Donnerstag, 26. November 2015

Wenn Syrer Unter den Linden Kaffee trinken...

Polens neuer Außenminister hat sich gleich zu Beginn seiner Amtszeit gewaltig in die Nesseln gesetzt. Witold Waszczykowski von der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (Pis) hat die syrischen Flüchtlinge in Europa zum Kampfeinsatz in ihrer Heimat aufgefordert und hat ihnen Hilfe dabei angeboten, eine Armee aufzubauen. So könnten sie gut ausgebildet zurückkehren, um ihr Land zu befreien, und müssten das nicht anderen überlassen. Es gehe schließlich nicht an, „dass wir unsere Soldaten in den Kampf nach Syrien schicken, während Hunderttausende Syrer Unter den Linden ihren Kaffee trinken", sagte Waszczykowski.

Nun hat noch niemand hunderttausende junger Syrer beim Kaffeetrinken im „Einstein“ beobachtet oder von der polnischen Armee einen Auslandseinsatz in Syrien gefordert. Doch abgesehen davon hat das Argument einiges für sich.

In Deutschland sind die Äußerungen von Waszczykowski als wirres Gequassel wahrgenommen worden – sofern sie überhaupt jemand zur Kenntnis genommen hat. Warum eigentlich? Weil wir so friedfertig sind, gern auch stellvertretend? Weil wir den Kampf um Syrien lieber selbst aufnehmen wollen? Weil wir darauf warten, dass die Amerikaner die Dinge regeln? Oder weil wir in jedem Ankömmling, auch wenn es ein kraftstrotzender Jüngling ist, ein armes Opfer sehen, zu dem man sich helfend herabbeugt?

Das allerdings wäre eine Unterschätzung, die geradezu beleidigend ist.

Oder weil wir, was Asyl und Schutz betrifft, einem Missverständnis aufsitzen? Die Debatte in Deutschland über das, was angesichts der massenhaften Einwanderung zu tun ist, nimmt manchmal seltsame Züge an. Obzwar wir noch immer nicht wissen, wer kommt und wieviele und wer sich bereits zu Hunderttausenden unerkannt im Land aufhält, wird vor allem darüber geredet, wie die in großer Zahl Ankommenden zu „integrieren“ seien. Allen, nicht nur den Migranten, scheint unbekannt zu sein, dass jene, die einen Anspruch auf Asyl oder subsidiären Schutz erhalten, damit keineswegs schon „Neubürger“ sind. Asyl und Schutz werden vorübergehend gewährt – solange, bis die Situation im Herkunftsland als sicher eingestuft werden kann. Etwas, worauf man, wenn man es schon kaum glauben mag, doch wenigstens hoffen kann. (Und wozu eine syrische Exilarmee ihren Beitrag leisten könnte.)

Wir unterliegen hierzulande der normativen Kraft des Faktischen: aus der Tatsache, dass die Bundesländer in der Vergangenheit ihrer Verpflichtung zur Ausweisung nur in seltenen Fällen nachgekommen sind (weil es hässliche Bilder produziert), wird auf dauerhaftes Bleiberecht geschlossen, werden Asylsuchende und Schutzbedürftige also wie Einwanderer behandelt. Doch der Unterschied zu klassischen Einwanderungsländern ist signifikant: Deutschland hat sich nicht ausgesucht, wer ins Land einwandert.

Wohl deshalb wird der Nebelwerfer angeworfen und jeder zweite Syrer zum wunderbaren Geschenk des Himmels und hochqualifizierten Arzt erklärt. Selbst wenn das stimmte: würde der nicht weit dringender gebraucht, wenn es darum geht, das zerrüttete Land wieder in eine Heimat zu verwandeln, in der man ohne Gefahr leben kann?

So beschönigt man also entweder die Lage: viele der Ankommenden (Genaues weiß man ja nicht) haben keine Ausbildung, die ihnen hierzulande Arbeit verschafft, die hohe Zahl von Analphabeten unter ihnen verschafft höchstens Sprachlehrern im Staatsdienst Arbeit. Oder man verhält sich blind egoistisch: doch wie verträgt sich das mit unserer Empathie, einer leidenden Bevölkerung ausgerechnet die Hochqualifizierten abzuwerben?

