Sonntag, 30. Dezember 2012

Liberalismus - aber wo ist er?

Reminiszenz an einen deutschen Richter
Er war Landgerichtsrat in einer deutschen Kleinstadt, in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts, und dort als schnellster Scheidungsrichter bekannt. Denn die „Schuldfrage“, deren Klärung am meisten aufhielt, interessierte ihn nicht. Dort, in den untersten Schubladen einer Ehe, habe der Staat nichts zu suchen. Weshalb er den Paragraphen 218 (der Abtreibung verbot) ebenso ignorierte wie den Paragraphen 175 (der Homosexualität unter Strafe stellte). Mochte er Schwule und Lesben? Ganz und gar nicht, hätte er gesagt. Oder, lächelnd: kommt auf den Einzelfall an. Denn Sympathie war nicht das Thema. Es ging lediglich um die feste Überzeugung, dass der Staat sich ins Privatleben der Bürger nicht einzumischen hat.
War das „progressiv“? War er gar ein Linker? Fehlanzeige. Den idealistischen Ruf nach Gerechtigkeit konterte er mit einem kühlen „Gerechtigkeit gibt es nicht.“ Und vom Rechthaben und Recht behalten hielt er erst recht nichts. Was man in einem Rechtsstaat erwarten könne, sei Verfahrensgerechtigkeit. Und was man von einem Richter verlangen dürfe, sei ein Urteil – nach Recht und Gesetz. Mehr nicht – aber vor allem nicht weniger. Kurz: Der alte Richter vertrat klassische liberale Positionen. Seine Kinder hielten ihn für einen autoritären Sack.
Wofür man ihn wohl heute hielte, in einer Zeit, in der alle Welt nach Gerechtigkeit ruft, nicht nur zur Weihnachtszeit – und sich niemand mehr fragt, was das denn eigentlich ist? Seine Verachtung für diesen Begriff würde wohl gerade noch als konservativ durchgehen, mit größerer Wahrscheinlichkeit würde man ihn für einen Rechten halten. Diese Begriffsverwirrung hätte den Erzliberalen irritiert. Denn sein Plädoyer für den zurückhaltenden Staat richtete sich ja ebenso gegen den unterdrückenden. Dieser Wolf aber trägt heute einen blütenweißen Schafspelz.
Der betreuende Staat sieht sich nicht als Unterdrücker. Er meint es doch nur gut mit seinen Schützlingen, wenn er noch ihre privatesten Regungen kontrolliert! Rauchen schadet der Gesundheit, Essen und Trinken auch, da gibt es viel zu tun. Der deutsche Gesundheitsminister begann deshalb schon als unter 30jähriger durch viel Verzicht und viel Sport dafür zu sorgen, dass er im Alter niemanden zur Last fällt. Beispielhaft!
Aus reiner Fürsorglichkeit fordern Politiker Rauchfreiheit im öffentlichen Raum und die Lufthoheit über Kinderbetten gleich mit. Und der Bürger, der freie? Der hat sich daran gewöhnt, Objekt des Fürsorgestaates geworden zu sein.

Im Wärmestrom
Die Tyrannei der Intimität ist allgegenwärtig. Politiker verkünden mit heiligem Ernst, „die Menschen“ „an die Hand“ oder „in die Mitte“ oder gar „in den Arm“ nehmen zu wollen, um sie „abzuholen, wo sie stehen“. Gegen diesen Wärmestrom kann der Liberalismus nicht anschwimmen. Seine moralferne Regelorientiertheit gilt als kalt, sein Freiheitspathos ist des Egoismus verdächtig, und das Prinzip, dass, wer Risiken eingeht, für sie auch geradezustehen hat, klingt in Zeiten der kuscheligen „Rettungsschirme“, unter die Banken und Staaten „schlüpfen“ dürfen, geradezu weltfremd. Liberale Nüchternheit wirkt blass angesichts der allfälligen Sehnsucht nach Moral und Wellenschlag, da hilft auch nicht, wenn die deutschen Freien Demokraten in ihrer existentiellen Not den „mitfühlenden Liberalismus“ erfinden. Die anderen sind ihnen, was das Beteuern von „Wärme“ und „Menschlichkeit“ betrifft, weit überlegen. Das einzige, worauf sich Liberale in dieser Betreuungshölle beziehen können, ist ihre Ehrlichkeit: sie werben nicht mit nahezu religiösen Erlösungsversprechen.
Ist das ein deutsches Phänomen, das alte Fremdeln mit dem Liberalismus, das Ludwig Mises einst (1927) sagen ließ: „Der Hass gegen den Liberalismus ist das Einzige, in dem sich die Deutschen einig sind“? Ist deren „gefühlsbetonter Antikapitalismus“ schuld, der immer auch ein „unreflektierter Antiliberalismus“ sei, wie der erste deutsche Bundespräsident Theodor Heuss erkannte?
Offenbar nicht. Weltweit scheint der liberale Individualismus mit seinem Freiheitsverlangen auf dem Rückzug zu sein. In Frankreich ist mit Francois Hollande ein klassischer Vertreter des Fürsorge- und Verteilungstaats an die Macht gelangt. Der väterliche Staat, der benevolente Paternalismus ist unter Obama auch in den USA salonfähig geworden. Selbst die Schweiz, Bastion des freiheitsbewussten Bürgers, scheint sich der Umarmungsstrategie unserer Wärmeapostel nicht völlig entziehen zu können. Sie stellen die mächtigste missionarische Bewegung seit langem. Dazu passt die weltweit wachsende Anziehungskraft eines Islam, der die Gemeinschaft vor den Einzelnen stellt. Die im Westen als Freiheitsbewegung gefeierte Arabellion spielt mittlerweile überwiegend den islamischen Fundamentalisten in die Hände, die das Gegenteil von Freiheit versprechen.
Einen Liberalen wundert das wenig. Er wünscht, weder von einer Minderheit noch von einer Mehrheit unterdrückt zu werden. Wichtiger als die Demokratie ist ihm deshalb die Rule of Law, Rechtsstaatlichkeit, also verlässliche Institutionen und ein klares Regelwerk. Das aber gilt im gefühlsbesessenen politischen Diskurs als kalt, sofern es nicht mit „warmen“ Tugenden wie Solidarität und Mitgefühl unterfüttert wird.
Warum eigentlich? Die Gefühlsferne, die „Objektivität“ der Institutionen hat einen unschätzbaren Vorzug: sie sorgt weit besser als individuelles Mitgefühl dafür, dass auch dem miesesten Charakter geholfen wird, wenn er es nötig hat. Ihre Distanz kennt keine Vorlieben. Der umarmungsfreudigen Kuschelkultur aber fehlt genau jener Respekt, den zivilisierter Kontakt braucht. Es möchte nicht jeder sein Gegenüber „in den Arm nehmen“, mit dem er lediglich konfliktfreien Umgang pflegen will.

Liberalismus und Parteiendemokratie
In Deutschland mag es an der galoppierenden Sozialdemokratisierung der CDU liegen, dass die Freien Demokraten als liberale Partei unkenntlich geworden sind. Und vielleicht ist ja die FDP selbst daran schuld, dass von Liberalismus selten anders als höhnisch die Rede ist. Doch jenseits ihrer konkreten Erscheinungsform gibt es einige systematische Gründe dafür, dass der Liberalismus sich nicht mit der heutigen Form der Parteiendemokratie verträgt.
Jeder Spindoctor weiß: Wählerstimmen gewinnt man nicht durch Überzeugungsarbeit, sondern indem man Gefühle anspricht und Wahlgeschenke vergibt. Symbolische Politik ist dabei noch die kostengünstigste Weise, sowohl aufdringliche Lobbys als auch den gemütvollen Zeitgeist zu befriedigen. Beliebt ist das rein kosmetische Verfahren von Sprachregelungen, die gefühlten oder tatsächlichen Minderheiten schmeicheln. Fruchtbar auch die Forderung nach Frauenquoten, vor allem in Bereichen, in denen der Staat nichts zu sagen hat. Und immer wieder populär: der „Kampf gegen Rechts“. Soeben wird in Deutschland das Verbot der NPD betrieben, obzwar sich denken lässt, dass damit das Phänomen nicht verschwindet, sondern höchstens in den Untergrund gedrängt und damit unkontrollierbar wird.
Am wirkungsvollsten aber ist und bleibt die Ausgestaltung „sozialer Wärme“ durch entsprechende finanzielle Kuscheldecken. Das Betreuungsgeld, das Menschen erhalten sollen, die von einer staatlichen Leistung, nämlich Kinderbetreuungseinrichtungen, keinen Gebrauch machen wollen, ist ein schönes Beispiel dafür. Nach dieser Logik müssten sich auch jene, die andere subventionierte Institutionen wie Oper oder Theater nicht in Anspruch nehmen, ihren Verzicht bezahlen lassen. Aber um Logik geht es ja nicht, sondern um die Vergabe von „Wohlfühlgutscheinen des Sozialstaats“ (Rainer Hank), die sich im Wahlkampf bemerkbar machen soll.
Auch deshalb ist der Kampf gegen die Staatsverschuldung oder für eine wachstumsförderliche Steuersenkung vergebens. Wer gegen das „Betreuungsgeld“ einwendet, es sei doch insgesamt entschieden besser, Familien einfach weniger Steuern abzunehmen, sodass sie selbst entscheiden können, wie sie ihr Geld einsetzen, hat das Prinzip nicht verstanden. Die ehrliche Lösung würde ja die Illusion zerstören, dass der Staat seinen Bürgern etwas schenkt, und die hässliche Wahrheit entblößen: dass er seine Wohltaten aus den Steuern bestreitet, die er ihnen vorher abgenommen hat.
Dass ausgerechnet die Liberalen notorisch im Verdacht stehen, lediglich die Interessen ihrer Klientel zu bedienen, während alle anderen angeblich nur das Gemeinwohl im Auge haben, ist schon ein Witz. Warum sie sich dagegen selten selbstbewusst zur Wehr setzen? Weil sie Teil des Systems sind: wer das Spiel „wer fordert mehr soziale Gerechtigkeit“ nicht mitspielt, gerät ins Abseits.
Dabei waren doch einst die Liberalen die letzten Vertreter einer Parteilichkeit im hergebrachten Sinn: Sie vertreten die Interessen ihrer Wähler und beanspruchen nicht, statt dessen das Klima, die Natur oder gleich die ganze Welt zu retten. Interesse aber gehört zu jenen Begriffen, die im politischen Geschäft als „kalt“ konnotiert sind. „Interesse“ klingt nach Kalkül. Nach Rechenhaftigkeit. Nach kalten, nackten Zahlen. Nach unmoralischen, also niederen Beweggründen. Dabei ist es die ehrlichere Kategorie: „Furcht und Eigennutz“ (Heinrich Heine) machen menschliches Verhalten kalkulierbar, hinter der hochmoralischen Gesinnung hingegen kann sich alles verbergen, der historischen Beispiele sind viele.
Wer Interessen benennt, partikulare, natürlich, beendet das Versteckspiel hinter wolkigen Wohlfühlvokabeln und eröffnet das Spiel konkurrierender Interessen. Wer sich hingegen auf die Gattung beruft (die Natur, das Klima), macht sich unangreifbar. Das, nicht die Konkurrenz der Interessen, ist totalitär.

Weltretter und Gattungsvertreter
Wer das Gattungsinteresse hinter sich weiß, macht sich unangreifbar, unterläuft also die Konkurrenz der Partikularinteressen. Das hat große Vorteile, die schon die historische Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts erkannt hatte. Die Kommunisten haben das Prinzip im 20. Jahrhundert brutal perfektioniert. Die Grünen machten es später zum Erfolgsmodell, Angela Merkel könnte heute daran scheitern.
Einer der Gründungsväter der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, Ferdinand Lassalle, konnte kühn behaupten, die Arbeiterbewegung vertrete die Menschheit, weil er einfach 97 % der Menschheit zu den Arbeitern zählte. Mit der Menschheit aber kann man nicht verhandeln – und vor allem darf man sich nicht an ihr versündigen. Konkret hieß das: die SPD stand über den Parteien, war unangreifbar und für den Kompromiss, der aufs Aushandeln konkurrierender Interessen folgt, nicht zu haben. Auch das war Teil der Tragödie der Weimarer Republik.
Auch die Grünen haben sich zu Beginn als Nicht-Partei verstanden, da sie ja nicht parteilich seien – wer ist schon gegen die Natur? Doch schon lange tummeln sich hinter dieser ideologischen Nebelwand mächtige Lobbies, ja, ein ganzer ökologisch-industrieller Komplex, der von den Subventionen lebt, mit denen in Deutschland die im Alleingang beschlossene Energie“wende“ betrieben wird. Im Dienste der guten Sache werden Marktmechanismen ausgeschaltet und Steuergelder vergeudet.
Angela Merkel versteht sich zwar auf nationale Interessen, aber redet nicht gern darüber. Denn ins Geschichtsbuch kommt man nur mit größeren Sachen, und die deutsche Wiedervereinigung kann man leider nicht wiederholen. Der Kampf gegen die „Klimakatastrophe“ ließ sich zunächst gut an, die geht ja nun wirklich die ganze Menschheit an, oder? Doch „die Menschheit“ tagte und tagte und konnte sich so gar nicht auf „Klimaziele“ verständigen. Weil man nicht weiß, ob es einen Klimawandel gibt, und ob er, wenn ja, zur Katastrophe wird, und was man dagegen machen kann, sofern man sich nicht einfach darauf einstellen will, ist das Thema mittlerweile ins Hintertreffen geraten. Nun will die Bundeskanzlerin Europa retten, aber auch daran kann man scheitern, denn womöglich liegt es gar nicht im Interesse Europas, wenn der Euro, Banken oder fallierende Staaten gerettet werden.
Das alles sind Steilvorlagen für liberal Gesonnene. Warum also stellt sich der Liberalismus tot? Weil er den Mainstream und die „Moralkeule“ fürchtet?

