Wer in Nordfrankreich die Picardie besucht, ein Gebiet nördlich von Paris und Reims, ist meist weniger an seiner lieblichen Landschaft interessiert als an dem, was darunter liegt. Es sind die Toten, die Jahr um Jahr die Besucher anziehen. Vor allem Briten pilgern an die Somme, in das Dreieck zwischen Péronne und Abbeville, auf der Suche nach einem der rund 400 Friedhöfe, die zwischen Wiese, Rübenfeld und Wald liegen, dazwischen Monumente und Totenhallen, Kapellen und Denkmäler. Tausende weisser Steine über den Überresten von Briten und Franzosen – manchmal liegen darunter sogar die Knochen der Männer, deren Namen auf den Steinen stehen, mitsamt Rang, Geburts- und Todestag. Meist ist dazu ein Kreuz eingraviert, oft ein Davidstern, auf vielen aber steht kein Name, sondern nur «A Soldier of the Great War. Known unto God.»
In Thiepval erinnert der Ulster-Tower an die 2500 irischen Soldaten, die hier an einem einzigen Tag gefallen sind, in Beaumont-Hamel gilt die riesige Skulptur eines Karibus dem Regiment der Neufundländer, das dort fast völlig aufgerieben wurde. Noch heute erkennt man in der sanften Dünung des Bodens die Konturen der Schützengräben, in denen sich die gegnerischen Soldaten gegenüber lagen. Jeden Sommer, am 1. Juli, dem Datum, an dem 1916 die für die Briten mit fast 80 000 Toten verlustreichste Schlacht begann, sind die Stätten des grossen Sterbens übersät mit Poppies, jenen Mohnblumen, die zum Symbol der gescheiterten Offensive an der Somme geworden sind.
Unorte, explosiv
Das lothringische Verdun, im Nordosten Frankreichs, ist der wichtigste Erinnerungsort der Franzosen. Auch hier eine Parade weisser Steine, die sich bis zum Horizont erstreckt. Daneben verbotene Orte, unbetretbar, weil der Boden unter Krüppelbewuchs, Gestrüpp und schillernden Sümpfen noch heute explosiv ist. Der Erste Weltkrieg lebt: selbst im freigegebenen Gelände treffen die Pflüge der Bauern immer wieder auf Stacheldraht und Knochen, auf Geschosshülsen, Bajonette, Koppel. Und auf Blindgänger.
Noch vor zwanzig Jahren war man bei Reisen zu den Schlachtfeldern an der Westfront des Ersten Weltkriegs allein mit den Briten und Franzosen. Auch heute sind deutsche Besucher in der Minderzahl. Für viele Deutsche ist der Erste Weltkrieg «ein paar verwitterte Steine in Form von Kriegerdenkmälern und Soldatenfriedhöfen» und nicht weiter von Bedeutung, wie der ehemalige Aussenminister Joschka Fischer nicht ohne Bedauern anmerkt, er ist überschattet von der grösseren Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Und wie Joschka Fischer und sein Nachfolger als deutscher Aussenminister, Guido Westerwelle, reklamieren viele Deutsche die Schuld am Ersten, als ob es angesichts des Zweiten Weltkriegs darauf nun auch nicht mehr ankomme. Sie können mit den völkerverbindenden Trauerritualen der anderen wenig anfangen: Weil die Vorväter eine schmähliche Niederlage erlitten haben? Oder vielmehr, weil man glaubt, die Schützengräben hätten jede Menge williger Gefolgsleute Hitlers ausgebrütet, um die man nicht zu trauern hat?
Für die anderen aber ist der Erste Weltkrieg die bestimmende Signatur des 20. Jahrhunderts: hier begann, was in Strömen von Blut mündete und erst 1989 zu Ende ging. Und was derzeit auf ungemütliche Weise wieder nähergerückt zu sein scheint.