Waszczykowskis Vorschlag hingegen lautet: Hilfe zur Selbsthilfe. Muss man, um ihn zu verstehen, die polnische Geschichte kennen? Vielleicht. Nachdem Stalin und Hitler sich Polen 1939 einverleibt hatten, wurde bereits im November in der Bretagne eine polnische Exilarmee aufgestellt. 1940 gingen die polnischen Truppen nach England, wo bereits viele Polen in der Navy und in der Royal Air Force dienten. Polnische Piloten kämpften unter hohen Verlusten im Luftkrieg gegen das Deutsche Reich. Auch der polnische Beitrag beim Knacken der mit der „Enigma“ verschlüsselten deutschen Funksprüche war erheblich.

Können die Syrer das nicht? Es wäre dringend nötig, denn eine Befriedung Syriens wird nie mit ausländischen Truppen gelingen, dort können nur Syrer siegen.

Doch auch für Deutschland selbst wäre der Aufbau einer syrischen Exilarmee ein Ausweg aus einem Dilemma. Nach allem, was wir wissen, ist noch immer die Mehrzahl der Einreisenden jung und männlich. Sie bringen nicht nur sexuellen Frust und heimische Konflikte mit, die sich schon mal in Schlägereien im Lager entladen, sie sind auch in der Masse das, was noch jede Gesellschaft in der Vergangenheit gefürchtet hat (und wovon nur wir in unserer friedlich alternden Gesellschaft keine Vorstellung mehr haben). Im mittelalterlichen Europa bedeutete die Vielzahl junger Männer, die weder ein Erbe antreten noch heiraten oder zum Klerus gehen konnten, die also bindungs- und hoffnungslos waren, einen ständigen Unruheherd. Ihre Selbstdisziplinierung in Turnierkämpfen und Ritterheeren war eine Kulturleistung, die der europäischen Gesellschaft Luft verschaffte.

Doch man muss gar nicht so weit zurückgehen: auch in den USA war die Armee viele Jahre lang eine Chance für Männer und Frauen, die im Zivilleben keine Aufstiegsmöglichkeiten hatten. Die Armee bot Lohn und Ausbildung und, nicht zuletzt, Kanalisierung überschüssiger Energie und Aggression.

Es gibt besseres zu tun für junge Syrer als das Leben im Lager zu fristen, mit unklaren Aussichten auf eine Existenz in einer fremden Kultur.

Eine Frage bleibt bei alledem allerdings offen: wogegen soll eine syrische Exilarmee kämpfen? Gegen Assad? Gegen den IS? Gegen all die anderen Terroristen?

Und was ist mit all den anderen jungen Männer: den Afghanen, etwa?

Fragen wir Witold Waszczykowski. Er wird uns noch mindestens eine Legislaturperiode erhalten bleiben.




Freitag, 20. November 2015

Staatsversagen Teil 2

Ich bin in Frankreich, während ich dies schreibe, nicht in Paris, sondern in tiefster Provinz, wo die Hauptstadt fern ist. Vielleicht liegt es auch an dieser nicht nur räumlichen Distanz, dass das Leben am Samstagvormittag auf dem Wochenmarkt in Les Vans seinen üblichen heiteren Gang ging. Man saß im „Dardaillon“, aß und trank, redete und lachte und feierte das Leben. Doch ist das nicht genau das richtige in diesem Moment: sich die Freude am Leben nicht nehmen zu lassen? Denn natürlich zielten die Anschläge von Paris - auch – genau darauf: auf leere Restaurants und Clubs, auf Straßen und Plätze ohne eine Menschenseele.

Nicht mit uns, scheinen die Franzosen zu signalisieren. Trauer um die Toten? Natürlich. Doch zugleich kraftstrotzender (und kraftmeierischer) Aktivismus des Präsidenten – und das Absingen der Marseillaise, auch das nicht gerade ein Lied, das zum gemeinsamen Teetrinken mit dem Feind einlädt.