Moral ist die brutalste Waffe
Wir leiden nicht an zu wenig, sondern an zu viel Moral in der Politik. „Je offensichtlicher man in der politischen Praxis gegen elementare Regeln gemeiner Rechts- und Moraltradition verstößt, um so intensiver wird die moralische Reflexion, die unter Berufung auf das höhere Recht einer ideologisch fortgeschritteneren Wirklichkeitsorientierung jene Verstöße zu legitimieren weiß.“ (Hermann Lübbe).
Im politischen Diskurs hat die moralisierende Argumentation mittlerweile zu einer schmerzenden Verrohung der Sitten geführt. Dem Gegner wird nicht mit Sachargumenten widersprochen, sondern man empört sich über seine Person; man hält seine Meinung nicht für legitim, sondern für den Ausdruck seiner moralischen Verkommenheit. Den Angriff ad hominem und den öffentlichen Pranger ertragen nur die Stärksten. Die Menschen mit dem guten Gewissen aber finden nichts dabei, etwa Thilo Sarrazin eine „lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur“ zu nennen oder sich zur Hoffnung zu bekennen, dass ihn ein Schlaganfall final ereilt. „Moral ist überhaupt die stärkste – sollte man sagen: brutalste oder vulgärste – Waffe der Gegner des Liberalismus.“ (Rainer Hank). Moralattacken enden mit dem Triumph der guten Gesinnung über die Gesetze des Verstandes. Es siegt der Tugendterror. Sind Liberale zu wohlerzogen, sich dagegen zu wehren?

Sternstunde des Liberalismus
Eigentlich könnte die europa-, ja weltweite Staatsschuldenkrise eine Sternstunde des Liberalismus sein. Es hat sich doch längst herumgesprochen, dass es nicht anonyme Kräfte wie „die Finanzmärkte“ sind, die an der Staatsverschuldung „schuld“ sind, sondern dass das Schuldenmachen politisch gewollt ist – um, natürlich, Gutes zu tun. „Die meisten Parteipolitiker“, sagt Peter Sloterdijk, „glauben an die wohlmeinende Kleptokratie.“ Und so wird auch heute nicht „gespart“, vor allem nicht in Deutschland, dessen Kanzlerin sich als Sparkommissarin gibt. Man verschuldet sich lediglich ein bisschen weniger, gibt also nicht ganz so viel von jenem Geld aus, das man nicht hat, sondern erst in späterer Zeit erwirtschaften (lassen) will. Und außerdem gibt es ja noch ein probates Mittel: Steuererhöhungen. Schließlich brauchen auch die Griechen unsere Hilfe und „Solidarität“. Wer wollte da kleinlich sein und darauf verweisen, dass der Bundeshaushalt aus den Steuern der Bürger besteht, die der Staat lediglich treuhänderisch verwalten soll? Und dass man Solidarität nicht mit fiskalischen Zwangsmaßnahmen herstellt?
Frankreich zeigt, wie es geht. Die Regierung Francois Hollandes treibt ihre Reichen mit exorbitanten Steuern außer Landes, etwa Gerard Depardieu, der sich nun schmollend nach Belgien zurückgezogen hat. Da muss jemand mal sehr genau nachgerechnet haben: Je mehr „Reiche“ aus der Bilanz gestrichen werden können, desto wohlhabender sind die Zurückbleibenden. Im Schnitt und relativ gesehen. Absolut allerdings wird niemand davon reicher.
Kann man noch darauf hoffen, dass endlich jemand die Nebelwand durchstößt und mit spitzem Finger auf die neuen Kleider des Kaisers zeigt? Der Parteienstaat hat bewiesen, dass er mit dem Geld seiner Bürger nicht umgehen kann. Ein liberaler Befreiungsschlag wäre, daraus die Konsequenzen zu ziehen. Wenn der Staat endlich wieder seinen Bürgern die Entscheidung überließe, was mit ihrem Geld geschieht, profitierte nicht nur die Freiheit. Sondern wahrscheinlich auch der Wohlstand.
Und wäre es nicht schön, wenn Leute wie Gerard Depardieu nicht nur in Belgien Asyl fänden? Der Mann gilt dort, wo er noch wohnt, in Paris, als Wohltäter, der anderen aus der Patsche hilft. Willkür des Vermögenden? Oder angesichts eines Staates, der das Geld seiner Bürger verschleudert, eine echte Alternative?
In: NZZ, 29. 12. 2012

Dienstag, 11. Dezember 2012

Päckchen nach drüben

Der Duft. Daran erinnern sich alle: wie es gerochen hat, als das Päckchen gepackt wurde, zu Hause, im Westen. Und welchen Duft es verströmte, wenn es endlich ankam – bei der Großmutter und den Tanten und Cousinen in Nordhausen im Harz. In der Zone. Ungeheure Weiten lagen damals zwischen Niedersachsen und Thüringen, da konnte es passieren, dass sich unter den intensiven Duft von Bohnenkaffee und Kakao und Schokolade und Seife der nicht weniger intensive von angeschimmelten Apfelsinen gemischt hatte. Da hatten es die in Niedersachsen besser, die auch was auspacken durften. Vielleicht war der Christstollen aus Dresden ein bisschen trocken geworden auf der langen Reise. Und der Tannenzweig nadelte. Aber da war ja noch Flüssiges, die Flasche mit dem Nordhäuser Korn und manchmal auch eine mit Danziger Goldwasser. Schnaps war reichlich, drüben. „Päckchen nach drüben“ gab es bei uns zu Hause jeden Monat. Aber zu Weihnachten machte die Sache am meisten Spaß, sogar die Kerze im Fenster für die Brüder und Schwestern in der Zone, in gedrechselten Holzständern aus der Behindertenwerkstatt, war dann keine Pflichtübung mehr. Auch nicht die Postkarten, die das Siegel „Mit dem Munde gemalt“ trugen. Und endlich zahlte sich die Zurückhaltung aus, in der sich die Kinder das ganze Jahr lang üben mussten: Nie wurde das Einwickelpapier zerrissen, in das ein Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenk gehüllt war. Wir alle waren Spezialisten im Aufknüpfen von Schleifen, und meine Schwester bügelte das Geschenkpapier, bevor es im „Päckchen nach drüben“ wieder zum Einsatz kam. „Drüben“ war das nicht anders. Jeder Bindfaden, jedes Papierchen wurde aufgehoben. Nachhaltigkeit war nichts, was man sich erst angewöhnen musste. In der Familie meiner Mutter war das „Päckchen nach drüben“ nie eine einseitige Sache gewesen, also auch keine Geste der Herablassung der von der Geschichte Begünstigten, und dass es sich um eine „Geschenksendung, keine Handelsware“ gehandelt hätte, stand zwar vorschriftsgemäß draußen auf dem braunen Paketpapier, wurde aber erst in den Jahren des Wirtschaftswunders wahr, in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. In der unmittelbaren Nachkriegszeit, seit meine Mutter 1947 Thüringen gen Niedersachsen verlassen hatte, entwickelte sich zwischen ihr und ihrer Mutter ein Tauschhandel mit klaren Bilanzen. Die Währung, die vom Westen nach Osten ging, hieß Bohnenkaffee und Fett: „Palmsonne“ nannte sich das Kokosfett, 1952 kam „Eigelb“ hinzu, ein „Spitzenerzeugnis der deutschen Margarineindustrie“, wie meine Mutter völlig ohne Ironie schrieb. 10 Pfund verschickte sie als Monatsration. Auch „Bommer“ oder „B.N.C.“ waren nicht für den Eigenbedarf gedacht, sondern zum Tauschen geeignet – Bommerlunder und Nescafé in der Büchse. Dafür versorgte meine Großmutter ihre älteste Tochter mit Kinderkleidchen, viel Selbstgestricktem und Waren, die in der Zone günstiger zu haben waren als im Westen: Schirme und Biergläser. Bücher. Regenmäntel und Taschen, die auch im Bekanntenkreis meiner Mutter Absatz fanden. Aus Igelit – ganz wie die Wachstuchtischdecken, die so praktisch und abwaschbar waren, eine schöner als die andere. Meine Mutter wusste nicht, was sie sich damit ins Haus holte und was sie an die Bekannten verkaufte. Aber wahrscheinlich wäre ihr das egal gewesen. Igelit wurde im vormaligen IG-Farbenwerk in Bitterfeld und in den Buna-Werken in Schkopau in großen Mengen produziert, ein Weich-PVC, das als Lederersatz für Schuhe („Im Sommer heiß, im Winter kalt“) und eben auch für Taschen und Regenmäntel genutzt wurde („Hast du Igelit im Haus, kannst du auch bei Regen raus“). Das Material strömte einen starken Geruch aus – „so roch die DDR“ – und war auch sonst nicht ohne. Der darin enthaltene Weichmacher gab eine Substanz ab, die Nervenlähmungen verursachen konnte. Schon 1950 schränkte man in der DDR die Verwendung ein, aber erst im Sommer 1952 verbot man auch die Produktion von Suppenwürze (Bino) und Brühwürfeln, die aus Abfallprodukten der Igelit-Herstellung gewonnen worden waren. „Ostzonen-Suppenwürfel bringen Krebs!“ titelte die Bild am 2. 8. 1952. Wir frühstückten am wachstuchbespannten Küchentisch also an einer Zeitbombe. Davon abgesehen war der Austausch mit den Verwandte drüben wenig problematisch. Der Mangel machte erfinderisch. Stoffe und Schnitte gingen hinaus – Mäntel und Kleider kamen zurück. Allerdings brauchte die Post in den 50er Jahren auch mal drei Monate, und dann war der Winter schon vorbei, für den die warmen Sachen gedacht waren. Meine Jugend verbrachte ich in Kleidung made in the GDR. Nur mein Vater verweigerte die guten wollenen Socken – man sei, schrieb meine Mutter im Sommer 1952, „doch schon recht verwöhnt hier drüben“. 1954 erließ die DDR-Führung eine „Verordnung über den Geschenkpaket- und -päckchenverkehr auf dem Postwege mit Westdeutschland, Westberlin und dem Ausland“, da man den Missbrauch des Paketverkehrs „zu Spekulationszwecken“ verhindern wollte. In jedes Paket gehörte eine Liste der enthaltenen Güter und auf jedem Paket hatte „Geschenksendung, keine Handelsware“ zu stehen. Den ostdeutschen Empfängern war der Verkauf oder der Tausch der empfangenen Waren untersagt, woran sich wahrscheinlich kaum einer hielt. Vor allem aber wurde die Menge jener Genussmittel beschränkt, an denen es in der DDR am meisten mangelte: Kaffee, Kakao, Schokolade und Tabak. Unsere Verwandten wiederum durften uns kein Porzellan oder Glaswaren mehr schicken, keine optischen Geräte, bis dahin ein absoluter Pluspunkt, und keine Kunstgegenstände und Antiquitäten, von denen man „drüben“ doch noch einiges hatte. Auch deshalb wurde der Austausch nun zunehmend einseitig. Im Westen tat man alles, um das Band zwischen Ost und West zu stärken. Das „Päckchen nach drüben“ war steuerbegünstigt, wofür man ebenfalls Listen führen musste - der Warenstrom von West nach Ost ist deshalb ausgezeichnet dokumentiert. Er nahm seit 1956 zwar leicht ab, stieg aber nach dem Mauerbau 1961 wieder steil an. Seit 1978 wurden regelmäßig zwischen 25 und 26 Millionen Pakete und Päckchen im Jahr aus der Bundesrepublik in die DDR geschickt. Aus der DDR kamen im gleichen Zeitraum jährlich um die neun bis elf Millionen Sendungen an. Die vielen gutgemeinten Appelle, die Brüder und Schwestern im Osten nicht zu vergessen, brauchten wir nicht. Für meine Mutter war das selbstverständlich. Wann aber begann das „Päckchen nach drüben“ Teil einer schleichenden Entfremdung zu werden? Wann empfanden sich die Verwandten im Osten in der Lage des ewigen Bittstellers, der sich mit den Brosamen vom Tisch der reichen Verwandten begnügen musste? Schon in den 60er Jahren geriet der rege Paketaustausch in Schieflage. Im Westen passierte das Wirtschaftswunder, im Osten übte man das Schlangestehen. Während man sich im Westen längst Luxusseifen leisten konnte – damals wurden die parfümierten Seifen von Roger Gallet Mode – kamen ins Ostpaket immer noch die gute Seife Fa, die erheblich billiger war. Erst nach der Wende ernteten wir spitze Bemerkungen dafür. Dabei waren wir völlig unschuldig: ins Paket kam, was auf dem Wunschzettel stand. Dass unsere Verwandten nichts anderes kannten als die gute Fa, kam uns wohl nicht in den Sinn. 1974 ging ein großes Kleiderpaket für eine meiner Tanten an uns zurück. Bis dato war es kein Problem gewesen, auch getragene Kleidung zu verschicken. Nun mussten alle Kleidungsstücke nicht nur luftdicht verpackt, sondern auch ordnungsgemäß entseucht werden, was das Leben ein wenig anstrengender machte, aber meine Mutter nicht hinderte. Die Unterstellung der DDR dabei, die bis heute kolportiert wird: die reichen Verwandten im Westen schickten ihre „abgetragenen“ Klamotten nach drüben, verdreckt, verfloht und verlaust. Wie oft das wirklich vorgekommen ist – wer weiß das schon zu sagen. In meiner Familie aber ist dokumentiert, dass die jüngere meiner Tante einst mit klassenkämpferischem Stolz eine Sendung mit eleganten Kleidungsstücken meiner Mutter zurückgewiesen hatte. Sie trage zu Hause nur praktische Sachen. Meine Mutter gestand, nicht wirklich reumütig, dass sie wohl „Attribute einer gewissen Wohlstandsgesellschaft“ verschickt habe und versandte im nächsten Paket Vistram-Hosen und Helanca-Pullover für die Kinder ihrer Schwestern, im Schlussverkauf günstig erstanden. Paradoxie pur: Ein ehemaliger Geschäftsführer einer sogenannten Westdeutschen Handelsagentur, die Textil-Geschäfte mit Osteuropa vermittelten, klärte mich darüber auf, dass die Helenca-Pullover und V-Hosen in der DDR gefertigt und dann "für einen Appel und ein Ei" in den Westen exportiert wurden. Dort wurden sie durch eine elfprozentige Steuerrückvergütung der Bundesregierung noch einmal subventioniert, was sie schließlich für den Schlussverkauf lukrativ werden ließ. Von dort fanden sie den Weg zurück - „entweder nach Anatolien oder in die DDR“. Von einem gleichberechtigten Austausch konnte nicht mehr die Rede sein. Ein Wunder also, dass die Beziehung zwischen Ost und West über vierzig Jahre lang, mit nicht geringem Einsatz auf beiden Seiten, aufrechterhalten wurde. Doch in nicht wenigen Familien kam 1989 die Stunde der Wahrheit. Viele der beschenkten „armen Verwandten“ im Osten hatten das Gefühl, immer nur von der Resterampe bedient worden zu sein. In vielen Westfamilien hatte man schon lange eine gewisse Anspruchshaltung gespürt. War man vielleicht all die Jahre über ausgenutzt worden? Verständnis für beide Seiten zu haben gelang nicht immer. Manch eiserne Familienbande zersprangen. Der private Austausch zwischen Ost und West hatte einen zwiespältigen Effekt: „Dein Päckchen nach drüben“ hat die DDR stabilisiert. Ihr Inhalt glich den ewigen Mangel aus, die private Einfuhr an Kakao etwa war noch 1986 fast doppelt so groß wie die Menge, die in den Handel kam. Und über die „Genex“ bereicherte sich das sozialistische System zusätzlich an der Hilfsbereitschaft aus dem kapitalistischen Westen: mit diesem Geschenkdienst konnte der BRD-Bürger seinen Brüdern und Schwestern Mangelgüter der DDR schenken und die überhöhten Preise mit Devisen bezahlen. Ohne die Hilfsbereitschaft des Westens wäre die DDR früher gescheitert. Daran aber haben die Menschen beim Päckchenpacken zuletzt gedacht.