Mich hat das Thema nie losgelassen. Mehr als fünfzehn Jahre habe ich mit der Suche nach dem Grund verbracht, der die Männer in den Schützengräben ausharren liess, im stinkenden Schlamm, verseucht mit Rattenkot, Leichenresten und Chlorkalk. Was hielt sie dort? Vaterlandsliebe? Der Glaube an die Kultur (die Deutschen) oder die Zivilisation (die Briten)? Der Hass auf den Gegner, die Liebe zum eigenen Regiment? War es ein «guter», ein «gerechter» Krieg, den Briten und Franzosen führten; ging es um die lebensnotwendige Verteidigung gegen feindliche Umzingelung, wie die Deutschen dachten? War es gar der «Krieg, um alle Kriege zu beenden» und galt es, die Welt «sicher für die Demokratie» (der amerikanische Präsident Woodrow Wilson) zu machen? War das legitime Kriegsziel der Alliierten im Ersten ganz ebenso wie im Zweiten Weltkrieg, ein nach der Weltmacht strebendes barbarisches Deutschland in seine Schranken zu weisen? Und war man mit dem Deutschen Reich am Ende viel zu sanft umgegangen, hätte man es «zerschmettern» müssen? Oder war es, umgekehrt, just das ungerechte und rachsüchtige Diktat von Versailles, das Deutschland reif für Hitler machte?
Und was bedeutete noch ein «Sieg» nach einem vierjährigen Schlachten, in dem schätzungsweise zehn Millionen Männer umkamen, nicht zu reden von den tödlichen Folgen der Blockadepolitik und der Grippewelle, die vielfach auf eine ausgehungerte Zivilbevölkerung traf?
In Grossbritannien ist ein Etat von 50 Millionen Pfund für die Gedenkfeierlichkeiten ab 2014 beschlossen, doch dort streitet man schon jetzt um das, was genau das Grosse Erinnern denn nun vermitteln soll. Trauern um des Trauerns willen? Erinnerung um der Erinnerung willen? Was bei den Deutschen so auffällig fehlt, ist bei den Briten im Überfluss vorhanden, wo es in den letzten Jahrzehnten eine Flut von Literatur zum «Krieg des kleinen Mannes» gegeben hat. Während viele Deutsche ihre Vorfahren offenbar allesamt für irgendwie schuldig halten, sehen die Briten in ihren Gefallenen nur Opfer, und nicht Männer, die doch ebenfalls getötet haben, wie die Historikerin Joanna Bourke moniert, die fürchtet, dass Erinnerung auch verklären, verkleistern und Rachegefühle nähren kann.
Kurz: es geht um die Lehren aus dem Grossen Krieg, und die sind, sofern man es nicht beim mahnenden «Nie wieder Krieg!» belässt, nicht eben leicht zu ziehen. Kritiker unter den britischen Historikern bestreiten, dass es sich um einen «gerechten Krieg» gehandelt habe – und konstatieren, dass von einem «Sieg» wohl kaum gesprochen werden könne. Tatsächlich hat der Erste Weltkrieg nicht ein einziges Problem gelöst, dafür viele neue geschaffen. Er gebar die bolschewistische Revolution und den Stalinismus. Die Verträge von Versailles schufen keinen Frieden, sondern neuen Sprengstoff, etwa zwischen Polen und Deutschland. Sie ebneten Hitler den Weg, der die Welt glauben machte, in den Schützengräben hätten «Volk und Führer» zusammengefunden, eine Propagandalüge, die Thomas Webers «Hitlers Erster Krieg» abschliessend widerlegt hat. Ebenso wenig befriedete die Nachkriegsordnung den Balkan oder den Nahen Osten. Schon 1994 machten die Kriege im auseinandergebrochenen Jugoslawien klar, dass die Transformationsprozesse auf dem Balkan hinter dem Eisernen Vorhang nur ruhiggestellt, aber nicht abgeschlossen waren.
