Reminiszenz an einen deutschen Richter
Er war Landgerichtsrat in einer deutschen Kleinstadt, in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts, und dort als schnellster Scheidungsrichter bekannt. Denn die „Schuldfrage“, deren Klärung am meisten aufhielt, interessierte ihn nicht. Dort, in den untersten Schubladen einer Ehe, habe der Staat nichts zu suchen. Weshalb er den Paragraphen 218 (der Abtreibung verbot) ebenso ignorierte wie den Paragraphen 175 (der Homosexualität unter Strafe stellte). Mochte er Schwule und Lesben? Ganz und gar nicht, hätte er gesagt. Oder, lächelnd: kommt auf den Einzelfall an. Denn Sympathie war nicht das Thema. Es ging lediglich um die feste Überzeugung, dass der Staat sich ins Privatleben der Bürger nicht einzumischen hat.
War das „progressiv“? War er gar ein Linker? Fehlanzeige. Den idealistischen Ruf nach Gerechtigkeit konterte er mit einem kühlen „Gerechtigkeit gibt es nicht.“ Und vom Rechthaben und Recht behalten hielt er erst recht nichts. Was man in einem Rechtsstaat erwarten könne, sei Verfahrensgerechtigkeit. Und was man von einem Richter verlangen dürfe, sei ein Urteil – nach Recht und Gesetz. Mehr nicht – aber vor allem nicht weniger. Kurz: Der alte Richter vertrat klassische liberale Positionen. Seine Kinder hielten ihn für einen autoritären Sack.
Wofür man ihn wohl heute hielte, in einer Zeit, in der alle Welt nach Gerechtigkeit ruft, nicht nur zur Weihnachtszeit – und sich niemand mehr fragt, was das denn eigentlich ist? Seine Verachtung für diesen Begriff würde wohl gerade noch als konservativ durchgehen, mit größerer Wahrscheinlichkeit würde man ihn für einen Rechten halten. Diese Begriffsverwirrung hätte den Erzliberalen irritiert. Denn sein Plädoyer für den zurückhaltenden Staat richtete sich ja ebenso gegen den unterdrückenden. Dieser Wolf aber trägt heute einen blütenweißen Schafspelz.
Der betreuende Staat sieht sich nicht als Unterdrücker. Er meint es doch nur gut mit seinen Schützlingen, wenn er noch ihre privatesten Regungen kontrolliert! Rauchen schadet der Gesundheit, Essen und Trinken auch, da gibt es viel zu tun. Der deutsche Gesundheitsminister begann deshalb schon als unter 30jähriger durch viel Verzicht und viel Sport dafür zu sorgen, dass er im Alter niemanden zur Last fällt. Beispielhaft!
Aus reiner Fürsorglichkeit fordern Politiker Rauchfreiheit im öffentlichen Raum und die Lufthoheit über Kinderbetten gleich mit. Und der Bürger, der freie? Der hat sich daran gewöhnt, Objekt des Fürsorgestaates geworden zu sein.
Im Wärmestrom
Die Tyrannei der Intimität ist allgegenwärtig. Politiker verkünden mit heiligem Ernst, „die Menschen“ „an die Hand“ oder „in die Mitte“ oder gar „in den Arm“ nehmen zu wollen, um sie „abzuholen, wo sie stehen“. Gegen diesen Wärmestrom kann der Liberalismus nicht anschwimmen. Seine moralferne Regelorientiertheit gilt als kalt, sein Freiheitspathos ist des Egoismus verdächtig, und das Prinzip, dass, wer Risiken eingeht, für sie auch geradezustehen hat, klingt in Zeiten der kuscheligen „Rettungsschirme“, unter die Banken und Staaten „schlüpfen“ dürfen, geradezu weltfremd. Liberale Nüchternheit wirkt blass angesichts der allfälligen Sehnsucht nach Moral und Wellenschlag, da hilft auch nicht, wenn die deutschen Freien Demokraten in ihrer existentiellen Not den „mitfühlenden Liberalismus“ erfinden. Die anderen sind ihnen, was das Beteuern von „Wärme“ und „Menschlichkeit“ betrifft, weit überlegen. Das einzige, worauf sich Liberale in dieser Betreuungshölle beziehen können, ist ihre Ehrlichkeit: sie werben nicht mit nahezu religiösen Erlösungsversprechen.