Montag, 26. November 2012

Dümmer geht ümmer

Die Ziege war süß. Ohne sie wäre es glatt eine Kuhmödie geworden, der Jubiläumsmünstertatort zum 10. Geburtstag. Aber auch mit ihr war’s der schlappste „Tatort“ aus Münster seit dem Jahre 1. Witzischkeit hat schon mal besser ausgesehen. Warum haben sie sich das angetan, Axel Prahl als Hauptkommissar Thiel, Jan Josef Liefers als Rechtsmediziner Boerne und die wunderbare ChrisTine Urspruch als Boernes Assistentin? Bei einem sensationellen Marktanteil von 31,7 %, dem besten Ergebnis für den Tatort aus Münster, achwas: dem besten Ergebnis für eine Tatort-Folge seit 1978, haben mithin 12,11 Millionen Zuschauer mitgekriegt, dass Drehbuch, Regie und Schnitt zum Traumduo Boerne und Thiel nichts mehr eingefallen ist. Eigentlich will man ja nicht kleinkariert sein und dem „Wolbecker Wunder“ vorhalten, was ihm schlechterdings nicht vorzuwerfen ist – Wunder sind immer unwahrscheinlich und was hat ein Fernsehkrimi schon mit der Realität zu tun? Die Münsteraner sind Publikumslieblinge, weil das Zusammenspiel zwischen dem prolligen Thiel und seinem manierierten Vermieter Boerne voller Sprachwitz und Spiellaune ist, weil die Nebenfiguren schon fast Hauptfiguren sind, wie „Alberich“ Urspruch oder Thiels Hippievater, der ewige Taxifahrer. Wer noch dem lahmsten Kalauer und dem plattesten Klischee soviel Drall geben kann, dem verzeihen wir vieles. Aber man kann die bedingungslose Liebe des Publikums auch überstrapazieren. Auf dem Tatort-Forum www.tatort-fundus.de sackte das „Wunder von Wolbeck“ auf Rang 831 ab. Verdient. Mal ehrlich: soviel Pfau war nie. Und so viel Verstoß gegen Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit auch nicht. Und wenn dann die Witze nicht mehr richtig witzisch sind - dann werden wir Zuschauer eben doch kleinkariert. Das Wunder von Wolbeck ist vor allem, dass sich hochgestylte Damen aus aller Welt mit dem Taxi (gefahren von Vater Thiel) vom Flughafen Düsseldorf ausgerechnet zu einem Heilpraktiker auf plattestem Lande kutschieren lassen, um sich einen Kinderwunsch erfüllen zu lassen. Gibt’s da echt keine besseren Adressen? Und dann, shit happens, liegt der Wunderheiler auch noch tot im Wohnzimmer, die Tatwaffe ist offenbar ein Siegelring, den Abdruck hat er unübersehbar im Gesicht. Was für eine faszinierende Spur. Die führt zu Bauer Kintrup, der so schwächelt wie sein Zuchtbulle, weshalb er berechtigte Zweifel an der eigenen Vaterschaft hegt, sprachlos leidend, wie Männer und Bauern nunmal so sind. Kintrup ist die Parodie eines Bauerntrottels – doch so doof kann niemand sein, der über eine riesige Rinderherde samt Ziegenvolk gebietet (ja, man sagt Rinder, nicht Kühe, sofern es sich nicht ausschließlich um letztere handelt), um die er sich auch noch im Alleingang kümmert. Kein Wunder, dass er keine Zeit hat für seine polnische Milena, die topgefärbt und supergeschminkt ihren Kinderwagen durch die Gegend schiebt, wofür sie auch keine Zeit hätte, wäre sie eine echte Landfrau. Der Wunderheiler ist natürlich keiner, er kriegt die Frauen auf bewährte Weise schwanger, die auch Bauer Kintrup kennen müsste: durch Insemination. Das Ausgangsmaterial dafür liefern ihm die drei dumpfbackigen Gebrüder Krien, die bräsig am Tresen ihrer Dorfkneipe lehnen, eine der realistischeren Requisiten: ja, so schlimm sind manche Dorfbeizen wirklich. Warum Raffael (welch sprechender Name!) Lembeck im Falle der Milena Kintrup eine Ausnahme macht und seinen eigenen Stoff nimmt, bleibt unklar. Die nächstliegende Weise streitet die tugendhafte Polin ab. Doch dass Raffaels Witwe, die unentwegt und doppelkinnschwer grimassierende Stella (gespielt von Lina Beckmann), den kleinen Kintrup junior irgendwann entführt, ist zwar vorhersehbar, aber deshalb nicht plausibler. Da hilft auch nicht, dass Bauer Kintrups Mutter von altem Adel ist, was den Siegelring erklärt. Und dass sie ein schweres Schicksal hatte. Na klar. Was also sagt uns die hohe Einschaltquote, auch bei Menschen zwischen 14 und 49 Jahren? Dass wir es gerne immer blöder, immer dümmer, immer witzischer hätten? Dass kein gutes Buch im Haus war? Dass wir nach dem Formel 1-Finale einfach an der Glotze hängen geblieben sind? Oder dass uns nicht nach Rosamund Pilcher war (zeitgleich im ZDF)? Ein Zyniker vermutet, dass die Fans von Thiel und Boerne die Vorschussverrisse gelesen haben und nun selbst dabei sein wollten, während ihre Helden scheiterten. Mag sein. Aber die ARD wird im Zweifel den falschen Schluss daraus ziehen, bauernschlau wie im Wunder von Wolbeck: Dümmer geht’s ümmer. Welt Online, 26. 11. 2012

Samstag, 24. November 2012

Der englische Freund

Nach der ersten Fernsehdebatte zwischen Barack Obama und Mitt Romney rätselten Moderatorin und Korrespondentin eines öffentlich-rechtlichen Rundfunksenders: „Was hat Obama falsch gemacht?“ Keine der Damen stellte die Frage, was Mitt Romney richtig gemacht haben könnte. Republikaner gelten hierzulande als dumm und dumpf, deren Wähler als kaltherzige Scheusale zwischen Rednecks und Ku Klux Klan. Die deutsche Obambimanie hingegen kennt keine Grenzen. Sie wird höchstens noch übertroffen vom Eifer, mit dem das kommentierende Moralgeschwader die USA herunterzuschreiben pflegt. Irgendein Hellseher findet sich immer, der den Untergang Amerikas weissagt, meist mit jenem leicht triumphierenden Unterton, den ein Kulturmensch gegenüber ungehobelten Barbaren anschlägt. Die mit ihren riesigen Portionen, großen Autos und all den Klimaanlagen – das kann ja nicht gut gehen! Dass die USA sich nun neue Energieressourcen erschlossen haben, die sie auf einem restriktiven Markt autark machen könnten, dürfte das Bild nicht lange stören. In Deutschland denkt man dabei nicht an das, was Reichtum schafft, nämlich an die produktive Industrie, für die preiswerte Energie Lebenselixier ist, sondern an die schädlichen Folgen des Wachstums. Jetzt kann man erst recht amerikanische Verschwendungssucht geißeln, diese seelenlose Gier nach Wohllebe, die fett, faul und verfressen macht. Wir hingegen – die Energiewende – vorbildlich! Und sollte sich Amerika mit seiner billigen Energie reindustrialisieren, während die deutsche Wirtschaft an hohen Energiekosten zugrundegeht, haben wir wenigstens ein gutes Gewissen. Es ist schon seltsam, wie viele Klischees im Umlauf sind, wenn es gegen die USA geht. Man fühlt sich an alte Zeiten erinnert, als Deutsche mit Thomas Mann ihre tiefere Kultur der seelenlosen Zivilisation der angelsächsischen Welt entgegenreckten, die man für oberflächlich hielt, weil dort das Einhalten der Regeln mehr gilt als das Vorzeigen der richtigen Moral. Die deutsche Vorliebe für Obama, der Wärme verströme, während man dem reichen Mitt Romney soziale Kälte attestiert, passt zur weit verbreiteten Sehnsucht nach der guten Mutter Staat. Die nimmt den Reichen und gibt den Armen, egal, ob dabei die Kuh geschlachtet wird, die man doch melken will. Sie beschützt die Bedürftigen und Hilflosen, offenbar die Mehrheit der Bevölkerung. Sie teilt ein und aus und um, als ob sie das Füllhorn selbst bestückt hätte, das sie insbesondere zu Wahlzeiten auszuschütten pflegt. Ob Obama tatsächlich die Möglichkeit erhält, als “linker“, als „sozialer“ Präsident seine zweite Amtszeit zu beschließen, sei dahingestellt. Für viele Deutsche aber steht er just für das, was sie selbst für das wichtigste halten – für eine barmherzige, großzügige, fürsorgliche Mutter Staat. Mitt Romney hingegen verkörpert das „alte“ Amerika – das Land schusswaffentragender Misanthropen, also ein irgendwie zurückgebliebener Wilder Westen, wo jeder für sich selbst und die Seinen sorgt, bevor er an andere denkt. Das „alte“ Amerika aber war und ist zugleich das immer wieder neue – ein Land der dickköpfigen, eigensinnigen, unabhängigen, selbstbewussten und freiheitsliebenden Bürger. The land of the free. Die weitgehend verstandesarme Begeisterung für Barack Obama zeigt, dass uns diese zutiefst angelsächsische Welt immer ferner rückt. Dabei fehlt sie uns mehr denn je. Dass Großbritannien sich aus dem Europa der EU mehr und mehr entfernt, ist nicht nur ein ökonomisches und politisches Drama. Wer ein Europa möchte, das wirtschaftlich konkurrenzfähig ist, kann auf Großbritannien (und andere Nordlichter) nicht verzichten. Wer den liberalen Geist schätzt, der keine Gesinnungsfragen, sondern das rule of law an die erste Stelle setzt, ebensowenig. Und erst recht, wer Freiheit für wichtiger hält als Sicherheit, Selbstbestimmung für elementarer als die staatlich organisierte Fürsorge. Und kulturell? Gewiss, Großbritannien ist ein eigenartiges Land. Dort wohnen Menschen, die voller Inbrunst nationalstolze Lieder grölen, in denen von Macht und noch mehr Macht die Rede ist: Rule Britannia! Zu Tausenden singen sie, bester Stimmung, von der Freiheit und dass sie niemals, nie und niemals Sklaven sein wollen – auch nicht die des benevolentesten aller Herrscher. Auch nicht des fürsorgenden Staates. Auch nicht der EU und ihrer Bürokraten. Auf den britischen Inseln gehört der Eigensinn zur gefeierten Tugend. Hier, wo das Bier schlapp in die Gläser fällt, der Minirock erfunden wurde und der Mersey Beat zu Hause war, liegen die Traum- und Sehnsuchtsinseln mehr als einer Generation Deutscher. Womit haben wir, die wir mit den Beatles oder den Stones oder dem Britpop der 70er und 80er Jahre aufgewachsen sind, verdient, dass diese Inseln Tag für Tag ein wenig ferner rücken? Es waren die Mode und die Musik der Freiheit, die von Großbritannien aus über den Kanal nach Deutschland schwappten, damals, in den 60er Jahren, und das war wichtiger als alles, was die Ideologen der Studentenbewegung später verkündeten. Was hat demgegenüber die deutsch-französische Freundschaft zu bieten? Rotwein, Käse und Baguette? Die Baskenmütze und das Chanson? Gewiss. Doch die kulturelle Distanz zu Frankreich ist im Laufe der Jahre nicht geringer geworden, im Gegenteil. Die westdeutschen Nachbarn Frankreichs sprechen zumeist Englisch, nicht Französisch. Die Franzosen hingegen sind dafür bekannt, dass sie nicht eine einzige Fremdsprache beherrschen – manche von ihnen leben noch immer, voller Charme, zugegeben, in jener längst verblichenen Zeit, als das Französisch die Sprache der besseren Stände und der Diplomatie war. Selbst in kulinarischen Angelegenheiten ist Frankreich nicht mehr Meister. Die Deutschen machen schon seit langem wieder großartige Weine und die Briten lernen kochen. Und so sehr das Unausprechliche noch immer zwischen uns steht – „don’t mention the war!“ – let’s drink auf die deutsch-britische Freundschaft. Die Insulaner haben etwas, das wir gut gebrauchen können, und zwar jetzt, in einem Moment, in dem der Euro die Europäer auseinanderdividiert. Sie haben ein Gefühl für Eigenart. Sie wissen um den Wert der Freiheit. Britons never ever will be slaves. Die Welt, 20. 11. 2012

Dienstag, 20. November 2012

Raum für Zettels Traum

Die Blogosphäre kennt nur wenige wie ihn: "Zettel" ist das Pseudonym eines der produktivsten deutschen Blogger, der in "Zettels Raum" fast täglich das Weltgeschehen und die deutsche Befindlichkeit kommentiert. Auch wenn die "Achse des Guten" weit vorn liegt – "Zettel" kommt gleich dahinter, ein Einmannbetrieb mit wenigen Helfern. Nur per Mail ist das Interview mit dem Mann möglich, der auf seine Anonymität Wert legt. Die Welt: Warum wollen Sie, der eremitierte Hochschullehrer, nicht sagen, wer Sie im bürgerlichen Leben sind? Z: Eremitiert triffts ganz gut … Oder meinten Sie …? Die Welt: Emeritiert, natürlich. Z: Fängt ja gut an. Die Welt: Heißt ja auch "Zettels Raum". Da kann man sich schon mal verzetteln, oder? Überhaupt: Was treiben Sie da? Posten Sie Ihren erweiterten Zettelkasten? Ist der Raum ein Traum, befindet er sich im Himmel oder in der Hölle? Z: Im Untertitel von "Zettels Raum" steht "Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt". So heißt ein Hauptwerk des großen deutschen Aufklärers Christian Wolff, erschienen 1720. Ich glaube nicht, dass die Erde eine Hölle ist, und ich glaube erst recht nicht, dass man den Himmel auf Erden schaffen kann. Aber an die Kraft der Aufklärung glaube ich schon. Ein bisschen stelle ich mir "Zettels Raum" wohl wie einen virtuellen Hörsaal vor. Mehr lesen: Die Welt vom 20.November 2012