Paradigmenwechsel
Tatsächlich war das Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo am 28. Juni 1914 mehr als ein blosser Anlass eines aus anderen Gründen überfälligen Konflikts. Es war die (nur zufällig geglückte) Tat der «Schwarzen Hand», einer von Serbien unterstützten Terroristentruppe. Österreich hatte jedes Recht, Serbien dafür zur Verantwortung zu ziehen. Erst im Laufe der Julikrise weitete sich der lokale Konflikt im Chaos von Bündnisverpflichtungen und diplomatischen Fehleinschätzungen aus und wurde, zuerst durch die russische Mobilmachung und zuletzt durch den Kriegseintritt Grossbritanniens, global. Seine Ausweitung war, so argumentieren auch Historiker wie Sean McMeekin, Niall Ferguson oder Andreas Rose, alles andere als notwendig, zwingend oder konsequent. Und die Rolle des Schurken mit dem rauchenden Colt in der Hand bleibt unbesetzt, es sei denn, man möchte unbedingt Frankreich und Russland an die Stelle des Deutschen Kaiserreichs setzen.
Man darf das sicher einen Paradigmenwechsel nennen. Christopher Clarks «Die Schlafwandler» und Herfried Münklers Werk «Der Grosse Krieg» sind dazu die Bücher der Stunde. Zwei literarische Ereignisse, die zeigen, was Geschichtsschreibung vermag, die sich der moralischen Wertung und ideologischen Verzerrung enthält und die so weit wie irgend möglich auf jenen «Rückschaufehler» verzichtet, mit dem vergangene Ereignisse vom Wissen um ihr «Ergebnis» her beurteilt werden. Der historische Kanon muss neu aufgelegt werden.
Die Führungselite von Grossbritannien und Russland, Frankreich und Österreich-Ungarn, Serbien und Deutschland: sie alle haben ihren Anteil an der grossen Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Die Deutschen, nicht nur, aber auch, weil sie dumm genug waren, Österreich-Ungarn eine Blankovollmacht zu erteilen; die Franzosen, die der russischen Führung versprachen, im Falle eines österreichischen Angriffs auf Serbien den Bündnisfall zu erklären; die Russen, die als erste mobilmachten, und die britischen Politiker, die neben ihrer Bündnisverpflichtung gegenüber Frankreich und Russland keinen Grund hatten, sich einzumischen – ausser, dass sie Russland mehr fürchteten als Deutschland. War es wirklich das Leid Belgiens, das der britischen Regierung ein Eingreifen gebot? Oder diente die deutsche Verletzung der belgischen Souveränität, jene unbestreitbaren «Greuel» beim Durchmarsch durch Belgien, als Vorwand? Erst mit der britischen Intervention wurde der Konflikt global. Wussten sie, was sie taten?
Der Grosse Krieg war, wie Niall Ferguson schon vor Jahren schrieb, ein «falscher Krieg». Fergusons provozierende These: Hätte man das Deutsche Reich 1914 nicht bekämpft, sondern an den Tisch der Grossmächte gelassen, hätte man ganz ohne Millionen von Toten erreicht, was heute der Fall ist: Deutschland ist als stärkster (ökonomischer) Faktor die Zugmaschine Europas.
Tatsächlich deutet einiges darauf hin, dass man in Grossbritannien langsam vom nationalen Mythos Abschied nimmt, dass man im Deutschen Reich das Böse bekämpft habe und in diesem grauenvollen Gemetzel die Guten gewesen sei. Eine nationale Legende, die über den Verlust der Weltmacht an Amerika hinweggetröstet hat: Bei Kriegsende war Grossbritannien nicht mehr Gläubiger, sondern Schuldner der USA, des einzigen Beteiligten, der vom europäischen Krieg profitiert hat. Deutschland, sonst gewohnheitsmässig Objekt britischer Häme, ist im Land des Hun-Bashing heute so beliebt wie nie zuvor. Nur die Deutschen trennen sich ungern von der Rolle des schuldigen Schurken.