Ist das ein deutsches Phänomen, das alte Fremdeln mit dem Liberalismus, das Ludwig Mises einst (1927) sagen ließ: „Der Hass gegen den Liberalismus ist das Einzige, in dem sich die Deutschen einig sind“? Ist deren „gefühlsbetonter Antikapitalismus“ schuld, der immer auch ein „unreflektierter Antiliberalismus“ sei, wie der erste deutsche Bundespräsident Theodor Heuss erkannte?
Offenbar nicht. Weltweit scheint der liberale Individualismus mit seinem Freiheitsverlangen auf dem Rückzug zu sein. In Frankreich ist mit Francois Hollande ein klassischer Vertreter des Fürsorge- und Verteilungstaats an die Macht gelangt. Der väterliche Staat, der benevolente Paternalismus ist unter Obama auch in den USA salonfähig geworden. Selbst die Schweiz, Bastion des freiheitsbewussten Bürgers, scheint sich der Umarmungsstrategie unserer Wärmeapostel nicht völlig entziehen zu können. Sie stellen die mächtigste missionarische Bewegung seit langem. Dazu passt die weltweit wachsende Anziehungskraft eines Islam, der die Gemeinschaft vor den Einzelnen stellt. Die im Westen als Freiheitsbewegung gefeierte Arabellion spielt mittlerweile überwiegend den islamischen Fundamentalisten in die Hände, die das Gegenteil von Freiheit versprechen.
Einen Liberalen wundert das wenig. Er wünscht, weder von einer Minderheit noch von einer Mehrheit unterdrückt zu werden. Wichtiger als die Demokratie ist ihm deshalb die Rule of Law, Rechtsstaatlichkeit, also verlässliche Institutionen und ein klares Regelwerk. Das aber gilt im gefühlsbesessenen politischen Diskurs als kalt, sofern es nicht mit „warmen“ Tugenden wie Solidarität und Mitgefühl unterfüttert wird.
Warum eigentlich? Die Gefühlsferne, die „Objektivität“ der Institutionen hat einen unschätzbaren Vorzug: sie sorgt weit besser als individuelles Mitgefühl dafür, dass auch dem miesesten Charakter geholfen wird, wenn er es nötig hat. Ihre Distanz kennt keine Vorlieben. Der umarmungsfreudigen Kuschelkultur aber fehlt genau jener Respekt, den zivilisierter Kontakt braucht. Es möchte nicht jeder sein Gegenüber „in den Arm nehmen“, mit dem er lediglich konfliktfreien Umgang pflegen will.
Liberalismus und Parteiendemokratie
In Deutschland mag es an der galoppierenden Sozialdemokratisierung der CDU liegen, dass die Freien Demokraten als liberale Partei unkenntlich geworden sind. Und vielleicht ist ja die FDP selbst daran schuld, dass von Liberalismus selten anders als höhnisch die Rede ist. Doch jenseits ihrer konkreten Erscheinungsform gibt es einige systematische Gründe dafür, dass der Liberalismus sich nicht mit der heutigen Form der Parteiendemokratie verträgt.
Jeder Spindoctor weiß: Wählerstimmen gewinnt man nicht durch Überzeugungsarbeit, sondern indem man Gefühle anspricht und Wahlgeschenke vergibt. Symbolische Politik ist dabei noch die kostengünstigste Weise, sowohl aufdringliche Lobbys als auch den gemütvollen Zeitgeist zu befriedigen. Beliebt ist das rein kosmetische Verfahren von Sprachregelungen, die gefühlten oder tatsächlichen Minderheiten schmeicheln. Fruchtbar auch die Forderung nach Frauenquoten, vor allem in Bereichen, in denen der Staat nichts zu sagen hat. Und immer wieder populär: der „Kampf gegen Rechts“. Soeben wird in Deutschland das Verbot der NPD betrieben, obzwar sich denken lässt, dass damit das Phänomen nicht verschwindet, sondern höchstens in den Untergrund gedrängt und damit unkontrollierbar wird.
Am wirkungsvollsten aber ist und bleibt die Ausgestaltung „sozialer Wärme“ durch entsprechende finanzielle Kuscheldecken. Das Betreuungsgeld, das Menschen erhalten sollen, die von einer staatlichen Leistung, nämlich Kinderbetreuungseinrichtungen, keinen Gebrauch machen wollen, ist ein schönes Beispiel dafür. Nach dieser Logik müssten sich auch jene, die andere subventionierte Institutionen wie Oper oder Theater nicht in Anspruch nehmen, ihren Verzicht bezahlen lassen. Aber um Logik geht es ja nicht, sondern um die Vergabe von „Wohlfühlgutscheinen des Sozialstaats“ (Rainer Hank), die sich im Wahlkampf bemerkbar machen soll.