Samstag, 3. November 2012

Das Gefühl sagt nein

74 Prozent der Deutschen sind dafür. Was sollen sie auch sonst sein? Es gibt keine Argumente gegen eine Organspende. Keine vernünftigen, aufgeklärten jedenfalls. Nichts spricht dagegen, sich im Falle des eigenen Todes in seine Einzelteile zerlegen zu lassen und die brauchbaren Teile einem Menschen zur Verfügung zu stellen, der damit noch ein paar gute Jahre hätte, oder? Also! Wer zögert, entblößt sich als Egoist. Und wer will schon egoistisch sein, zumal im Land der Hilfsbereiten? Doch wenn es darauf ankommt, kommen keine 74 % zustande. Spaßvögel bemühen die Ausrede, man könne seine Leber oder Lunge keinen Empfänger mehr zumuten, nachdem man sie jahrelang missbraucht hat. Darüber lacht der Spaßvogel spätestens dann nicht mehr, wenn der erste Talkshowgast öffentlich fordert, dass jeder Mensch unter 60 seine Organe für den Fall des Falles gesund und sauber zu halten hat. Die Damen und Herren in der grünen Chirurgenschürze haben für derlei Ausflüchte eh nur ein müdes Lächeln übrig. Oder ein herzhaftes „Irgendwas Brauchbares findet sich immer!“ Organspender kann jeder werden, da muss man kein Führerscheinneuling oder Motorradfahrer mit Selbstüberschätzung sein. Nur im multimorbiden Zustand darf die Leiche intakt ins Grab sinken oder ins Feuer gehen. Ansonsten: Aufschneiden! Das ist jetzt vielleicht ein bisschen brutal formuliert, aber mal ehrlich: So oder so ähnlich sehen die Phantasien aus, die niemand gern zugibt. Der Verstand sagt, dass (Hirn-)Tote keinen Schmerz kennen und keine Verlustangst haben. Nichts einfacher, als sich per Erklärung zu Lebzeiten von Dingen zu trennen, die man zwar mit in den Sarg nehmen kann, wo sie aber nur die Würmer füttern. Warum aber sträuben sich auch Vernunftbegabte gegen diese scheinbar so geringfügige Zumutung? Woher die Scheu davor, sich zugunsten eines notleidenden Menschen von etwas zu trennen, das man nicht mehr braucht, und sei es nur die Augenhornhaut? Warum, mit anderen Worten, sagt die Vernunft ja und das Gefühl nein? Wohl nicht, weil man fürchten müsste, die Sektion bewusst erleben zu müssen, weil ein Arzt sich bei der Feststellung des Hirntodes geirrt haben könnte. Die in vergangener Zeit verbreitete Angst davor, lebendig bestattet zu werden, hat sich mit der Entwicklung der ärztlichen Kunst ja auch gegeben. Nur wenige Menschen glauben an die eigene Wiederauferstehung. Oder daran, dass man dafür die intakte sterbliche Hülle benötigte. Es geht womöglich auch gar nicht um das Verhältnis zum eigenen Tod, dass es vielen erschweren mag, sich bereits zu Lebzeiten mit etwas einverstanden zu erklären, was, im kalten Licht betrachtet, auf eine Verstümmelung des eigenen Körpers hinausläuft. Es geht um das Verhältnis zum Tod an sich. Da ist etwas tief im Menschen verankert, etwas Archaisches, mit dem man rechnen sollte, damit es einen nicht hinterrücks und unerkannt überfällt und die Vernunft besiegt. In den meisten Kulturen soll der tote Leib, die weltliche Hülle, unversehrt bestattet werden, und wenn das nicht möglich ist, so sollen doch alle Teile mit ins Grab. Warum wohl hat Antigone alles daran gesetzt, den Leichnam ihres Bruders Polyneikes unter die Erde zu bringen, den König Kreon den wilden Tieren zum Fraß überlassen wollte? Den Feind entehrt man, indem man ihm die Bestattung verwehrt, und sei es auch nur die Beerdigung seines Hauptes, das, aufgespießt auf der Burgmauer, zum Fraß der Raben wird. Totenschändung gehört zum Dramatischsten, was die Menschheitserzählungen zu bieten haben. Die ägyptischen Pharaonen wurden zwar, um sie konservieren zu können, ihrer Organe beraubt, doch auch die wurden bestattet. Die Österreicher haben ihren Herrschern das Herz entnommen und getrennt vom Leib aufbewahrt. Vielleicht wollte das Volk den Habsburgern die Wiederauferstehung erschweren. Aber sie haben sie ihnen nicht unmöglich gemacht. In Israel sorgen orthodoxe Juden nach Terroranschlägen dafür, dass alle, auch die kleinsten Leichenteile der Opfer geborgen werden. Ohne Leichensektion hätte sich die Medizin nicht fortentwickelt. Aber bis ins Mittelalter war sie verpönt. Und heute? Viel spräche für kühle Rationalität. Die Erdbestattung braucht viel Platz, sie gerät mehr und mehr aus der Mode. Anonyme Urnenbestattungen nehmen zu. Und kommt es darauf an, dass sich in der Asche auch die sämtlicher Organe widerfindet? Überhaupt, angesichts des Trends zum Billigsarg, den Bestatter bereits vermelden: Was spräche dagegen, die Toten im Urzustand, vielleicht gerade noch von einem Tuch verhüllt, zur Asche werden zu lassen? Unser Gefühl spricht dagegen. Ganz einfach. „Organspende schenkt Leben.“ Wie wahr das ist. Und genau deshalb sollte man die heilige Scheu vor dem toten Leib nicht übersehen. Vielleicht braucht es ein neues Ritual, das beides würdigt: das geschenkte Leben ebenso wie das Opfer, das unsere Vorstellungen von Würde und Ehre der Toten dafür bringen.

Donnerstag, 25. Oktober 2012

Ein Freibier für die Energiewende!

Eine „Energiewende- und Baustellenparty“ klingt lustig. Also auf nach Ulrichstein, zum Fassanstich! Dort, „Auf der Platte“ ist vor fast 20 Jahren Hessens erster Bürgerwindpark gegründet worden. Mittlerweile hat der Zahn der Zeit ein „Repowering“ erforderlich gemacht. An die Stelle von 13 technisch veralteten Anlagen werden sieben neue treten, Riesen von 138 Metern Nabenhöhe, die das Fünffache liefern sollen – und das muss gefeiert werden. Vielleicht feiert manch einer auch, dass nun sechs weniger in der Landschaft stehen und dass man die Giganten offenbar wieder abbauen kann. Denn womöglich entpuppen sich die Betonmassen als ein weiterer Irrtum der Geschichte. Oder der Politik. Von hier oben ist der Ausblick atemberaubend. Der Vogelsberg, Naturschutzgebiet um einen alten Vulkan, leuchtet in der Abendsonne. Bewaldete Höhen, eine menschenleere Idylle, wären da nicht die Windräder am Horizont, um die 200 bislang. Sie bestimmen mittlerweile die Skyline, es gibt kaum einen Ort, von dem aus sie einem nicht entgegenspitzen, die Spargel mit ihren träge kreisenden Rotorblätter. Und kaum hat man mal eine Weile nicht hingeschaut, gibt es schon wieder neue. Der Vogelsberg – das ist Oberhessen, nahe an Thüringen, nahe also an der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Keine von Sonne, Wärme und Kulinarik beglückte Landschaft. Klima und Bevölkerung verbieten viele der bukolischen Vergnügungen, die der Süden Hessens zu bieten hat: kein Wein, wenig Gesang. Hier herrscht Viehwirtschaft, nachdem es mit dem Bergbau vorbei ist. Und wenn gefeiert wird, dann das Kartoffelfest. Oder das Backhausfest, bei dem es Schmierschel- oder Salzekuchen gibt. Oder das Mähdrescher-Blinklichtfest. Immerhin veranstaltet die Dorfjugend BuMs-Partys, die nicht das sind, wonach sie klingen. Aber ansonsten tanzt hier die tote Hose. Eine arme Gegend, eine großartige Landschaft. Ideal für den Schwarzstorch und den roten Milan. Und für das Rehkitz. Das Rehkitz ist irgendwie der Star des Abends, direkt nach Bier und Worscht. Die OVAG, der oberhessische Energieversorger, wirbt mit einem rührenden Bild, auf dem ein blondes Pferdeschwanzmädchen Nase an Nase mit einem niedlichen Bambi zu sehen ist, flankiert von einem Storch. Denn was erzeugt ein modernes Energieunternehmen heutzutage? Nicht nur Wärme und Strom, nein: Zukunft. Und das alles ist gut für die Natur. Der Vogelsberg soll zur Musterregion werden, soll Ökonomie und Ökologie verbinden, Arbeitsplätze schaffen, die Natur schützen und die Energiewende vollziehen. So steht es in einer Broschüre, die eine „Klimaschutz- und Energieagentur Mittelhessen e. V.“ vertreibt. Der Fotograf, der für das traumschöne Titelbild zuständig war, dürfte lange gesucht haben, um ausgerechnet die Perspektive zu finden, von der aus keine Windanlage zu sehen ist. Arbeitsplätze kann man hier brauchen. Die Landwirtschaft lohnt sich schon lange nicht mehr. Viele Nachbarn pendeln nach Gießen oder nach Frankfurt. Die anderen haben die Milchkühe gegen Schweinemastanlagen getauscht, die können den Mais gebrauchen, der hier mittlerweile überwiegend angebaut wird. Den Rest frisst die Biogasanlage: in Unterseibertenrod steht eine. In Atzenhain. Jede braucht mindestens 80 ha Mais und Grünschnitt, ein gigantischer Flächenverbrauch. Dann lieber Windkraft, sagt der Bürgermeister von Mücke, Matthias Weitzel. Die schafft Arbeitsplätze, jedenfalls ein paar: für die Wartung. Von Photovoltaik hält er nichts, auch, weil die Sonnenausbeute in dieser Region nicht sonderlich groß ist. Und doch gibt es reichlich Sonnenkollektoren auf den Scheunendächern. Nicht wegen der Sonne, sondern wegen der hochsubventionierten Einspeisevergütung. Rechnen können sie, die Vogelsberger. Und nur Menschen mit Neidkomplex würden ihren Nachbarn vorhalten, dass er auf ihre Kosten die Volksrepublik China unterstützt. Bedenkentragende Menschen mögen fragen, ob sich vielleicht auch die Windkraft nur lohnt, solange sie subventioniert wird. Und was ist mit dem Tourismus, hier, in einem der schönsten Naturschutzgebiete Deutschlands? Mal ehrlich: Tourismus gibt’s hier nicht. Weder mit noch ohne verspargelter Skyline. Windkraft, sagt Matthias Weitzel, gehört in kommunale Hand, damit auch die Gemeinde etwas davon hat und nicht windige Investoren das Geschäft machen - „mindestens einmal die Woche“ rufe jemand aus Hamburg oder sonstwo an und wolle ins Geschäft einsteigen. Sollen also die Gemeinden vom Boom profitieren. Aber wie? Die Rotoren müssen dort gebaut werden, wo sie effizient sind, nicht, wo der Grund und Boden den Gemeinden gehört. Und wieso boomt es hier überhaupt? Der Vogelsberg ist nicht unbedingt die Gegend Hessens, in der der Wind am ertragreichsten weht. Der Taunus ist entschieden ergiebiger. Die Rhön ebenfalls. Oder der Lahn-Dill-Kreis. Warum also gibt es Menschen, die den Vogelsberg gleich mit 1600 Riesenrotoren vollstellen wollen? Weil hier nur 110 000 Menschen wohnen? Als der Landrat noch Rudolf Marx von der CDU hieß, ging es wesentlich zurückhaltender zu. Marx legte schon mal 17 Anlagen gleichen Typs still, als in Kirtorf ein Mast umknickte. Doch seit Juni 2012, mit Landrat Manfred Görig von der SPD, geht es in Riesenschritten voran. Oberhessen ist vorn: Im Vogelsberg stehen bereits heute 73 % der allein im Regierungsbezirk Mittelhessen installierten Anlagen, hier wird ein Drittel der hessischen Windenergie produziert. Warum hier? Warum nicht im Taunus? Im Taunus gibt es Leute, die sind reich an Geld oder Einfluss. „Die Menschen im Vogelsberg werden vergessen“, sagt Anneliese Brunn, für die CDU Mitglied in der Gemeindevertretung Mücke. Es sind ja nur so wenige. Wer Pacht von den Anlagenbetreibern kassiert, kann sich zurücklehnen. So 30 000 Euro pro Anlage oder mehr ist eine schöne Sache für Landwirte, die sich mit Viehwirtschaft auf Feldern und Wiesen krumm und bucklig gearbeitet und kaum was damit verdient haben. Doch deren Interessen sind nicht unbedingt die ihrer Nachbarn, die mit einem Wertverlust ihrer Wohnimmobilien rechnen müssen. Die Betreiberin von „Schattengrenze“ in Elbenrod (ca. 400 Einwohner) fürchtet sich vor dem langen Schatten, den die Großanlagen werfen, vor Disco-Effekt und Nachtbefeuerung. Aber ist Windkraft nicht immer noch besser als Atomkraft? Gewiss, doch auch in Burkhards bei Schotten etwa, wo der Schauspieler Edgar M. Böhlke lebt, ist man wenig begeistert. Die Bürgerinitiative „Gegenwind Vogelsberg“ fürchtet die „Goldgräberstimmung“, die einige Windkraftbefürworter in hektische Eile versetzt habe. Der Ortsvorsteher von Betzenrod (um die 650 Einwohner) fordert erstmal eine Wirtschaftlichkeitsberechnung. Auch die BI „Schöner Ausblick“ bei Alsfeld beklagt das „Schönrechnen“ der Projektemacher. Denn wer weiß, ob sich die Investition in Windkraft auch nach dem Auslaufen der staatlichen Anreize in 15 Jahren noch lohnt. Die europäische Energiekommission jedenfalls will die Subventionierung auch gegen Deutschlands Widerstand beenden. Und dann? Wie baut man die riesigen Stahlbetonmassen zurück, auf denen die Windgiganten stehen? Und dann ist da noch was. Die Fauna. Nicht nur das Rehkitz, sondern auch der Schwarzstorch und die Bechsteinfledermaus. Und vor allem: Was hält der Rotmilan von alledem? Der Rotmilan, auch Gabelweihe genannt, ist ein seltenes Tier, das sich im einsamen Vogelsberg wohlfühlt. Bislang jedenfalls. Doch 82 % der für Windkraft geeigneten Flächen liegen im Wald, dort, wo der Rotmilan jagt. Was tun? Joachim Wierlemann ist Vogelschutzbeauftragter von Biebertal-Frankenbach und als solcher für den „Schutz von ökologisch wertvollen Biotopen“ zuständig. Zugleich ist er Landesvorstand Hessen des BWE, des Bundes Windenergie, also ein Lobbyist. Aber auch das dient ja nur der Natur und dem Klima, sagt er jedenfalls. Von 10 000 Rotmilanbrutpaaren, rechnet er vor, sind in den letzten 15 Jahren nur 9 tot gefunden worden. Und das Schwarzstorchvorkommen im Vogelsberg, das größte überhaupt, habe sich prächtig entwickelt – im Einklang und im Takt mit den Windkraftanlagen. Auch Bürgermeister Weitzel hat noch nie einen toten Vogel unter einer Windkraftanlage liegen sehen. Und im übrigen sind ihm die Interessen der Menschen hier wichtiger. Schließlich ist kaum eine technische Großanlage für ihre Schönheit bekannt. Und sollte man vielleicht eine Mauer um unseren Vulkan ziehen und ein Pumpspeicherwerk draus machen? Na also. Wie es den Zugvögeln ergeht, die Jahr um Jahr über ein Gebiet ziehen, das von immer mehr und immer höheren Rotoren verstellt wird, weiß noch niemand zu sagen. Bei 1 600 Windsammlern wären 2 tote Vögel pro Jahr jedenfalls eine bedrohliche Strecke. Dass die sogenannte Energiewende weder durchgerechnet noch zuendegedacht ist, weiß hier jeder. Die Bundesbürger finden Windkraft toll, mögen aber keine Überlandleitungen. Und natürlich auch keine Gas- und Kohlekraftwerke, für die Grundlast. Doch die sind sowieso nicht mehr rentabel, weil die „grüne“ Energie vorrangig eingespeist werden muss. Das bedeutet, dass konventionelle Kraftwerke je nach alternativer Ausbeute rauf- und runtergefahren werden müssen, also zu 40 % nicht ausgelastet und daher nicht mehr rentabel sind. Seine Rolle als Exporteuer von Grundlaststrom hat Deutschland längst verloren. Dafür missbraucht man die Stromnetze der anderen als Abladeplatz für wetterbedingte Stromüberschüsse, was dort auch nicht gern gesehen wird. Deutschland, dem Europa so am Herzen liegt, dass seine Regierung den Euro retten will, koste es, was es wolle, handelt mit seiner Energiepolitik alles andere als europäisch. Doch was geht uns das an? Ein echter Vogelsberger Sturkopf denkt sich sein Teil. Wenn sich in 15 Jahren erweisen sollte, dass die Windkraftanlagen nicht rentabel sind, muss eben rückgebaut werden. Den Sockel schüttet man zu und gut ist. Pech für die Investoren. Vielleicht auch für den Rotmilan, mal sehen. Bis dahin: mitnehmen, was man kriegen kann. Wir hier im Vogelsberg haben schließlich das Problem nicht erfunden, sondern vorgefunden. Baustellenparty in Ober-Ohmen (790 Einwohner). Derzeit könnte man an jedem Wochenende eine neue Windkraftanlage feiern im Vogelsberg, so eifrig wird hier gebaut. Der Standort für die Windfänger liegt nicht sehr hoch, dennoch drehen sich die Dinger – übrigens ohne große Geräuschentwicklung. Fast könnte man sich an sie gewöhnen. Die Laune ist jedenfalls gut. Die mit schlechter sind gar nicht erst gekommen. Den Rest besorgt das Freibier. Die Welt, 24. 10. 2012