Von Frankreich aus befremdet manch Statement aus Deutschland, wo Politiker es offenbar wichtiger finden, den inneren Feind (der natürlich „rechts“ steht) zu bekämpfen. Dass „die Rechten“ den Terrorakt „instrumentalisieren“ könnten, wird von Ralf Stegner bis Hannelore Kraft als mindestens zweitwichtigste Botschaft ausgegeben – einen Hinweis, wie man auf mörderischen Terror reagieren will, vermisst der Bürger hingegen. Tabu scheint auch zu sein, über die von der Bundeskanzlerin angeordneten offenen Grenzen zu diskutieren, das sei, so lautet die Parole, eine unangebrachte Vermengung mit der „Flüchtlingsfrage“. Und natürlich dürfe es nun keinen „Generalverdacht“ geben – weder gegen Migranten noch gegen Muslime, eine Warnung, die etwas voraussetzt, wofür ich in der breiten bundesdeutschen Öffentlichkeit keine Anzeichen entdecken kann.

Nun müsste eigentlich jedem klar sein, dass das alles Signale sind, die nicht nur von den deutschen Eingeborenen vernommen werden, an die sie sich richten. Sie kommen auch bei denen an, die mit ihrem mörderischem Terror ihrerseits Signale senden. Die westliche Kultur und ihre Feinde sind kommunizierende Röhren, beide Seiten senden Botschaften aus. Die Mörder von Paris hatten nicht nur die offene und öffentliche Lebensfreude im Visier, sondern wollten Menschen töten, und zwar, jedenfalls in der Konzerthalle Bataclan, offenbar möglichst viele Jugendliche.

Dieses Signal bedarf eigentlich keiner Interpretation, denn das ist ja doch die Achillesferse der meisten westlichen Länder: Kinder sind umso kostbarer, je seltener sie geworden sind, ihr Tod tut besonders weh. Und: was selten ist, riskiert man nicht. Eine alternde Gesellschaft ist ein zahnloser Tiger, sie kann nicht, wie die Gegenseite, eine Vielzahl junger starker Männer zu ihrer Verteidigung ins Feld führen, sondern höchstens eine Rentnerband. Die hohnlachende Botschaft der IS-Terroristen an die postheroische Gesellschaft lautet: seht her, ihr alten weißen Männer, ihr könnt eure Frauen und die wenigen Kinder, die ihr ihnen gemacht habt, nicht beschützen, ihr seid es wert, auszusterben.

Und welche Signale kommen aus Deutschland, geht man nach den Äußerungen seiner führenden Köpfe? Nicht Mitmenschlichkeit, wie es die große Geste Angela Merkels behauptete, sondern Schwäche bis zur Selbstaufgabe. Wer behauptet, dass Staatsgrenzen nicht geschützt werden könnten, hat sich bereits aufgegeben. Tatsache ist, dass geschätzte 300 000 Migranten ohne Registrierung über die Grenze nach Deutschland gelangt sind, von denen man nicht weiß, wer und wo sie sind. Gefährlich ist daran nicht, dass sich unter ihnen ein großer Prozentsatz von Terroristen und Schläfern, also künftigen Terroristen befinden könnte (eine Befürchtung, die im übrigen kein „Generalverdacht“ ist), der Terror kennt andere Wege, um einzusickern. Gefährlich daran ist das Signal, dass Deutschland kein souveränes Land mehr ist, das über seine Grenzen bestimmen kann – und dass Europa das auch nicht mehr kann.

Womöglich ist es eine besondere Perfidie der Terroristen gewesen, dafür zu sorgen, dass ein syrischer Pass bei einem von ihnen gefunden wurde, der darauf schließen ließ, dass er über Griechenland nach Frankreich gekommen ist. Egal – auch das ist ein Signal, das unschwer zu verstehen ist: ihr rühmt euch eurer Mitmenschlichkeit, dabei habt ihr euch lediglich aufgegeben. Es schadet manchmal nicht, sich durch die Augen der anderen zu betrachten.