Warum? Weil Rechtsausleger nun frohlocken könnten, die «Kriegsschuldlüge» sei endlich widerlegt? Lasst sie doch. Dass es keinen gibt, den man als einzig Schuldigen am Tod von Millionen herausgreifen kann, macht die Sache ja nicht besser, ganz im Gegenteil. Der wahre Skandal ist die Erkenntnis, dass das grosse Schlachten vermeidbar gewesen wäre, dass es ganz und gar sinnlos gewesen sein könnte, dieses Ausharren und Sterben der Männer in den Schützengräben und der Menschen an der «Heimatfront». Und dass es beim besten Willen nicht gelingt, dem gigantischen Blutbad im Nachhinein auch nur ein Fünkchen Sinn zu implantieren. Der Krieg, der alle Kriege beenden sollte, endete in einem Frieden, der allen Frieden zunichtemachte. Es gibt keine Sinngebung des Sinnlosen.
Die Europäer haben nicht nur eine traumatische Erfahrung gemeinsam, wie man heute vielleicht deutlicher erkennt als je zuvor. Sie haben auch allesamt einen Trost verloren: dass es, hier wenigstens, Schwarz und Weiss gibt im Krieg, Täter und Opfer, Schuldige und weisse Ritter, Schurken und Helden. Nur, solange man an das Böse glauben kann, ist auch das Gute denkbar. Das mag einer der Gründe sein, warum man in Deutschland die Bürde des Schurken nicht erleichtert abwirft. Und könnte eine Paradoxie erklären: Wer an eine Inkarnation des Bösen glaubt, erwartet vom «Guten» oft mehr, als menschenmöglich ist.
Doch hat der deutsche Schurke nicht wenigstens den Nachbarn ein gutes Gefühl gegeben: den Franzosen moralische Überlegenheit trotz Niederlage, den Briten den Trost, ihr Weltreich für die richtige Sache riskiert zu haben? Gewiss. Zyniker verweisen überdies darauf, dass nur ein Schuldspruch den Siegern erlaubte, die enormen Kosten des Krieges auf den Besiegten abzuwälzen. Die Reparationszahlungen sind seit dem 3. Oktober 2010 abgeleistet.
Moralische Sinngebung
Der Abschied von Gut und Böse führt ins Reich der Schatten und in die kalte Welt der Realpolitik, in der Interessen zählen, ohne dass Moral sie veredelt. Und das ist gut so. Denn der Erste Weltkrieg hat weiteres Unheil in die Welt gesetzt: die moralische Aufladung, aus der Notwendigkeit gezeugt, dem Sinnlosen einen Sinn zu verleihen. Ging es wirklich, wie der britische Premier Asquith 1916 postulierte, um einen edlen Kreuzzug gegen «Barbarei» und «ungezähmte Machtgier»? Dass Grossbritannien wegen «Little Belgium» das Risiko der Globalisierung des Konflikts eingegangen ist, dass es moralisch dazu gezwungen gewesen sei, dass es eingreifen musste, ist natürlich eine entschieden sympathischere Deutung als die kühle Schilderung Christopher Clarks: Belgien sei das einzige Argument gewesen, dass die Regierung Grey noch hatte, um den Krieg vor der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen. Denn auch in den britischen und französischen Kriegsplänen war das neutrale Belgien als Durchmarschgebiet vorgesehen. Und die USA, die erst recht keinen Grund hatten, sich in die kontinentalen Querelen einzumischen? Woodrow Wilson wählte die hochtrabende Begründung, dies sei nicht weniger als «ein Krieg, um alle Kriege zu beenden».
Man bemühte höchste Ziele, weil naheliegende nicht zu haben waren. Dabei weiss jeder verstandesbegabte Befehlshaber, dass ein Sieg von überlegenen Kräften und dem Glück abhängt, und nicht vom moralischen Zuschnitt des Siegers.