Sonntag, 30. September 2012

Ein bisschen Liebe

Es gibt Leute, bei denen hat das Volk immer recht, auch wenn es sich lediglich um einen gewalttätigen Mob handelt. Und es gibt Menschen, die sich wie eine schwindsüchtige Jungfrau aufführen, die schon bei einem groben Wort in Ohnmacht fällt. Jedenfalls wenn es um verletzte Gefühle geht. Um verletzte religiöse Gefühle. Allerdings nicht um die eigenen. Nur, wenn es den Islam betrifft, werden hierzulande angezündete Gebäude, tote und verletzte Menschen als Petitessen hingenommen, wenn nicht gar verständnisvoll abgenickt: man muss das verstehen, da wurden Gläubige unerträglich provoziert, da entstehen Zorn und Wut, da geht schon mal was daneben. Und wenn es ein amerikanischer Botschafter ist, der danebengeht? Auf das verklausulierte „Geschieht ihm recht“ irgendeines sensiblen und wohlmeinenden Zeitgenossen muss man selten lange warten. Irgendwie sind immer die USA und/oder Israel schuld, das ist schon gute Tradition hierzulande. Da vergisst man schnell, dass wir im Moment einen Machtkampf unter Muslimen erleben, nicht den gerechten Befreiungskrieg vom amerikanischen Imperialismus. Westliche Selbstbezogenheit zeigt sich noch im Impuls, sich verständnisvoll über fremde Kulturen zu beugen und auf die eigene Seite als die eigentlich Schuldigen zu deuten. Aber reden wir mal nicht über die vorhersehbaren antiamerikanischen und antisemitischen Reflexe. Sondern über den Stellenwert, den Gefühle einnehmen, und zwar nicht bei den zornigen jungen Männern dort, sondern hier, bei uns. Lange vorbei die Zeiten, als man Männer auffordern musste, Gefühle zu zeigen, sofern sie überhaupt welche hatten. Heute haben sie welche, und wie. Doch richtige Männer weinen nicht nur – sie schlagen auch zurück. Da drängt sich glatt ein anderes Gefühl auf: Ist es womöglich das, was den Islam hierzulande attraktiv macht? Möchte man endlich wieder einen starken Glauben haben, ja womöglich gar einen hochmotivierten Fanatismus, mit dem man so schön die Sau rauslassen kann? Wir hatten das ja mal. Ist lange her. Ja, es gibt viele Gründe, die allgemeine Gefühlsduselei verdächtig zu finden. Einen hat jüngst Eren Güvercin benannt, als er in der FAZ schrieb, dass nicht die Gewaltexzesse das „Interessante“ seien, sondern das, was dahinter stecke: nämlich die Liebe der Muslime zu ihrem Propheten. Das aber fehle den westlich-säkularen Menschen, Liebe, dieses „durchaus sympathische Korrektiv (...) in einer Welt, die von kalten Systemen geprägt ist.“ Güvercin rennt mit seiner These weit offene Türen ein. Denn die Sehnsucht nach Liebe, Gefühl und Wellenschlag gehört hierzulande zum politischen Standardrepertoire. Unsere Salbungsvollen bemühen sich täglich darum, „soziale Wärme“ in die angeblich so frostige Moderne zu bringen. Dass wir in „kalten Systemen“ lebten, ist Allgemeingut, dass die Menschen nichts so sehr brauchten als wärmende Umarmung, ebenfalls. Die Störenfriede sind jene freiheitlichen Geister, die Türen und Fenster weit aufreißen, damit frische Luft unter die Stubenhocker fährt und den Mief hinausträgt. Denn „ein bisschen Liebe“ ist mitnichten nur „ein sympathisches Korrektiv“. Man muss nicht erst an die Liebe zum Führer (oder an Stasichef Erich Mielke) denken, um beim Gedanken an die Macht der Liebe Schüttelfrost zu kriegen. Liebe ist kein Ruhekissen, sie hat vereinnahmende, fanatische, einengende Züge. Im übrigen schaut auch die Liebe zum Propheten nicht gerade gemütlich aus. Das Schöne an der offenen Gesellschaft ist ja gerade, dass man nicht lieben muss, mit wem man sich ohne Konflikt ins Benehmen setzen will. Diesem Zweck dienen all die „Regelwerke“, die aus gutem Grund „kalt“ und äußerlich sind. Sie fordern niemandem ab, ein guter Mensch mit anständiger Moral zu sein. Sie fordern lediglich, dass man sich ohne weitere Begründung an die Regeln hält, an jene Hilfsmittel des Zusammenlebens, die es erträglich machen. Wer die Zwänge von Familie und Clangesellschaft kennt, wird gerade das Äußerliche, die „Kälte“ der Systeme zu schätzen wissen. Sie erlaubt uns, Individuum zu sein. Dass Freiheit und Individuierung einsam machten, ist ein zählebiges Gerücht. Die Sehnsucht nach vormoderner Wärme gibt sich nachdenklich, ist aber selten durchdacht. Es stimmt ja: die modernen sozialstaatlichen Sicherungssysteme haben alte Bindungen gelockert. Für Status und Bürgerrechte ist das Gründen einer Familie nicht mehr erforderlich. Die Alten sind nicht mehr vom Wohlwollen der Jungen abhängig, wenn sie „in Rente“ statt aufs Altenteil gehen. Das Verhältnis der Geschlechter und der Generationen ist vom Zwang befreit, lockerer, unverbindlicher, aber damit keineswegs ohne Belang geworden. Womöglich gedeiht die Liebe weit besser, wenn sie frei sein darf. Doch als ob der Staat eine sehnsüchtig erwartete Vater- oder Mutterrolle einzunehmen habe, beschwören Politiker und andere Hofprediger immer wieder das Bild kuscheliger Wärmezonen. Das heißt dann schon so: „Betreuungsgeld“ etwa oder „Solidarrente“. All diesen Wohltaten ist gemein, dass sie ans Gefühl appellieren. Nur durchgerechnet sind sie nicht. Das wäre ja kleinlich. Warum dominieren in unserer säkularen Gesellschaft die Gefühle? Warum scheint es manchmal, als ob sie das einzige sind, was überhaupt noch Wert oder Aussagekraft besitzt? Warum spricht jeder bessere Wetteronkel von „gefühlten“ Temperaturen, warum empfinden wir Zahlen und Statistiken als „kalt“, warum werden persönliche Evidenzen ernster genommen als verallgemeinerbare Aussagen? Im Alltagsbewusstsein ist man hierzulande gar nicht so weit entfernt von Gesellschaften, die von der Aufklärung nichts wissen wollen. Und mögen auch die Kirchen in Deutschland an Einfluss eingebüßt haben – es finden sich jede Menge weltlicher Religionsstifter, denen man hinterherlaufen kann, die sich, wie einige unter den „Klimarettern“, an priesterlicher Strenge von einem Mullah kaum übertreffen lassen. Das paternalistische Modell, wonach die Familie alles, der Einzelne nichts ist, hat den Gesellschaften, die es pflegen, weder Wohlstand noch Freiheit gebracht. Und gemütlich schaut das auch nicht aus. Was beklagen unsere Wärmeapostel, wonach sehnen sie sich? Nach Führung, aber mit Gefühl? Weil Freiheit Mühe macht? Die Welt, 25. 9. 2012