Auch deshalb ist der Kampf gegen die Staatsverschuldung oder für eine wachstumsförderliche Steuersenkung vergebens. Wer gegen das „Betreuungsgeld“ einwendet, es sei doch insgesamt entschieden besser, Familien einfach weniger Steuern abzunehmen, sodass sie selbst entscheiden können, wie sie ihr Geld einsetzen, hat das Prinzip nicht verstanden. Die ehrliche Lösung würde ja die Illusion zerstören, dass der Staat seinen Bürgern etwas schenkt, und die hässliche Wahrheit entblößen: dass er seine Wohltaten aus den Steuern bestreitet, die er ihnen vorher abgenommen hat.
Dass ausgerechnet die Liberalen notorisch im Verdacht stehen, lediglich die Interessen ihrer Klientel zu bedienen, während alle anderen angeblich nur das Gemeinwohl im Auge haben, ist schon ein Witz. Warum sie sich dagegen selten selbstbewusst zur Wehr setzen? Weil sie Teil des Systems sind: wer das Spiel „wer fordert mehr soziale Gerechtigkeit“ nicht mitspielt, gerät ins Abseits.
Dabei waren doch einst die Liberalen die letzten Vertreter einer Parteilichkeit im hergebrachten Sinn: Sie vertreten die Interessen ihrer Wähler und beanspruchen nicht, statt dessen das Klima, die Natur oder gleich die ganze Welt zu retten. Interesse aber gehört zu jenen Begriffen, die im politischen Geschäft als „kalt“ konnotiert sind. „Interesse“ klingt nach Kalkül. Nach Rechenhaftigkeit. Nach kalten, nackten Zahlen. Nach unmoralischen, also niederen Beweggründen. Dabei ist es die ehrlichere Kategorie: „Furcht und Eigennutz“ (Heinrich Heine) machen menschliches Verhalten kalkulierbar, hinter der hochmoralischen Gesinnung hingegen kann sich alles verbergen, der historischen Beispiele sind viele.
Wer Interessen benennt, partikulare, natürlich, beendet das Versteckspiel hinter wolkigen Wohlfühlvokabeln und eröffnet das Spiel konkurrierender Interessen. Wer sich hingegen auf die Gattung beruft (die Natur, das Klima), macht sich unangreifbar. Das, nicht die Konkurrenz der Interessen, ist totalitär.
Weltretter und Gattungsvertreter
Wer das Gattungsinteresse hinter sich weiß, macht sich unangreifbar, unterläuft also die Konkurrenz der Partikularinteressen. Das hat große Vorteile, die schon die historische Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts erkannt hatte. Die Kommunisten haben das Prinzip im 20. Jahrhundert brutal perfektioniert. Die Grünen machten es später zum Erfolgsmodell, Angela Merkel könnte heute daran scheitern.
Einer der Gründungsväter der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, Ferdinand Lassalle, konnte kühn behaupten, die Arbeiterbewegung vertrete die Menschheit, weil er einfach 97 % der Menschheit zu den Arbeitern zählte. Mit der Menschheit aber kann man nicht verhandeln – und vor allem darf man sich nicht an ihr versündigen. Konkret hieß das: die SPD stand über den Parteien, war unangreifbar und für den Kompromiss, der aufs Aushandeln konkurrierender Interessen folgt, nicht zu haben. Auch das war Teil der Tragödie der Weimarer Republik.
Auch die Grünen haben sich zu Beginn als Nicht-Partei verstanden, da sie ja nicht parteilich seien – wer ist schon gegen die Natur? Doch schon lange tummeln sich hinter dieser ideologischen Nebelwand mächtige Lobbies, ja, ein ganzer ökologisch-industrieller Komplex, der von den Subventionen lebt, mit denen in Deutschland die im Alleingang beschlossene Energie“wende“ betrieben wird. Im Dienste der guten Sache werden Marktmechanismen ausgeschaltet und Steuergelder vergeudet.