Was tun? Man kann die Gefahr durch Terroristen, die bereitwillig ihr eigenes Leben riskieren, nicht ausschließen, das wäre eine Welt, in der wir freiheitsdurstigen Europäer nicht leben wollten. Aber wir könnten zumindest zeigen, dass wir unser Leben und unsere Zivilisation für etwas halten, was schützenswert ist. Und das beginnt an der Außenhaut, an der Grenze, nämlich.

Man möchte in der jetzigen Situation gewiss nicht unter den Besserwissern sein. Und dennoch: es gibt so viele Fragen, die nach einer Antwort verlangen. Die Politiker Frankreichs, Großbritanniens und der USA haben es in den vergangenen Jahren ohne erkennbare Not geschafft, die Region zu destabilisieren, aus der so viele fliehen: in Libyen, in Syrien, im Irak. Weil man auf die Arabellion setzte? Dann hat man sich Illusionen gemacht.
Europa hat es nicht geschafft, Griechenland und Mazedonien schon vor drei Jahren bei der Bewältigung der Migrantenströme zu helfen. Die Quittung: nun muss man sich von der Türkei und Griechenland erpressen lassen, denen man die unangenehmen Aufgaben überlässt, damit man weiterhin der Welt ein freundliches Gesicht zeigen kann.

Das ist nicht nur verlogen, es enthüllt auch den westlichen Menschenrechtsinterventionismus als unholden Wahn. Denn plötzlich kommen sie gerade recht, die starken Männer, Assad oder Putin, weil sie können, was ein vor unschönen Bildern zurückschreckendes Publikum hierzulande nicht ertragen würde: die Explosivkräfte gewaltsam unter dem Deckel zu halten.

Die Migrationsbewegung, die wir gerade erleben, ist längst, völlig ungeachtet der Motive der Menschen, die sich da auf den Weg gemacht haben, zur Waffe geworden. Ja, sie werden instrumentalisiert: aber sicherlich am wenigsten von denen, die die Weisheit der Regierenden bezweifeln.

Wir schwenken Friedensfahnen. Die anderen aber erkennen darin das weiße Tuch der Kapitulation.
Man könnte verzweifeln.

Montag, 16. November 2015

Staatsversagen

Es war ein strahlender Sommer und ein wunderbarer Herbst. Doch dann hatte er uns wieder, der November, der deutsche Schicksalsmonat. Weltkriegsende und Novemberrevolution, Reichskristallnacht und Deutscher Herbst – der November ist nicht gut für dieses Land, trotz des einen großen Lichtblicks: am 9. November 1989 fiel die Mauer.

Im November 2015 aber starb das Vertrauen.

So werden sie vielleicht beginnen, die Erzählungen in künftigen Jahren. 2015 – das war das Jahr, in dem uns das Vertrauen verloren ging. Vertrauen in die Politik: sowieso. In die Medien: schon passiert. In die Meinungsfreiheit: dito. Darin, dass es bei uns nach Recht und Gesetz zugeht, dass keine Willkür herrscht, dass nicht nach Notstand regiert wird, ohne dass er wenigstens ausgerufen worden wäre: unterwegs.

Werden wir uns erinnern an das Jahr 2015 als das Jahr eines Staatsversagens , wie wir es nach 1945 im Westen Deutschlands nicht erlebt haben?
Das, was falsch und beschönigend Flüchtlingskrise genannt wird, erweist sich mehr und mehr als Krise unserer Republik – eine Krise mit Ansage, die das Versagen aller Instanzen illuminiert. Denn man wusste ja seit langem, was auf das Land zukam. Krieg in Syrien gibt es nicht erst seit gestern. Flüchtlingsströme sind bereits seit 2014 unterwegs, schon damals haben Sicherheitsbehörden Alarm geschlagen: Italien und Griechenland sichern die EU-Außengrenze nicht mehr, Schengen ist faktisch außer Kraft gesetzt. Die EU-Grenzbehörde Frontex warnt im März 2015 vor einem neuen Flüchtlingsrekord. In den Lagern für syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern wird den Menschen die Lebensmittelhilfe gekürzt, weil das Flüchtlingshilfswerk der UN nicht ausreichend Spendenmittel erhielt. All das setzt Menschen in Bewegung.