Dienstag, 18. September 2012

Wenn die Nebelkerzen blühen

Die Nebelkerzen rauchen. Die Sicht wird schlecht. Es regnet Worthülsen. Dabei ist noch gar nicht Wahlkampf. Wir haben bloß Krise. Euro-Krise. Und schwierige Lagen laden offenbar besonders zu Schönfärberei und Wortwolken ein, nicht etwa zur fälligen Aufklärung. Und so werden Begriffe besetzt und Themen zugespitzt, man streitet um höchste Werte, bis endlich durch all die heiße Luft jene menschliche Wärme entstanden ist, die man der sozialen Kälte entgegensetzen kann und das Wesentliche in Vergessenheit geraten ist. Man nennt das Ablenkung. Gewiss: Politiker neigen von Haus aus nicht zur ungeschminkten Wahrheit. Aber mitten in der Krise wird ganz besonders dick aufgetragen. Schließlich gilt es, ihren Ursprung möglichst geschickt zu verbergen. Schuld ist also nicht der Geburtsfehler der EU, nämlich die wirtschaftliche Einheit ohne die politische vollzogen zu haben. Schuld ist auch nicht jene Fehleinschätzung einer rotgrünen Regierung, Griechenland für europafähig zu halten. Schuld sind die Märkte, das Finanzkapital, die Gier, der Neoliberalismus, kurzum: alle anderen. Nur nicht die Fehlentscheidungen der politischen Elite. Die kontert jede Kritik oder gar das Einfordern überfälliger Korrekturen mit dem Appell an die besseren Seiten der Steuerzahler: es gehe schließlich um Solidarität, ja um Gerechtigkeit, um Hilfe, um den Frieden, also um alles, was uns lieb ist und teuer sein soll. Leere Worte? Nicht doch, sagen die Politiker, die Menschen wollen es nicht anders. Sie wollen beschwichtigt, beruhigt, mit anderen Worten: belogen werden. Wer ihnen mit einer realistischen Sicht auf die Wirklichkeit oder gar mit Reformen kommt, verliert. Das hat die SPD mit der verdienstvollen Agenda 2010 erlebt. Und das hat Angela Merkel traumatisiert, die beinahe keine Bundeskanzlerin geworden wäre, weil ihr ebenso verdienstvolles Reformprojekt nicht genug menschelte. „Soziale Kälte“ hat ihr der formidable Wahlkämpfer Gerhard Schröder damals, im Jahre 2005, vorgeworfen, als sie mit den Steuerplänen Paul Kirchhofs kam, jenes „Professors aus Heidelberg“, wie man ihn süffisant intellektuellenfeindlich titulierte. Fast wäre sie daran gescheitert. Seither ist Ruhe im Kasten. Denn in der Politik geht es nicht um die Wirklichkeit oder um realexistierende Probleme, sondern gerade mal darum, eine Mehrheit zu finden, für was, ist weitgehend egal. Und deshalb gilt es, die eigene Partei möglichst innig mit all jenen Vokabeln zu verbinden, die hierzulande für das Gute, Wahre und Warme stehen. Die SPD steht für „Gerechtigkeit“, ebenso die Grünen oder die Linke. Doch auch die CDU ist die Partei der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Rettung – des Euros, der Umwelt, des Klimas, des Planeten, alles Dinge also, die den Herzen der Menschen nahe sind. Den Herzen, nicht den Köpfen. Längst regiert George Orwells 1984, der Neusprech, jener verlogene Sprachgebrauch, der aus Industrieanlagen einen „Park“ macht und „Sparen“ nennt, wenn sich der Staat mal ein bisschen weniger verschuldet. Und der als Beitrag zu Gerechtigkeit und Menschlichkeit verkauft, was schnöde Wählerbestechung ist. Ob es um das „Betreuungsgeld“ oder die „Solidarrente“ geht – unübersehbar steckt hinter den vielen Steuergeldern, die hier „in die Hand genommen“, wie es im Politjargon heißt, der Wunsch, jene Stimmen zu sammeln, die man zum Machterhalt brauchen wird. Ganz egal, wie hoch der Schuldenberg ist, den man jetzt schon vor sich herschiebt. Wurscht, was uns die sogenannte „Eurorettung“ kosten wird – auch so ein Nebelwort – , die sich bereits jetzt in Dimensionen abspielt, die kaum jemand noch ermessen kann. Die Beruhigungsvokabeln haben Erpressungscharakter. Soziale Wärme und Solidarität und Toleranz und Gerechtigkeit – das sind Werte, die man mit Angela Merkel alternativlos nennen muss, denen also keiner widersprechen kann. Denn wer ist schon für Ungerechtigkeit? Wer will als Egoist durchs Leben gehen? Und wer würde gern von sich behaupten, aus der Geschichte nichts gelernt zu haben? All solche Vorwürfe treffen uns hierzulande ins Mark, und sie haben in der Debatte um den Euro ihre Funktion bislang erfüllt. Unschön, aber wahr: hinter all den schmuseweichen Vokabeln von Solidarität und Gerechtigkeit lauert Erpressung. Wer etwas haben will, kommt uns am besten moralisch. Der Appell an Moral und Hilfsbereitschaft funktioniert schließlich immer, er zieht einen Schleier der Milde vor die harte Realität, erzeugt überschwappende Gefühle, in denen der Verstand baden geht. „Soziale Wärme“ heißt: lasst uns besser nicht über die nackten, kalten Fakten reden. Und Solidarität bedeutet, dass man sich nicht mit Kleinigkeiten aufhalten sollte wie mit der Frage, ob die Hilfe, die sie uns abverlangt, wirklich und vor allem den Richtigen hilft. In Deutschland, wo „Interesse“ als schmutziges Wort gilt, verfängt das. Wer uns an unserer Moral packt, kann von uns alles haben. In der Politik geht es um Gefühle, nicht um Sachen. Jede mittlere Talkshow zeigt: Wer heute im Kampf um die Definitionshoheit siegen will, kommt gänzlich ohne Argumente aus, im Gegenteil: von ihrem Einsatz ist dringend abzuraten. Ist nicht ein logisches Argument per se irgendwie kalt und also unmenschlich? Na bitte. Auch verallgemeinernde Schlüsse kann man auf diese Weise kontern. Was soll mir eine Statistik oder eine Durchschnittsgröße, wenn ich persönlich die Realität doch ganz anders wahrnehme? Fühlen und Glauben, das bringt Szenenapplaus. „Ich glaube“ und „ich fühle“ sind die vergifteten Pfeile aus dem Hinterhalt, die das Argument erledigen, bevor es auch nur zu Ende formuliert wurde. „Gefühlt“ wird hierzulande Jahr um Jahr am Sozialetat herumgekürzt, da hilft kein Hinweis darauf, dass das Sozialbudget noch immer der größte Posten im Haushalt ist – und Jahr um Jahr steigt. Nein, es geht wahrlich kein Ruck durchs Land, es schwappt ein unbestimmtes Gefühl hindurch, ein Schrei nach Wärme & Menschlichkeit, dem man offenbar mit keiner „kalten“ Analyse beikommen kann. Intellektuelles Bemühen hat keine gute Presse. Argumente sind unbeliebt. Harte Fakten, kalte Zahlen, „Statistiken, die den Menschen zur Nummer machen“, zählen spätestens seit der Sarrazin-Debatte nachgerade zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Schon, wer sich seines Verstandes bedient und die Betroffenheitslyrik nicht mitsummt, ist demnach verdächtig. Heute wird „liberal“ nicht mehr mit den Freiheitsrechten des Individuums, sondern mit schrankenlosem, „entfesseltem“ Egoismus assoziiert, wobei der „Raubtierkapitalismus“ bereits um die Ecke lugt. Gewiss: Das geisterte immer schon durch deutsche Debatten, die Angst vor der Freiheit, die man von ihrem möglichen Missbrauch her diskutiert. Was sich hingegen „sozial“, „gerecht“ und „menschlich“ nennt, gerät in diesen Verdacht erst gar nicht. Dabei empfinden viele Menschen als „sozial“ nur das, was ihnen nützt, auch wenn es auf Kosten anderer geht. Und manches Sicherheitsverlangen kann man auch risikoscheu und mutlos nennen. Doch der Orwellsche Neusprech ist als Gefühlssprech in den Alltag eingekehrt, es gibt keine politische Öffentlichkeit mehr, die des Kaisers neue Kleider benennt: dass nichts hinter den Vokabeln der sozialen Wärme steckt außer heißer Luft. Nun, dass Wahlkampf die Wähler schlauer macht, erwartet natürlich niemand. Doch er ist längst nicht mehr jener Ausnahmezustand, wie man ihn vor zwanzig, dreißig Jahren noch erleben konnte: und zwischendrin wird ordentlich regiert. Mittlerweile wird der Nebelwerfer gar nicht erst ausgeschaltet. Wird sich aber die Realität auf Dauer ausblenden lassen? Angesichts der stattlichen Verschuldung Deutschlands in Höhe von mehr als 2 Billionen Euro und der Aussicht darauf, im Zuge der Eurokrise noch in ungeahnter Größenordnung weiter zur Kasse gebeten zu werden, sind die Debatten um Betreuungsgeld oder Rentenaufstockung unwürdig. Gewiss: noch hat der Staat in Deutschland kein Einnahmeproblem, wir sind bislang glimpflich durch die Krise gekommen, die Steuerquellen sprudeln und man weiß gar nicht wohin mit den Überschüssen, etwa in der Krankenversicherung. Doch die aufgehäuften und zu erwartenden Verbindlichkeiten sprengen jeden Rahmen. Wer da von „Sparpolitik“ redet, betreibt Augenwischerei. Von Sparen kann keine Rede sein. Und noch nicht einmal weniger Schulden machen wird gelingen: denn wer das will, muss weniger ausgeben. Doch wo die Moral regiert, versagen die Rechenkünste. Die sogenannte „Energiewende“ ist ein schönes Beispiel dafür. Allein das Wort hat Orwellsches Kaliber: Energie kann man nicht wenden. Und sollte sich das Wort „Wende“ auf die Revolution von 1989 bezieht, wäre es erst recht vermessen: von einem Aufbruch in die Freiheit kann hier nicht die Rede sein, eher von einem aus einer moralischen Entscheidung im Wahlkampf geborenen Chaos. Denn auch hier hat es niemand für nötig befunden, einmal nachzurechnen. Wer es tut, findet schnell heraus, dass sich die Photovoltaik auf deutschen Dächern ohne Subventionen schon längst erledigt hätte. Und ob Windkraftanlagen rentierlich arbeiten, weiß man erst, wenn auch diese Technik nicht mehr staatlich gepäppelt wird – also in frühestens 15 Jahren. Und ganz nebenbei: ausgerechnet das Land, in dem Politiker von Europa reden, als wär’s der heilige Gral, verstößt nicht nur mit seinem Etat, sondern auch mit seiner Energiepolitik gegen die Interessen seiner Nachbarn und damit gegen das große Ziel. Nur fiskalpolitisch sind wir demnächst vereint. Deutschland – ein Land im Nebel? Und in den Köpfen nichts als Watte? Sind wir das nicht langsam leid? Brauchen wir nicht endlich wieder Streit mit offenem Visier und klaren Worten? Ach... Wer nicht auswandern kann, sollte Türen und Fenster geschlossen halten und die Ohren gegen die Sirenentöne und Schalmeien von draußen versiegeln. Es ist Krise. Die Nebelkerzen rauchen. Die Sicht wird schlecht. Also Augen zu und durch. Gedanken zur Zeit, 16. September 2012

Sonntag, 9. September 2012

Jedem sein Trauma

Wir leben in einem überaus friedlichen Land – und dafür kann man nicht dankbar genug sein. Die erhitzten Debatten über die Beschneidung von Knaben und das Ohrlochstechen bei Mädchen zeigen, wie empfindlich man hierzulande ist bei jedem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Kein Kind soll Schaden nehmen, jeder Zwang, jeder gewaltsame Eingriff soll ihm erspart bleiben. Denn die psychischen Folgen könnten es für ein vermutlich langes Leben zeichnen. Das Schreckenswort der Zeit lautet Trauma. So barbarisch manche Riten, Rituale, Sitten und Gebräuche auch sind und so froh man darüber sein darf, dass das meiste davon Kindern hierzulande erspart bleibt - nach unseren heutigen Kriterien hätte die gesamte Menschheit bis in unsere glücklichen Tage hinein ein einzig Volk von Traumaopfern gewesen sein müssen. Erst heute gehört Gewalt nicht mehr zur fast alltäglichen Erfahrung fast jedes Menschen. Kinder früherer Zeiten (und anderer Kulturen) wurden vernachlässigt, missbraucht, leisteten Schwerarbeit, litten Hunger, starben wie die Fliegen. Die größten Genies der Menschheit wussten, als sie Kinder waren, nichts von Liebe, Bildung und Förderung, von all den Dingen, von denen wir glauben, dass sie für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung unabdingbar sind. Zwei kleine Löcher in den Ohrläppchen sollen eine Dreijährige traumatisiert haben? Die Kinder der schlesischen Weber hätten sich krumm und buckelig gelacht. Doch obwohl tiefster Frieden herrscht, ist man hierzulande von Gewalt geradezu besessen. Wem die globale Nachrichtenlage zum Gruseln nicht reicht, zieht sich seinen täglichen Krimi rein, ob im Fernsehen oder als Buch, je blutrünstiger, desto besser - Ersatzerfahrung, die auch der sensibelste Vegetarier gern mitnimmt. Gewalt ist präsent, auch wenn sie fehlt. Wer keine physischen Rohheiten benennen kann, spricht eben von der unsichtbaren, der psychischen Gewalt, und ob die nicht eigentlich viel schlimmer sei. Die partytalktaugliche Gewaltskala ist nach oben offen bis zur Milchstraße. Denn während es gewiss furchtbar ist, ein Opfer zu sein, ist es mindestens entlastend, sich als Opfer zu fühlen - es enthebt der Verantwortung fürs eigene Schicksal. Irgendeine traumatisierende Erfahrung findet sich immer. Erleidet jeder beschnittene Knabe ein Trauma? Wir wissen es nicht. Die Diskussion darüber aber hatte etwas Obsessives, Voyeuristisches. Nicht nur, was die überbordenden Phantasien der Empörten betrifft. Auch viele, die ihren Respekt vor den Traditionen und Riten anderer Kulturen und Religionen bezeugen wollten (obwohl es doch zahllose Traditionen gibt, von denen wir uns dankend verabschiedet haben), widmeten sich mit Hingabe den blutigen Details. Der Empörung trat die Faszination an die Seite. Es ist, vermute ich mal, die Faszination für eine Kultur, in der Zu- und Zusammengehörigkeit einen körperlichen Ausdruck hat. Nur wer beschnitten ist, gehört zu uns, heißt es auf jüdischer ebenso wie auf muslimischer Seite. Fehlt ein solches Zeichen der Zugehörigkeit in der hellausgeleuchteten Moderne? Eines, das durch Schmerz verstärkt worden ist? Das also viel mit dem zu tun hat, was wir zu ächten gelernt haben – mit Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit, mit Gewalt also? Anders gefragt: Was unterscheidet die äthiopischen Mursafrauen, die sich in einer extrem langwierigen und schmerzhaften Prozedur tellergroße Lippen formen, von jungen Frauen, die sich mit Lippenpiercings oder Silikonbusen schöner finden? Was die mühsam erworbenen Riesenohrläppchen auf Borneo von den Tätowierungen, die heute schichtübergreifend Mode sind? Insbesondere junge Menschen nehmen Höllenqualen auf sich, um dazuzugehören - zu welcher Peergroup mit welchen Ritualen auch immer. Man muss nicht weit suchen, um selbstzugefügte Verletzungen zu finden, die man Mode nennen könnte, wenn ihre Herkunft aus Älterem nicht so sichtbar wäre. Denn um Schönheit, um Ästhetik allein geht es hier wie dort nicht. Die dunklen Seiten von Initiationsritualen kann jeder im Schlaf aufzählen. Und wenig ist hässlicher als der Satz unserer Altvorderen: "Was dich nicht umbringt, macht dich stark“. Doch genau das muss jedes Kind irgendwann lernen: dass man Streit, Schmerz, Konflikt, Verletzung überleben kann. Denn das Leben ist selten ohne zu haben. Statt dessen suggeriert das Schreckenswort „Trauma“, dass aus jeder Zumutung ein Folgeschaden erwachsen könnte. Überbehütete und risikoscheue Wesen aber machen keine Erfahrungen. Die ängstliche Vermeidung vom allem, was als "Gewalt" zu deuten sein könnte, erschwert die Erkenntnis, dass es in der Welt nicht nur friedlich und politisch korrekt zugeht. Man muss sich als Heranwachsender auch wehren können. Der Wunsch, Kindern ihre körperliche Unversehrtheit so lange wie möglich zu erhalten, ehrt. Die Angst vor der „Traumatisierung“ aber ist wirklichkeits- und lebensfremd. Und der Respekt vor religiösen Traditionen heißt nicht, dass sie unantastbar wären. Die obsessive Diskussion über all das aber zeigt, dass hier etwas aus den Tiefenschichten hochsteigt, das nicht verschwindet, wenn man es verdrängt. Gewalt spielte in der Menschheitsgeschichte immer wieder die Rolle eines Schlüsselreizes: Initiationsriten waren (und sind bei anderen Völkern) nicht selten außerordentlich blutig und grausam. Gewalt ist ein mächtiger Motor der Erinnerung, denn Schmerz verstärkt sie. „Erinnere dich, wer du bist und zu wem du gehörst." Der große Walter Burkert analysierte in seinem "Homo Necans" (Der tötende Mensch) die gemeinschaftsstiftende Funktion des Blutopfers. René Girard führt Religion auf ein Menschenopfer zurück, das des Sündenbocks, mit dem die Gemeinschaft ihre inneren Spannungen regelrecht austreibt. Auch die rituelle Schlacht als ein kollektives Menschenopfer hat noch lange diese Funktion erahnen lassen: die Gewalt aus dem Inneren der Gesellschaft durch ihre Stellvertreter nach außen zu tragen. Michael Wolffsohn hat jüngst an diesen Kontext erinnert: "Der Urgedanke des Menschenopfers liegt auch der Beschneidung zugrunde: sie ist der Ersatz für das 'Ganzkörperopfer'." Das Archaische ist modernen Gesellschaften weit weniger fremd, als ihre aufgeklärten Mitglieder annehmen. In der Obsession, mit der man sich mit Gewalt beschäftigt, kehrt das Verdrängte zurück. Mit Macht. Zuerst in der Welt, 6. 9. 2012