Angela Merkel versteht sich zwar auf nationale Interessen, aber redet nicht gern darüber. Denn ins Geschichtsbuch kommt man nur mit größeren Sachen, und die deutsche Wiedervereinigung kann man leider nicht wiederholen. Der Kampf gegen die „Klimakatastrophe“ ließ sich zunächst gut an, die geht ja nun wirklich die ganze Menschheit an, oder? Doch „die Menschheit“ tagte und tagte und konnte sich so gar nicht auf „Klimaziele“ verständigen. Weil man nicht weiß, ob es einen Klimawandel gibt, und ob er, wenn ja, zur Katastrophe wird, und was man dagegen machen kann, sofern man sich nicht einfach darauf einstellen will, ist das Thema mittlerweile ins Hintertreffen geraten. Nun will die Bundeskanzlerin Europa retten, aber auch daran kann man scheitern, denn womöglich liegt es gar nicht im Interesse Europas, wenn der Euro, Banken oder fallierende Staaten gerettet werden.
Das alles sind Steilvorlagen für liberal Gesonnene. Warum also stellt sich der Liberalismus tot? Weil er den Mainstream und die „Moralkeule“ fürchtet?
Moral ist die brutalste Waffe
Wir leiden nicht an zu wenig, sondern an zu viel Moral in der Politik. „Je offensichtlicher man in der politischen Praxis gegen elementare Regeln gemeiner Rechts- und Moraltradition verstößt, um so intensiver wird die moralische Reflexion, die unter Berufung auf das höhere Recht einer ideologisch fortgeschritteneren Wirklichkeitsorientierung jene Verstöße zu legitimieren weiß.“ (Hermann Lübbe).
Im politischen Diskurs hat die moralisierende Argumentation mittlerweile zu einer schmerzenden Verrohung der Sitten geführt. Dem Gegner wird nicht mit Sachargumenten widersprochen, sondern man empört sich über seine Person; man hält seine Meinung nicht für legitim, sondern für den Ausdruck seiner moralischen Verkommenheit. Den Angriff ad hominem und den öffentlichen Pranger ertragen nur die Stärksten. Die Menschen mit dem guten Gewissen aber finden nichts dabei, etwa Thilo Sarrazin eine „lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur“ zu nennen oder sich zur Hoffnung zu bekennen, dass ihn ein Schlaganfall final ereilt. „Moral ist überhaupt die stärkste – sollte man sagen: brutalste oder vulgärste – Waffe der Gegner des Liberalismus.“ (Rainer Hank). Moralattacken enden mit dem Triumph der guten Gesinnung über die Gesetze des Verstandes. Es siegt der Tugendterror. Sind Liberale zu wohlerzogen, sich dagegen zu wehren?
Sternstunde des Liberalismus
Eigentlich könnte die europa-, ja weltweite Staatsschuldenkrise eine Sternstunde des Liberalismus sein. Es hat sich doch längst herumgesprochen, dass es nicht anonyme Kräfte wie „die Finanzmärkte“ sind, die an der Staatsverschuldung „schuld“ sind, sondern dass das Schuldenmachen politisch gewollt ist – um, natürlich, Gutes zu tun. „Die meisten Parteipolitiker“, sagt Peter Sloterdijk, „glauben an die wohlmeinende Kleptokratie.“ Und so wird auch heute nicht „gespart“, vor allem nicht in Deutschland, dessen Kanzlerin sich als Sparkommissarin gibt. Man verschuldet sich lediglich ein bisschen weniger, gibt also nicht ganz so viel von jenem Geld aus, das man nicht hat, sondern erst in späterer Zeit erwirtschaften (lassen) will. Und außerdem gibt es ja noch ein probates Mittel: Steuererhöhungen. Schließlich brauchen auch die Griechen unsere Hilfe und „Solidarität“. Wer wollte da kleinlich sein und darauf verweisen, dass der Bundeshaushalt aus den Steuern der Bürger besteht, die der Staat lediglich treuhänderisch verwalten soll? Und dass man Solidarität nicht mit fiskalischen Zwangsmaßnahmen herstellt?
Frankreich zeigt, wie es geht. Die Regierung Francois Hollandes treibt ihre Reichen mit exorbitanten Steuern außer Landes, etwa Gerard Depardieu, der sich nun schmollend nach Belgien zurückgezogen hat. Da muss jemand mal sehr genau nachgerechnet haben: Je mehr „Reiche“ aus der Bilanz gestrichen werden können, desto wohlhabender sind die Zurückbleibenden. Im Schnitt und relativ gesehen. Absolut allerdings wird niemand davon reicher.
