.
Und deshalb bleibt der wahre Menschenfreund kühl und sachlich. Auf den Verstand kann man sich meist besser verlassen als auf das Gefühl.
"Nebelwerfer" heißt meine regelmäßige Kolumne im "Schweizer Monat", die erste erschien im Märzheft 2014.
Der Schweizer Monat ist eine ehrwürdige und zugleich überaus frische Angelegenheit - "freiheitlich, sachlich, mit Lust an der Debatte". Hier gibt es das "intellektuelle Knistern", das man in Deutschland nur noch selten findet.
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