Niemand schien die Zeichen an der Wand lesen zu wollen.

Die Bundesregierung wartete ab – bis es nicht mehr ging. Mit ihrer weltumarmenden Geste am 4. September, in einem Akt der Willkür, hat die Kanzlerin alle Schleusen geöffnet und Deutschlands nationale Souveränität einer schrankenlosen „Willkommenskultur“ geopfert. Dank des großen Herzens der Kanzlerin weiß nun niemand, wer nach Deutschland eingewandert ist, ohne Registrierung und, da alle Menschen, die auf dem Landweg kommen, aus sicheren Drittstatten kommen, ohne Asylanspruch, also illegal. Auch das von der Kanzlerin zunächst verkündete Sonderrecht für Syrer war nicht nur regelwidrig, sondern kontraproduktiv: „Ich bin Syrer“ kann mittlerweile jeder behaupten, der sich noch keinen der zirkulierenden syrischen Pässe organisiert hat.

Um nicht missverstanden zu werden: ganz und gar nicht will ich jemandem vorwerfen, dass er die Chancen ergreift, die sich ihm bieten. Im Gegenteil: sollte nicht, wer Versprechungen macht, auch sicherstellen, dass er sie einhalten kann? Die nach Deutschland Zuwandernden sind die Betrogenen.

Wer nicht mehr und nicht weniger einklagt, als dass man sich an bestehendes Recht hält, wie jetzt Innenminister Thomas de Maiziere, wird zurückgepfiffen. Dabei hat er das Selbstverständliche gesagt: jeder Einzelne muss befragt werden, ob er einen individuellen Anspruch auf Asyl hat. Wer lediglich subsidiären Schutz beanspruchen kann und damit ein Aufenthaltsrecht von (immerhin) einem Jahr, hat keinen Anspruch auf Familiennachzug. Bevor über Integration zu reden ist, muss erst einmal geklärt sein, wer wie lange bleiben darf.

Doch „die Rechtsordnung (ist) von der deutschen Politik ausgesetzt“, wie es jüngst ein Richter in Passau befand. Und das ist etwas, das alles infragestellt, was dieses Land für Einwohner und Zuwanderer begehrenswert macht: Freiheit und Rechtsstaatlichkeit – das Vertrauen darauf, dass Gesetze für alle gelten und Regeln auch eingehalten werden.

Wer sich auf den mühevollen Weg nach Deutschland gemacht hat, ist also mehrfach betrogen: er findet nicht das vor, was ihm per Gerücht vorgegaukelt wurde, sondern landet stattdessen in überfüllten Lagern. Und das Land seiner Sehnsucht ist soeben dabei, seine größten Vorzüge selbst aufzugeben.

Flüchtlingsnot kennt kein Gebot? Das ist Regieren im Notstandsmodus. Oder gar „Einwanderungsrecht steht vor Eigentumsrecht“? Es gibt kein Recht auf Einwanderung, nur eines auf Auswanderung. Und wer das Recht auf Eigentum in Frage stellt, schafft alles ab, was dieses Land attraktiv macht, z. B. Rechtssicherheit und die Freiheit, sich Eigentum zu schaffen. Wer jederzeit damit rechnen muss, enteignet zu werden, handelt realistisch, wenn er sich gar nicht erst darum bemüht. Das würde ein Sozialstaat von deutschem Zuschnitt nicht lange aushalten.

Deutschland wird sich ändern, manche sagen das mit (Schaden-)freude, manche können dem Gedanken wenig abgewinnen. Doch manche Änderung kann man nur begrüßen: für außenpolitische Naivität gibt es keine Entschuldigung mehr. Die jetzige Krise zeigt, dass es zwar moralisch unappetitlich ist, realpolitisch aber notwendig sein kann, sich auch mit Despoten oder „lupenreinen Demokraten“ zu arrangieren.