Tatsächlich setzte der Erste Weltkrieg vor allem in Grossbritannien eine Propagandamaschinerie in Gang, die das Sinnlose mit den gröbsten Mitteln moralisch zu veredeln suchte. Es ist halt das Problem von Demokratie, dass man Kriegshandlungen nicht einfach anordnen kann, man muss das Volk überzeugen – was meistens heisst: es manipulieren. Wie immer man die Appeasement-Politik Chamberlains gegenüber Hitler beurteilen mag (und auch hier gibt es nicht nur schwarz und weiss): britischen Politikern war später sehr wohl bewusst, dass die britische Propaganda gegen das Kaiserreich sämtlichen Gepflogenheiten widersprach, die in den europäischen Staatenkriegen bis dato galten, wozu Respekt vor dem Gegner gehörte. Frontsoldaten hat der Jingoismus an der Heimatfront denn auch zutiefst abgestossen. Nicht zufällig gab es zu Weihnachten zwischen Deutschen und Briten Versöhnung über die Schützengräben hinweg.
Was zu lernen wäre
Welche Lehren soll man also ziehen? «Nie wieder Krieg»? Das ist ein frommer, aber kindlicher Wunsch. Militärische Gewalt ist ja nicht immer sinnlos. Und berechtigte Interessen oder die nationale Souveränität muss man auch verteidigen können.
Mehr Europa? Auch das ist ein frommer Wunsch, wenn man ihn an der Realität misst. Nicht in erster Linie die EU oder die deutsch-französische Freundschaft haben dem Kontinent Jahrzehnte des Friedens geschenkt, sondern der Kalte Krieg. Mit dem Ende der bipolaren Welt 1991 ist Krieg wieder begrenzbar und damit möglich geworden. Die krisenhafte Neuformierung Ex-Jugoslawiens ist einstweilen beendet, die Brandherde im Nahen Osten aber sind noch lange nicht gelöscht.
Und was den Euro betrifft: ganz offenbar hat er Europa nicht vereint, sondern die unterschiedlichen Interessen, die seine Nationen vertreten, schmerzhaft deutlich gemacht. Deutschland zur Kasse bitten mit dem Argument, dass das Land nach zwei verschuldeten Weltkriegen mit seiner Euro-Politik die dritte Katastrophe verursache, ist keine überzeugende Basis für ein einiges Europa. Dass das Argument überhaupt eine Rolle spielt, zeigt, dass das neue Deutschland in einer Hinsicht das alte ist: wieder wirkt es isoliert, unsicher, in welche Richtung es schwanken soll, unwillig, eine Rolle zu übernehmen, die es nicht ein einziges Mal gemeistert hat, nämlich wenn nicht Weltmacht, so doch zumindest Führungsmacht zu sein. Es ist heute das, was Churchill ihm einst an den Hals wünschte: «fat and impotent».
Wir müssen, gerade jetzt, in seiner schwersten Krise seit 1945, Europa neu denken. Der Kontinent hat sich vereint die Wunde geschlagen, von der er sich bis heute nicht erholt hat. Hitlers unvorstellbare Verbrechen haben den Blick darauf verstellt.
Kann man die Wunde heilen? Die erneute Isolation Deutschlands als des ewigen Schurken ist fatal. Wenn der Euro als „Fortsetzung von Versailles mit anderen Mitteln“ betrachtet wird, muss er scheitern. Das starke Deutschland braucht starke Bündnispartner. Ein Tipp: man kann ihnen womöglich am 1. Juli an der Somme begegnen.
Montag, 30. Dezember 2013
Samstag, 7. Dezember 2013
Alles Alice oder was?
Dass der deutsche Feminismus wie Alice Schwarzer aussieht, ist ihm nicht bekommen.