Kann man noch darauf hoffen, dass endlich jemand die Nebelwand durchstößt und mit spitzem Finger auf die neuen Kleider des Kaisers zeigt? Der Parteienstaat hat bewiesen, dass er mit dem Geld seiner Bürger nicht umgehen kann. Ein liberaler Befreiungsschlag wäre, daraus die Konsequenzen zu ziehen. Wenn der Staat endlich wieder seinen Bürgern die Entscheidung überließe, was mit ihrem Geld geschieht, profitierte nicht nur die Freiheit. Sondern wahrscheinlich auch der Wohlstand.
Und wäre es nicht schön, wenn Leute wie Gerard Depardieu nicht nur in Belgien Asyl fänden? Der Mann gilt dort, wo er noch wohnt, in Paris, als Wohltäter, der anderen aus der Patsche hilft. Willkür des Vermögenden? Oder angesichts eines Staates, der das Geld seiner Bürger verschleudert, eine echte Alternative?
In: NZZ, 29. 12. 2012
Sonntag, 30. Dezember 2012
Dienstag, 11. Dezember 2012
Päckchen nach drüben
Der Duft. Daran erinnern sich alle: wie es gerochen hat, als das Päckchen gepackt wurde, zu Hause, im Westen. Und welchen Duft es verströmte, wenn es endlich ankam – bei der Großmutter und den Tanten und Cousinen in Nordhausen im Harz. In der Zone. Ungeheure Weiten lagen damals zwischen Niedersachsen und Thüringen, da konnte es passieren, dass sich unter den intensiven Duft von Bohnenkaffee und Kakao und Schokolade und Seife der nicht weniger intensive von angeschimmelten Apfelsinen gemischt hatte. Da hatten es die in Niedersachsen besser, die auch was auspacken durften. Vielleicht war der Christstollen aus Dresden ein bisschen trocken geworden auf der langen Reise. Und der Tannenzweig nadelte. Aber da war ja noch Flüssiges, die Flasche mit dem Nordhäuser Korn und manchmal auch eine mit Danziger Goldwasser. Schnaps war reichlich, drüben.
„Päckchen nach drüben“ gab es bei uns zu Hause jeden Monat. Aber zu Weihnachten machte die Sache am meisten Spaß, sogar die Kerze im Fenster für die Brüder und Schwestern in der Zone, in gedrechselten Holzständern aus der Behindertenwerkstatt, war dann keine Pflichtübung mehr. Auch nicht die Postkarten, die das Siegel „Mit dem Munde gemalt“ trugen. Und endlich zahlte sich die Zurückhaltung aus, in der sich die Kinder das ganze Jahr lang üben mussten: Nie wurde das Einwickelpapier zerrissen, in das ein Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenk gehüllt war. Wir alle waren Spezialisten im Aufknüpfen von Schleifen, und meine Schwester bügelte das Geschenkpapier, bevor es im „Päckchen nach drüben“ wieder zum Einsatz kam. „Drüben“ war das nicht anders. Jeder Bindfaden, jedes Papierchen wurde aufgehoben. Nachhaltigkeit war nichts, was man sich erst angewöhnen musste.
In der Familie meiner Mutter war das „Päckchen nach drüben“ nie eine einseitige Sache gewesen, also auch keine Geste der Herablassung der von der Geschichte Begünstigten, und dass es sich um eine „Geschenksendung, keine Handelsware“ gehandelt hätte, stand zwar vorschriftsgemäß draußen auf dem braunen Paketpapier, wurde aber erst in den Jahren des Wirtschaftswunders wahr, in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. In der unmittelbaren Nachkriegszeit, seit meine Mutter 1947 Thüringen gen Niedersachsen verlassen hatte, entwickelte sich zwischen ihr und ihrer Mutter ein Tauschhandel mit klaren Bilanzen.
Die Währung, die vom Westen nach Osten ging, hieß Bohnenkaffee und Fett: „Palmsonne“ nannte sich das Kokosfett, 1952 kam „Eigelb“ hinzu, ein „Spitzenerzeugnis der deutschen Margarineindustrie“, wie meine Mutter völlig ohne Ironie schrieb. 10 Pfund verschickte sie als Monatsration. Auch „Bommer“ oder „B.N.C.“ waren nicht für den Eigenbedarf gedacht, sondern zum Tauschen geeignet – Bommerlunder und Nescafé in der Büchse. Dafür versorgte meine Großmutter ihre älteste Tochter mit Kinderkleidchen, viel Selbstgestricktem und Waren, die in der Zone günstiger zu haben waren als im Westen: Schirme und Biergläser. Bücher. Regenmäntel und Taschen, die auch im Bekanntenkreis meiner Mutter Absatz fanden. Aus Igelit – ganz wie die Wachstuchtischdecken, die so praktisch und abwaschbar waren, eine schöner als die andere.