Auch das hätte man womöglich früher bedenken können. Angela Merkel reist als Bittstellerin in die Türkei (und als Wahlhelferin Erdogans), damit die Türkei das tut, was Deutschland offenbar nicht kann: Grenzen sichern und Flüchtlingsströme kanalisieren. Auch wenn wir den Preis noch nicht genau kennen, den sie zahlen musste: Das hätte sie, das hätten wir früher und billiger haben können.

Der hochtönende Moralismus gegenüber großen und kleinen Despoten verstummt auch anderswo, sobald man sie braucht: das gilt für Russlands Putin wie für Irans „Führer“ Chamene’i. Griechenland hat es ja schon seit längerem verstanden, die EU mit den Flüchtlingen zu erpressen.

Die Zeit des hochgemuten Idealismus ist vorbei. Der Menschenrechtsinterventionismus hat ganze Regionen destabilisiert; der Sturz autoritärer Regimes endete nicht im Sieg der Demokratie nach westlichen Muster, sondern in Konfessions- und Stammeskriegen. „Die unipolare westliche Weltordnung war eine Utopie. Unterschiedliche Machtpole sind notwendig, um ein Minimum an Stabilität in einer aus den Fugen geratenden Welt aufzubauen.“ (Heinz Theisen )
Die EU ist in dieser Welt kein aktionsfähiger Machtfaktor. Deutschland steht allein: es ist das einzige Land, das sich in der Krise nicht auf seine nationalstaatliche Existenz zurückzieht und stattdessen die „Solidarität“ der anderen einklagt, die jedoch davon nichts wissen wollen.
Wer Europa liebt, sollte aufhören, es utopisch zu überfordern. „Wir lügen uns um die Tatsache herum, dass Europa auch eine Festung sein muss, schliesslich haben wir auch wirklich etwas zu verteidigen.“ (Rüdiger Safranski )


Mittwoch, 4. November 2015

Deutschland - vom Ende her gedacht

Was will Angela Merkel? Wo ist ihr Grand Design, wo der Entwurf einer Außenpolitik, die diesen Namen verdient? Was sind ihre Ziele – bei der Griechenlandrettung oder angesichts der Migranten, die nach Deutschland strömen? Hat sie welche? Weiß sie, was sie tut? Oder gibt es übergeordnete Gesichtspunkte, die das dumme Volk nicht versteht?

Die Kanzlerin war und ist ein Rätsel und beschäftigt ihre Interpreten, die sich nicht ganz so wortkarg geben wie die Kanzlerin selbst, die gern in der ganz einfachen Sprache zu ihrem Volk spricht. Eine Antwort lautet: sie will Europa retten.

Was könnte edler sein?

Europa, im ewigen Frieden, war ein schöner Traum. War es nicht die Lehre aus dem selbstzerstörerischen Blutvergießen im 20. Jahrhundert? Und müssen nicht gerade wir Deutschen, angesichts der Vergangenheit, bornierte nationale Interessen dafür opfern?

Dieser Glaube, den Politiker und Meinungsmacher jahrelang gepredigt haben, ist vielen Deutschen mittlerweile gründlich vergangen. Die Evidenzen sprechen gegen den Traum. Die Eurokrise hat gezeigt, dass die gemeinsame Währung Europa nicht geeint, sondern entzweit hat. Und angesichts der Migrantenströme, die Europa durchkreuzen, wird vollends deutlich, dass Europa trotz EU und Euro bleibt, was es war: eine Ansammlung dickköpfiger Völker, die an den Eigenheiten ihrer jeweiligen Vaterländer und an ihren nationalen Interessen eisern festhalten wollen.
Wer will da noch Europa retten?