Donnerstag, 6. September 2012

Führungslos

Ist Deutschland auf dem Weg zum Vierten Reich? Oder ist es, im Gegenteil, mit seiner neuen Rolle als europäische Führungsmacht mental überfordert, wie Clemens Wergin kürzlich schrieb, fehlt es ihm an Machtehrgeiz und „Mentalität“? Es sieht ganz so aus. Es ist nicht „das Ausland“, trotz des einen oder anderen Nazivergleichs, das Angst hat vor Deutschland und einer ihm zuwachsenden Führungsrolle. (Und den Griechen mag man den einen oder anderen unappetitlichen Ausfall verzeihen.) Der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski etwa hält die deutsche Zurückhaltung in Sachen Euro und Europa mittlerweile für weit gefährlicher. Es sind vor allem die Deutschen selbst, die nicht „führen“ wollen, in welchem Kontext auch immer, und sich dabei auf „die Geschichte“ berufen. Zu Recht? Wer Helmut Schmidt für das größte lebende Orakel hält, mag ihm folgen, wenn er zustimmend Winston Churchill zitiert: „Wir alle wissen, dass die beiden Weltkriege, durch die wir gegangen sind, aus dem eitlen Verlangen des erst vor kurzem (also 1870/71, CS) geeinten Deutschland entsprungen sind, die führende Rolle in der Welt zu spielen.“ Andere mögen sich wundern, dass man sich hierzulande von jemandem sagen lässt, wie die eigene Geschichte zu beurteilen ist, der seine Diagnose gewiss nicht interesselos formuliert hat. Doch ganze Nachkriegsgenerationen hierzulande teilen nun einmal die Vorstellung, die deutsche Geschichte habe sich seit 70/71 oder gar bereits seit Luther (mindestens!) auf das dreckige dutzend Hitlerjahre hinzubewegt, ein Geschichtsdeterminismus, der das Verhängnis der Nazizeit geradezu aus dem Volkscharakter erklärt. Wer will mit dieser Bürde noch „führen“? Gerade deshalb trifft uns der Vorwurf tief, wir maßten uns eine Führungsrolle an. Doch stimmt die Diagnose überhaupt? Das Führungsbedürfnis Deutschlands war nach 1870/71 keineswegs so groß, dass es die zerstörerische Wucht zweier Weltkriege gebraucht hätte, um ihm dieses Verlangen endlich auszutreiben. Der schottische Historiker Niall Ferguson machte vor einigen Jahren in seinem so anregenden wie umstrittenen Buch über den Ersten Weltkrieg eine provozierende Rechnung auf: hätten Großbritannien und Frankreich das aufstrebende deutsche Kaiserreich damals ernst genommen und an den Tisch der Mächtigen gebeten (statt sich mit dem reaktionären zaristischen Russland zusammen zu tun), wäre Deutschland ebenfalls das geworden, was es heute ist, die führende Macht auf dem Kontinent – aber es hätte zwei Weltkriege weniger gegeben. Für Fergusons These spricht einiges. Schon vor dem großen Krieg bemühte sich die englische Propaganda, der Selbstdarstellung der biederen Deutschen weit überlegen, Angst vor „den“ Deutschen zu schüren, die angeblich Kellner und Dienstmädchen ausschickten, um für den Kaiser zu spionieren. Dass die Flottenpolitik Wilhelms II., gewiss eher von Eitelkeit als von Vernunft getrieben, Britannien als Beherrscherin der Weltmeere derart provoziert habe, dass das Deutsche Reich hätte bestraft werden müssen, gehört ebenfalls ins Propagandaarsenal. Auch dass die deutsche Kolonialmacht anmaßender und brutaler gewesen wäre als andere Kolonialmächte (man denke an Belgien), ist Legende. Die Deutschen wollten auch „einen Platz an der Sonne?“ Ein Verbrechen war das nicht. Als „Hunnen“ und „Barbaren“ erwiesen sich Deutsche erst mit den Nazis und Adolf Hitler, und nun schien die antideutsche Propaganda des Ersten Weltkriegs, für die man sich in England später durchaus geschämt hatte, im Nachhinein gerechtfertigt: Die Deutschen waren so barbarisch, wie man immer schon behauptet hatte. Es gibt wohl kein anderes Land, dessen Bewohner so bereitwillig (Kollektiv-)Schuld annehmen selbst da, wo sie nicht vorhanden ist. Ein moralisch verkürztes Geschichtsverständnis opfert die gesamte deutsche Geschichte einer zwölfjährigen Diktatur. Mit einem solchen Selbstbewusstsein ist in der Tat keine „Führung“ zu machen. Mit „Lehren aus der Geschichte“ wird bis heute begründet, warum die Deutschen sich zurückzuhalten haben – auch und mittlerweile gerade da, wo die Zögerlichkeit einer wirtschaftlich und demografisch so starken Macht ihre Kehrseite enthüllt, und die heißt Verantwortungslosigkeit. Bernhard Schlink hat das Problem dabei in seiner Philippika „Die Kultur des Denunziatorischen“ auf den Punkt gebracht: schon in der Schule lerne man hierzulande, das Gestern von der Höhe heutiger Moral aus zu beurteilen – denn „Moralisieren reduziert Komplexität“. Eine ganze Generation von Schülern und Studenten ist mit dem systematischen Rückschaufehler aufgewachsen, Geschichte von ihrem Ende her verstehen zu wollen. Doch die Geschichte gibt uns keinen Vorwand. In Wirklichkeit ist es ist nicht so sehr ein deutscher Machtanspruch (als angeblicher „Grundzug“ unserer Geschichte), der uns unheimlich sein sollte – sondern das fast vollständige Fehlen strategischen Denkens in der Öffentlichkeit. Wir sind es gewohnt, das deutsch-französische Bündnis als moralisch bedeutsam, als einen Akt der Versöhnung wahrzunehmen, und verstehen den Euro als Preis für den Frieden. Uns kann man mit der Behauptung erpressen, wir schuldeten Solidarität der Vergangenheit wegen. Das alles ist edel gedacht, übersieht aber die Rolle von Machtstrategien und Interessen, die selbstbewusste Nationen um uns herum mit großer Selbstverständlichkeit in Rechnung stellen. Wir finden Interessen noch immer „schmutzig“, in guter alter idealistischer Tradition. Doch über sie ist weit leichter zu verhandeln als über hochgesteckte moralische Standards. Unsere „Moral“ macht uns nicht zu besseren Menschen, im Gegenteil: meistens zu naiveren, oft sogar zu dümmeren. Moral ist der rosa Schleier vor den Augen, der uns daran hindert, die Welt so zu sehen, wie sie ist: nicht deshalb schlechter, weil dort statt reiner Menschenliebe Kalkül und Interesse walten. Es gibt nur ein Argument, das gegen deutsche Führung in der Eurokrise spricht – und das ist eben dieser Hang zum Moralisieren. Denn die schuldbewusste Furcht vor den kühlen Fakten erlaubt allen anderen, ihre Interessen hinter moralisch aufgeladenen Formeln wie „Solidarität“ und „Vergangenheit“ zu verstecken. So wird Geschichte zur Magd der Politik. Lassen wir also die Geschichte. Nach vorne geht der Blick: nur mit einem vernünftigen Selbstbild kann Deutschland eine souveräne Position einnehmen, die verständlich und verständig ist. Europa täte das womöglich gut. Zuerst in: Welt, 3. 9. 2012

Sonntag, 19. August 2012

Stürmchen der Würmchen

Liebe Männer, könnt ihr eure Kontroversen nicht wieder so wie früher austragen? Verabredung im Morgengrauen, Pistole oder Säbel, ein Stoß, ein Schuss – fertig? Statt dessen Angriff aus dem Hinterhalt in pseudonymer Vermummung. Geht’s noch? Die Rede ist von einem Autor, hinter dessen schwedischem Pseudonym, so stand es in der „Welt“, ein Feuilletonchef namens Thomas St. steckt, der in seinem Krimidebüt womöglich einen bekannten Feuilletonherausgeber namens Frank Sch. meuchelt und die Leiche, als letzte Demütigung, den Aasfressern vorwirft. Also eigentlich ein Feuilletonstreit. Aber heute wird ja gleich ein Krimi draus. Warum nur? Weil man im Genreroman sämtliche zivilisatorischen Hüllen fallenlassen und sich dem Blutrausch hingeben darf? Endlich mal Schwein sein? Oder nennt sich die Sache Krimi, weil der sich bekanntlich entschieden besser verkauft als eine Kolportage aus dem bewegten Leben im deutschen Feuilleton, geschmückt mit kulturpessimistischer Kapitalismuskritik? Warum sich ein deutscher Autor besser hinter einem schwedischen Pseudonym versteckt, ist dabei das kleinste Rätsel, auch wenn es bislang niemand hat lösen können: kaum steht ein nordlichternder (neuerdings auch französischer) Autorenname auf dem Titel, verkauft sich das Buch in Deutschland wie geschnitten Brot. Ware von deutschen Krimiautoren geht nicht annähernd so flott raus. Dem real existierenden Qualitätsprodukt „deutscher Kriminalroman“ hilft das Verasmussen und Verlarsonnen natürlich gar nicht. Und dem Krimi als solchem tut es gewiss nicht gut, dass er neuerdings der Lastesel für alle ist, die schon immer mal was loswerden wollten. Mal ehrlich: Wird das Genre nicht schon genug missbraucht? Wer hat sich nicht schon alles daran „mal ausprobiert“– als Verleger oder Anwalt oder Fernsehmoderator? Oder als E-Literat, der sein Ausprobieren vorauseilend „Schundroman“ genannt hat? Gleiches Recht für alle: auch mein Zahnarzt weiß seinen eigenen Krimi zu erzählen – gottlob hat er keine Zeit zum Aufschreiben. Der Leser dankt. Denn der hat langsam die Nase voll von der Resterampe namens Krimi. Die Büchertische biegen sich unter all den Serienmörder- und Kinderschänderschinken mit versoffenen Kommissaren oder Sex-and-The-City-Ermittlerinnen, ergänzt von knödeligen Dorfkrimis mit dödeligen Dorfbullen. Und jetzt scheint das Genre auch noch für die windigen Rachegelüste beleidigter Hochfeuilletonisten herhalten zu müssen. Verblendung! Verdammnis! Verdummung? Ja, doch, dafür spricht einiges. Offenbar halten deutsche Buchverlage kein Werk mehr für verkäuflich, das sie nicht mit einem branchenerschütternden Geheimnis oder wenigstens mit einem feuchten Skandälchen garnieren können. Für den Krimi heißt das: aus sich heraus überzeugt er nicht mehr. Das Genre liegt im Wachkoma, die Story ist egal, das Handwerk zählt nicht. Der Krimi hat seinen Schweinezyklus vollendet. Er ist die Restmülldeponie gescheiterter Literaten geworden, die auch mal mit den Schmuddelkindern spielen wollen, Spielfeld von Werbetextern und Marketingspezialisten, Hinterhof für literarische und sonstige Hütchenspieler. Also, liebe Leser: Augen auf beim Krimi-Kauf! Was da mit appetitlichem Autorenfoto wirbt, stammt womöglich gar nicht von einem sexy Schweden, sondern einem rotweingeschwängerten Lohnschreiber. Und hinter dem frischen Franzosen steckt, wer weiß, ein gut abgehangener Verleger aus Mittelhessen. Alles fake, alles gar nicht wahr, der Autor ist tot – die Piraten wissen das schon länger. Nur wir Autoren haben es womöglich immer noch nicht begriffen. Insofern steht das Stürmchen im Wasserglas womöglich für das Zeichen an der Wand, das wir entziffern sollten. Wenn sich Verleger und Literaturkritiker künftig ihre Bestseller selbst schreiben – steckt hinter Jean-Luc Bannalec nicht Jörg Bong vom Fischer-Verlag? – dann brechen harte Zeiten an für uns ganz normale, bienenfleißige Krimiautoren mit den sperrigen deutschen Namen. Wir Ehrlichen, wir Dummen, die noch an die Story und das Handwerk glauben. Und die, egal, wie gut sie sind, nicht darauf hoffen dürfen, von Verlag und Feuilleton in die Bestsellerlisten gepuscht zu werden. Ja, da geht selbst uns für ein paar Minuten unser mörderisch guter Humor aus: Was manch kritischer Mensch den Finanzmärkten ankreidet, scheint in der Buchbranche nicht weiter despektierlich zu sein. Was man in der Wirtschaft Insidergeschäfte nennt, und was dort verboten ist, scheint erlaubt, wenn es sich um Literatur handelt. Denn es ist nichts als ein Insidergeschäft, wenn Verleger und Literaturkritiker in schöner Eintracht selbst die Bestseller schreiben, die sie with a help from our friends in den Markt pressen. Sollte sich „Sturm“ als richtig steiler Titel entpuppen, sei’s verziehen. Wenn nicht, hat der Verlag in ein gutes Verhältnis zur Süddeutschen Zeitung investiert. Wären wir Kulturpessimisten, hielten wir das eh schon angeschlagene Vertrauensverhältnis zwischen Verlagen und Autoren für endgültig zertrümmert. Macht ihr eure Insidergeschäfte – wir machen uns, mit dem E-Book, selbständig. War eine nette Zeit mit euch. Für den Krimi aber heißt seine kalkulierte Kannibalisierung, dass wahrhaftige Liebhaber ihn ganz beiseite legen werden, vielleicht für viele Jahre. Bis die Zeit wieder gekommen ist für eine Neuentdeckung des Kriminalromans, der, bevor er in die Hände von Spekulanten geriet, eine großartige Literaturgattung war. Cora Stephan hat unter dem Pseudonym Anne Chaplet zehn (auch preisgekrönte) Kriminalromane veröffentlicht und die längste Zeit kein Geheimnis draus gemacht. Literaturkritiker sind ihr bislang nicht zum Opfer gefallen. Gekürzte Version in: Literarische Welt, 18. August 2012