Meine Mutter wusste nicht, was sie sich damit ins Haus holte und was sie an die Bekannten verkaufte. Aber wahrscheinlich wäre ihr das egal gewesen. Igelit wurde im vormaligen IG-Farbenwerk in Bitterfeld und in den Buna-Werken in Schkopau in großen Mengen produziert, ein Weich-PVC, das als Lederersatz für Schuhe („Im Sommer heiß, im Winter kalt“) und eben auch für Taschen und Regenmäntel genutzt wurde („Hast du Igelit im Haus, kannst du auch bei Regen raus“). Das Material strömte einen starken Geruch aus – „so roch die DDR“ – und war auch sonst nicht ohne. Der darin enthaltene Weichmacher gab eine Substanz ab, die Nervenlähmungen verursachen konnte. Schon 1950 schränkte man in der DDR die Verwendung ein, aber erst im Sommer 1952 verbot man auch die Produktion von Suppenwürze (Bino) und Brühwürfeln, die aus Abfallprodukten der Igelit-Herstellung gewonnen worden waren. „Ostzonen-Suppenwürfel bringen Krebs!“ titelte die Bild am 2. 8. 1952. Wir frühstückten am wachstuchbespannten Küchentisch also an einer Zeitbombe.
Davon abgesehen war der Austausch mit den Verwandte drüben wenig problematisch. Der Mangel machte erfinderisch. Stoffe und Schnitte gingen hinaus – Mäntel und Kleider kamen zurück. Allerdings brauchte die Post in den 50er Jahren auch mal drei Monate, und dann war der Winter schon vorbei, für den die warmen Sachen gedacht waren. Meine Jugend verbrachte ich in Kleidung made in the GDR. Nur mein Vater verweigerte die guten wollenen Socken – man sei, schrieb meine Mutter im Sommer 1952, „doch schon recht verwöhnt hier drüben“.
1954 erließ die DDR-Führung eine „Verordnung über den Geschenkpaket- und -päckchenverkehr auf dem Postwege mit Westdeutschland, Westberlin und dem Ausland“, da man den Missbrauch des Paketverkehrs „zu Spekulationszwecken“ verhindern wollte. In jedes Paket gehörte eine Liste der enthaltenen Güter und auf jedem Paket hatte „Geschenksendung, keine Handelsware“ zu stehen. Den ostdeutschen Empfängern war der Verkauf oder der Tausch der empfangenen Waren untersagt, woran sich wahrscheinlich kaum einer hielt. Vor allem aber wurde die Menge jener Genussmittel beschränkt, an denen es in der DDR am meisten mangelte: Kaffee, Kakao, Schokolade und Tabak.
Unsere Verwandten wiederum durften uns kein Porzellan oder Glaswaren mehr schicken, keine optischen Geräte, bis dahin ein absoluter Pluspunkt, und keine Kunstgegenstände und Antiquitäten, von denen man „drüben“ doch noch einiges hatte. Auch deshalb wurde der Austausch nun zunehmend einseitig.
Im Westen tat man alles, um das Band zwischen Ost und West zu stärken. Das „Päckchen nach drüben“ war steuerbegünstigt, wofür man ebenfalls Listen führen musste - der Warenstrom von West nach Ost ist deshalb ausgezeichnet dokumentiert. Er nahm seit 1956 zwar leicht ab, stieg aber nach dem Mauerbau 1961 wieder steil an. Seit 1978 wurden regelmäßig zwischen 25 und 26 Millionen Pakete und Päckchen im Jahr aus der Bundesrepublik in die DDR geschickt. Aus der DDR kamen im gleichen Zeitraum jährlich um die neun bis elf Millionen Sendungen an. Die vielen gutgemeinten Appelle, die Brüder und Schwestern im Osten nicht zu vergessen, brauchten wir nicht. Für meine Mutter war das selbstverständlich.