Genau deshalb könnte man auf die Idee kommen, dass an dieser Interpretation des Rätsels Merkel etwas dran ist. Schließlich verstanden insbesondere die Franzosen unter Europapolitik stets alles, was Deutschlands Macht einzudämmen in der Lage war. Sofern man das unter friedensstiftenden Maßnahmen versteht, waren EU und Euro gewiss der richtige Weg – man nahm den Deutschen mit der DM ihre Atombombe aus der Hand, wie Mitterands Berater Jacques Attali einst sagte. Auch die deutsche Griechenland“rettung“ könnte so verstanden werden, denn was immer die Kanzlerin anderen Ländern im Sinne einer „Austeritätspolitik“ empfahl: am Ende zahlen die Deutschen, wie Griechenlands ehemaliger Finanzminister Jannis Varoufakis einst hellsichtig bemerkte. (Über der Migrationsdebatte sollten wir nicht vergessen, dass das griechische Dilemma mitnichten aus der Welt ist.)

Ist die große Geste Angela Merkels, die Grenzen für Hunderttausende von Menschen zu öffnen, von denen man in unzähligen Fällen noch nicht einmal weiß, woher sie kommen, also womöglich ein weiterer Beleg für die These, dass Deutschland sich für Europa opfert? Keines der anderen europäischen Länder ist bereit, die eigenen nationalen Grenzen und Interessen in gleichem Maß zu riskieren, und wenn es jemals einen deutschen Sonderweg gegeben hat, dann ist er hier für alle klar erkennbar: unter Kanzlerin Merkel ist Deutschland ein moralischer Riese. Das Land hat eine Bürde auf sich genommen, die niemand sonst tragen möchte.

Doch damit zeigt sich zugleich, dass unser Land ein Problem bleibt – was immer es ist oder tut.

Militärisch ist Deutschland ein Zwerg, doch ökonomisch noch immer, wenn auch womöglich nicht mehr lange, das Zugpferd Europas. Die Masse der Migranten könnte das womöglich ändern. Denn es kommen nicht die syrischen Ärzte – die in Syrien im übrigen dringender gebraucht werden als bei uns – sondern, soweit wir wissen, überwiegend unqualifizierte junge Männer, viele von ihnen sind Analphabeten. Sie werden den Sozialstaat brauchen, ohne ihm auf lange Sicht zu nützen. Auch hier zeigt sich, wie wenig Europa schon Wirklichkeit ist: ein soziales System wie das der Bundesrepublik funktioniert nur in nationalstaatlichen Grenzen und nur, solange die ökonomische Maschine auf Hochtouren läuft. Deutsche Wirtschaftsmanager aber haben längst aufgehört, dem Ansturm arbeitsfähiger junger Männer zu applaudieren, es gibt hierzulande kaum noch einen Markt für unqualifizierte Arbeit, nicht nur, aber auch wegen der unsinnigen Verpflichtung auf einen Mindestlohn.

Schafft Deutschland sich ab? Hat Thilo Sarrazin recht behalten, der das vor fünf Jahren prognostiziert hat? Und hätte das, so sehr man es bedauern möchte, womöglich friedensstiftende Wirkung?

Oder ist damit nicht eher die Befürchtung des ehemaligen polnischen Außenministers Sikorski eingetreten, der 2011 sagte: „Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit“?

Angela Merkels Verzicht auf nationalstaatliche Souveränität – nichts anderes bedeutet ja ihre These, dass Deutschland seine Grenzen nicht schützen könne – steht der Trend in unseren Nachbarstaaten entgegen, die eigene nationale Identität zu bewahren. Sollte Angela Merkel tatsächlich deutsche Interessen für Europa opfern wollen, so wird es ihr jedenfalls nicht gedankt.

Was soll man also hoffen? Dass unsere Merkel-Interpreten nicht recht haben, dass kein Plan und kein Sinn hinter den großen Gesten der Kanzlerin stehen, erst recht nicht die Rettung Europas?

Ich bin mir nicht mehr sicher, was schlimmer wäre.


Wir Untertanen.

  Reden wir mal nicht über das Versagen der Bundes- und Landesregierungen, einzelner Minister, der Frau Kanzler. Dazu ist im Grunde alles ge...