Samstag, 21. Juli 2012

Digitale Einsiedler

Es ist also wahr: Deutschland schafft sich ab! Die Deutschen leben mehr und mehr allein, lese ich, vor allem in den Städten. Die Internetnutzung aber hat zugenommen: gut 75 Prozent tun es täglich, ja: andauernd. Das muss zusammenhängen. Was also hat die Wissenschaft herausgefunden? Das, was sie schon im 19. Jahrhundert wusste, als die Seuche des Romanelesens die Frauen erfasste: Das kann nicht gutgehen! Nach neuesten Erkenntnissen macht nicht nur das Fernsehen, sondern auch die Nutzung digitaler Medien wenn nicht gleich dick, dumm und gewalttätig, aber ganz bestimmt süchtig. Was daraus folgt, ist klar: Die Deutschen sterben aus – an den Risikofaktoren Einsamkeit, Virtualität und Übergewicht. Deutschland – eine Hölle sozialer Kälte, besiedelt von lauter Couchpotatos, die nur bei Fußballspielen unter die Leute gehen, sofern diese vor einem Großbildfernseher stehen. Und Sex? Wenn überhaupt, dann nur noch virtuell. Steile Thesen, die zeigen, das wenigstens eins noch funktioniert: Arbeitsbeschaffung für das Kommentariat. Für den Kulturkritiker, der Gelegenheit hat, die Krise zu segnen, die uns wieder zusammenrücken lasse. Für den Ökoklimabioaktivisten, der kommende Not auf uns herabwünscht, die alle in die Vorgärten schickt, Gemüse pflanzen. Und für die Architekten, die schon lange über neuen Wohnkästen grübeln, die uns das Monadische mit mehr als nur sanftem Druck austreiben sollen. Insbesondere Politiker mögen solche Thesen. Da kann man wieder von menschlicher Wärme schwärmen und Wähler in den Arm nehmen, um sie abzuholen, wo sie stehen, auch wenn sie lieber dort bleiben möchten. Digitale Verwahrlosung? Nicht mit uns! Wir Digitaleinsiedler lassen sie reden. Nicht jeder Mief, der sich menschliche Wärme nennt, ist angenehm. Und soviel Sex gibt es gar nicht, den wir nicht verpassen möchten. Wir leben zwar allein, sind aber nicht einsam, denn uns steht die Welt offen. Das Netz der Wunder erspart soziale Kontakte der unerfreulichen Sorte und eröffnet das Tor zu ungeahnt neuen. Allein und digital. Und über uns der Sternenhimmel. Schon, als das Online-Banking begann, war ich dafür: Es hat mir noch nie Spaß gemacht, in meiner knappen Freizeit vor einem Schalter anzustehen und mir von einem gelangweilten Bankbeamten den mühselig per Hand ausgefüllten Überweisungsschein abstempeln zu lassen. Der prompt zurückkam: wegen der Handschrift. Unleserlich. Das heißt natürlich nicht, dass man seine „Bank-Geschäfte“ nun gleich blöde lächelnd mit dem Notebook vom Strand aus erledigen muss, wie es die Banken für werbewirksam halten. Am Strand hat man anderes zu tun. Viel schöner ist, dass vor dem Strand heute nicht mehr das Anstehen liegt: vor Check-in-Schaltern auf Flughäfen oder vor den Tickettheken der Deutschen Bahn. Noch besser: man kann das Reisen gleich ganz lassen. Ein Besuch bei Google World hilft Krampfadern und tückische Flugzeugkeime meiden. Erzählt mir nichts! Menschliche Kommunikation ist selten ein Quell der Geselligkeit oder der Freude, häufiger eine Quelle von Missverständnissen und Flugzeugabstürzen. Wir digitalen Einsiedler halten es deshalb prima allein zu Hause aus. Gewiss, man muss mal raus, Essen beschaffen. Aber ich freue mich schon auf die flächendeckende Einführung von Kundenscannerkassen. Womit warb noch ein bekannter Supermarkt? „Niemand bedient Sie so gut wie Sie selbst.“ So ist es. Sein Erfinder muss den Vorzug reduzierten menschlichen Kontakts begriffen haben: der erste Supermarkt der Welt, der Bon Marché, den Aristide Boucicault 1852 in Paris eröffnete, erlaubte es, die Waren zu studieren, ohne mit jemanden in eine Verhandlung über ihre Preiswürdigkeit eintreten zu müssen. Das hob den Umsatz. Es ist eine moderne Unart, das „Soziale“ zu romantisieren. Für unsere Vorfahren war die soziale Wärme, die aus Not entsteht, gewiss nicht erstrebenswert. Höchstens im Winter, wenn sich dichtgedrängte Leiber nachts aneinander wärmten, war die gemeinsame Schlafstatt nützlich. Und das Leben unter einem Dach mit Ziegen, Schafen, Schweinen und Kühen stählte zwar die Immunabwehr, aber mehrte nicht den Wohnkomfort. „Ein Zimmer für sich allein“, kurz: Privatleben ist eine Errungenschaft der Neuzeit, ein Privileg, ein Luxus, kein Mangel. Es kommt darauf an, was man draus macht. Die virtuelle Welt steckt voller Angebote. Wir digitalen Einsiedler jedenfalls genießen die Freuden der Selbstbestimmung, ziehen uns wie Montaigne in unseren Turm zurück, auch wenn der zu klein sein mag für die 1000 Bücher, die Montaigne um sich versammelt haben soll. Doch die brauchen wir ja gar nicht mehr. Der Turmhocker von heute gebietet über viel, viel mehr, sitzt hinter seinen Mauern oder davor, lässt Rosen duften und öffnet die Pforte zur großen weiten Welt. Fliegt hinaus, ins Netz, in dem sich viele weitere Türen öffnen, hinter denen es Musik gibt, Bilder, Filme. Bücher. Wissen. Unzählige Geheimnisse, die auf ihre Entdeckung warten, die wir uns aus dem Datenstrom fischen und heimholen können. Nur 1000 Bücher? Monsieur Montaigne! Da geht noch mehr, viel mehr. Asozial? Unsozial? Antisozial? Mitnichten. Die Nichte in Australien: wir begegnen uns täglich auf Facebook. Der Neffe in Frankreich stellt regelmäßig Bilder von klein Hugo und der noch kleineren Ambre ins Netz, das hält bis zum nächsten Besuch. Und gar nicht so weit entfernt sind die virtuellen Bekannten, mit denen man sich manchmal intensiver austauscht als mit den alten Freunden zu Zeiten der snailmail. Ob wir denn niemals einer Menschenseele begegnen, wir digitalen Einsiedler? Oh doch. Oh ja! Aber das gehört nicht hierher. Das ist privat. In: Literarische Welt, 21. Juli 2012

Dienstag, 17. Juli 2012

Fragen einer zeitunglesenden Steuerzahlerin

Sehr geehrte Frau Bundeskanzler, liebe Angela Merkel, Ihre Gegner respektieren Sie. Ihre Parteifreunde fürchten Sie. Ihre Wähler bewundern Sie. Und auch ich gestehe: Ich wäre gern wieder Ihr Fan. Doch während der Wille da ist, erweist sich der Verstand als renitent. Ja, es ist bewundernswert, wie zäh Sie verhandeln, auch wenn zwischendrin nur ein, zwei Stunden Schlaf abfallen. Wie Sie Haltung bewahren, sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Wie bescheiden Sie sich geben, während italienische oder französische Gockel sich brüsten, über Sie gesiegt zu haben. Und dann dieses wunderbare „Nicht, solange ich lebe!“ – mit dem Sie jegliche gesamtschuldnerische Haftung in Europa zurückgewiesen haben. Fast wie einst Margaret Thatcher, die britische Madame No. Klar, das war nicht ganz ernst gemeint. Denn Sie stehen für die schlichte, wenn auch ein wenig desillusionierende Erkenntnis, die da lautet: Politik ist, wofür sich eine Mehrheit findet. Was sich durchsetzen lässt, im ewigen Ringen um den Kompromiss. Da bleibt oft nicht viel übrig von jenen Zielen, mit denen man in die Manege gestiegen ist. In der Politik gilt: Der Weg ist das Ziel. Und das ewige Ringen mit den Wegelagerern, die zum Kuhhandel zwingen, rückt das Ziel täglich ferner, bis es nicht mehr zu erkennen ist. Ich jedenfalls sehe nichts mehr. Nein, ich möchte keine Vision. Aber ich bitte um den Verzicht auf Nebelkerzen. Der Bundespräsident hat Sie gebeten, Ihren Wählern, Ihren Anhängern und der Bevölkerung „detailliert zu beschreiben“, was in und um Deutschland derzeit vonstattengeht und was das alles für die Zukunft bedeutet. Eine gute Idee! Erlauben Sie mir, schon mal ein paar Fragen zu stellen, vielleicht hilft das beim Antworten. Um ganz klein anzufangen: Es geht um Solidarität mit Griechenland, heißt es immer. Das kommt bei den Deutschen gut an, die helfen gern. Aber wäre es da nicht besser, man entließe die Griechen aus der Zwangsjacke Euro? Bislang hat Ihre Hinhaltetaktik dort nur den Reichen und der korrupten Nomenklatura genützt. Wir Hilfsbereiten aber hätten gern, dass das Geld auch da ankommt, wo es „den Menschen“ nützt, wie es im Politjargon heißt. Könnte das längst pleitegegangene Griechenland abwerten, wäre es als Niedriglohnland wieder konkurrenzfähig, als Reiseland wieder attraktiv und wir wären dabei. Oder? „Scheitert der Euro, scheitert Europa“, sagen Sie und deswegen muss gerettet werden, um jeden Preis, auch das, was nicht mehr gerettet werden kann. Aber haben wir nicht bereits ohne Euro gut miteinander gelebt? Und hat nicht erst der Euro wieder jene Zwietracht hervorgebracht, die wir überwunden glaubten? Glauben Sie wirklich, der Zwang zur gemeinsamen Währung könnte die Völker Europas dazu bringen, nach einem einzigen Rezept selig zu werden? Deutschland hat einst profitiert von seiner Kleinstaaterei, die für den Handel hinderlich gewesen sein mochte, aber durch Konkurrenz das Geschäft belebte. Wäre das nicht auch das Richtige für Europa? Wir brauchen Europa, weil wir ein starkes Gegengewicht zu den USA oder China brauchen, heißt es immer wieder. Das verstehe ich. Doch Europa ist durch den Euro nicht stärker geworden, sondern schwächer. Niemanden beeindruckt ein Zusammenschluss von Fußkranken. Überhaupt: was genau verstehen Sie unter Europa? Nur charmante Südländer, die es als Angriff auf ihre Lebenskultur ansehen, wenn man ihnen mit ausgeglichenem Haushalt, Steuerehrlichkeit und Rechtssicherheit kommt? Was ist mit Großbritannien und den skandinavischen Ländern, die man nicht erst groß umerziehen muss, was ordentliches Wirtschaften betrifft und die sich offenbar genau deshalb vom Europrojekt fernhalten? Was mit Polen, dem Erfolgsland in Osteuropa, unserem in vieler Hinsicht nächsten Nachbarn? Die deutsch-französische Freundschaft mag ein historischer Gewinn gewesen sein. Mittlerweile aber überlagert sie die weit existentiellere Bindung an die USA und die angelsächsische Welt mitsamt ihrer Liberalität und ihrem Pragmatismus. Das schadet uns, finde ich. Kommen wir zur materiellen Seite. Deutschland profitiert am meisten vom Euro, deshalb, sagen Sie, habe es auch die größte Verantwortung. In Zahlen ausgedrückt, ist der deutsche Profit nicht recht festzustellen: der Export deutscher Güter innerhalb des Euroraums hat ab-, nicht zugenommen. Aber wir wollen nicht knauserig sein. Nehmen wir also die Verantwortung an. Doch worin besteht sie? Im bedingungslosen Geldspenden? Oder im Oktroy eines strengen Reglements? Peinlicherweise sind gerade wir nicht unbedingt ein strahlendes Beispiel für erfolgreiche Reformpolitik. Es war Deutschland, 2003 unter Rotgrün, das als erstes Land gegen die Maastricht-Kriterien verstieß. Und ausgerechnet bei uns tut man so, als ob es immer so weiter gehen könnte mit dem fröhlichen Geldausgeben. Beispiel: das Betreuungsgeld, ein Milliardenprojekt, das nicht nötig wäre, wenn man Eltern selbst überlassen würde, wofür sie ihr Einkommen ausgeben, statt es ihnen wegzusteuern, um ihnen damit Geschenke zu machen. Vorletzte Frage: wir brauchen eine Politische Union in Europa, sagen Sie. Dafür müsse jeder halt ein bisschen Souveränitätsverzicht üben. Die Deutschen würden das womöglich mitmachen, aus lauter Angst vor sich selbst, auch wenn ihnen niemand sagen kann, wie ein solches Gebilde aussehen und wie es funktionieren soll. Doch all die anderen, die ein besseres Verhältnis zu ihrem Nationalstaat und der eigenen Kultur haben, denken nicht daran, ihre Eigenständigkeit aufzugeben. Mit wem also soll sie zustandekommen, die Politische Union? Im übrigen habe ich meines Wissens den Abgeordneten des Bundestags keinen Auftrag erteilt, deutsche Selbstbestimmung abzutreten, womöglich zugunsten eines Gremiums, das durch nichts legitimiert ist als durch irgendein „Expertentum“ hochbezahlter Beamter. Träume vom Regiment geistiger „Eliten“ geisterten ja bereits durch die Klimadebatte. Beruhigend ist das nicht: wenn von staatlichem Notstand die Rede ist, der es erzwinge, geltendes Recht und vergangene Beschlüsse fahren zu lassen und dem Wahlvolk kein Votum mehr lässt, wird es Zeit, den Anfängen zu wehren. Können Sie, sehr geehrte Frau Bundeskanzler, den Verdacht entkräften, dass mit dem ESM-Vertrag der Weg zu einer Finanzdiktatur frei wird, womöglich unter der Ägide von Herrn Schäuble, und unter dem Applaus all jener, denen weder ihre Kultur noch ihre Freiheit etwas wert ist? Aufgeschrieben von Cora Stephan, Autorin von „Angela Merkel. Ein Irrtum“. Mit aktuellem Vorwort erschienen im Juni 2012

Wir Untertanen.

  Reden wir mal nicht über das Versagen der Bundes- und Landesregierungen, einzelner Minister, der Frau Kanzler. Dazu ist im Grunde alles ge...