Wann aber begann das „Päckchen nach drüben“ Teil einer schleichenden Entfremdung zu werden? Wann empfanden sich die Verwandten im Osten in der Lage des ewigen Bittstellers, der sich mit den Brosamen vom Tisch der reichen Verwandten begnügen musste?
Schon in den 60er Jahren geriet der rege Paketaustausch in Schieflage. Im Westen passierte das Wirtschaftswunder, im Osten übte man das Schlangestehen. Während man sich im Westen längst Luxusseifen leisten konnte – damals wurden die parfümierten Seifen von Roger Gallet Mode – kamen ins Ostpaket immer noch die gute Seife Fa, die erheblich billiger war. Erst nach der Wende ernteten wir spitze Bemerkungen dafür. Dabei waren wir völlig unschuldig: ins Paket kam, was auf dem Wunschzettel stand. Dass unsere Verwandten nichts anderes kannten als die gute Fa, kam uns wohl nicht in den Sinn.
1974 ging ein großes Kleiderpaket für eine meiner Tanten an uns zurück. Bis dato war es kein Problem gewesen, auch getragene Kleidung zu verschicken. Nun mussten alle Kleidungsstücke nicht nur luftdicht verpackt, sondern auch ordnungsgemäß entseucht werden, was das Leben ein wenig anstrengender machte, aber meine Mutter nicht hinderte. Die Unterstellung der DDR dabei, die bis heute kolportiert wird: die reichen Verwandten im Westen schickten ihre „abgetragenen“ Klamotten nach drüben, verdreckt, verfloht und verlaust.
Wie oft das wirklich vorgekommen ist – wer weiß das schon zu sagen. In meiner Familie aber ist dokumentiert, dass die jüngere meiner Tante einst mit klassenkämpferischem Stolz eine Sendung mit eleganten Kleidungsstücken meiner Mutter zurückgewiesen hatte. Sie trage zu Hause nur praktische Sachen. Meine Mutter gestand, nicht wirklich reumütig, dass sie wohl „Attribute einer gewissen Wohlstandsgesellschaft“ verschickt habe und versandte im nächsten Paket Vistram-Hosen und Helanca-Pullover für die Kinder ihrer Schwestern, im Schlussverkauf günstig erstanden.
Paradoxie pur: Ein ehemaliger Geschäftsführer einer sogenannten Westdeutschen Handelsagentur, die Textil-Geschäfte mit Osteuropa vermittelten, klärte mich darüber auf, dass die Helenca-Pullover und V-Hosen in der DDR gefertigt und dann "für einen Appel und ein Ei" in den Westen exportiert wurden. Dort wurden sie durch eine elfprozentige Steuerrückvergütung der Bundesregierung noch einmal subventioniert, was sie schließlich für den Schlussverkauf lukrativ werden ließ. Von dort fanden sie den Weg zurück - „entweder nach Anatolien oder in die DDR“.
Von einem gleichberechtigten Austausch konnte nicht mehr die Rede sein. Ein Wunder also, dass die Beziehung zwischen Ost und West über vierzig Jahre lang, mit nicht geringem Einsatz auf beiden Seiten, aufrechterhalten wurde. Doch in nicht wenigen Familien kam 1989 die Stunde der Wahrheit. Viele der beschenkten „armen Verwandten“ im Osten hatten das Gefühl, immer nur von der Resterampe bedient worden zu sein. In vielen Westfamilien hatte man schon lange eine gewisse Anspruchshaltung gespürt. War man vielleicht all die Jahre über ausgenutzt worden? Verständnis für beide Seiten zu haben gelang nicht immer. Manch eiserne Familienbande zersprangen.
Der private Austausch zwischen Ost und West hatte einen zwiespältigen Effekt: „Dein Päckchen nach drüben“ hat die DDR stabilisiert. Ihr Inhalt glich den ewigen Mangel aus, die private Einfuhr an Kakao etwa war noch 1986 fast doppelt so groß wie die Menge, die in den Handel kam. Und über die „Genex“ bereicherte sich das sozialistische System zusätzlich an der Hilfsbereitschaft aus dem kapitalistischen Westen: mit diesem Geschenkdienst konnte der BRD-Bürger seinen Brüdern und Schwestern Mangelgüter der DDR schenken und die überhöhten Preise mit Devisen bezahlen.
Ohne die Hilfsbereitschaft des Westens wäre die DDR früher gescheitert. Daran aber haben die Menschen beim Päckchenpacken zuletzt gedacht.
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