Zur Fußballweltmeisterschaft 2006 wurden in Deutschland 40 000 zugereiste Prostituierte erwartet. Wer damals schon wusste, dass es sich nur um 40 000 Zwangsprostituierte handeln konnte, war Alice Schwarzer. Sie hat seither dazugelernt. Heute weiß sie es besser: nicht alle, nur 95 % der Prostituierten täten ihren Job ungern, verkündete sie jüngst. Denen (und den restlichen 5 % gleich mit) soll ihr ungeliebtes Geschick zukünftig erspart werden. Die neueste Kampagne von Alice Schwarzer zielt auf die Abschaffung des ältesten Gewerbes der Welt.
Woher die „Ikone der Frauenbewegung“ ihre Zahlen hat? Das bleibt das Geheimnis Schwarzerscher Wahrheitsfindung und ist im Grunde auch wurscht. Denn es geht ihr nicht um den widerwärtigen Menschenhandel, in dem es eindeutig Opfer gibt, die beschützt, und Täter, die bestraft werden müssen. Es geht ihr ums sorgsam gepflegte Weltbild, wonach Männer Schweine und Frauen Opfer sind.
Dagegen gibt es nun einen Aufschrei besonderer Art: die im „Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen“ organisierten Frauen protestieren gegen ihre Vereinnahmung durch die Berufsfeministin Schwarzer. Sie halten deren Kampagne für einen Akt der Bevormundung. „Man kann Menschen nicht gegen ihren Willen helfen“, sagt Verbandssprecherin Undine de Rivière. Denn die Professionellen sehen sich nicht als Opfer. Männer, die sexuelle Dienstleistungen bezahlen (müssen), üben im Regelfall keine Macht aus. Es mag sein, dass manche von ihnen Schweine sind – arme Schweine, etwa, wie jene Kunden, „ die einmal zahlen, zehn Mal wollen und dann zwei Mal können“ (de Riviére über Flatrate-Freier). Aber eine freie Vereinbarung zweier Erwachsener über eine Dienstleistung ist keine Unterdrückung der Frau – es sei denn, man vertritt die Auffassung, Frauen seien mit ihrem Körper und ihrem Sex identisch. In paternalistischen Kulturen wird das so gesehen, weshalb man Frauen in den Ganzkörperschleier zwingt. Manch einer scheint das auch hierzulande für eine gute Idee zu halten.
Die neue Kampagne ist, was Schwarzers Kampagnen immer waren: Selbstinszenierung. Dass sie eine Ikone der Frauenbewegung sei, beruht auf einem Missverständnis. Eigentlich ist sie der beste Freund der Männer. Denen hat das Weltbild der Oberfeministin zunächst einen unschätzbaren Dienst getan: Sie dürfen Frauen als arme Hascherl betrachten, als Opfer, die beständig gefördert und beschützt werden müssen. Die überwiegend rein symbolischen Akte der Wiedergutmachung sind ein kleiner Preis für den geübten Frauenfreund, und das gendergerechte Parlieren tut nur einer winzigen Minderheit weh, die unter der Sprachverhunzung im öffentlichen Raum leidet.
In diesem Frauenbild ist kein Platz für Partnerinnen. Für Konkurrentinnen, die zu respektieren sind. Oder für Gegnerinnen, die man fürchten sollte. Denn fürchterlich kann Frau sein, wenn sie sich den Opferbonus zunutzemacht und den Spieß umdreht. Wer einen Mann des Sexismus oder der Vergewaltigung beschuldigt, ist mittlerweile in einer unschlagbaren Machtposition: so kann man Existenzen ruinieren.
Schwarzers Feminismus, demzufolge alle Männer potentielle Vergewaltiger sind, ist männerverachtend, gewiss. Aber sie hat, wie ihre Biografin Bascha Mika sagt, „vor allem ein Problem auf der Welt: Frauen. In nahezu allen Konflikten und Krächen, die sie ausgefochten hat, standen Frauen auf der Gegenseite. Mit Männern hat sie sich kaum je persönlich angelegt.“
In der Tat. Mit Frauen, die ihr die Gefolgschaft verweigern, geht sie gnadenlos ins Gericht. Das sind „"Wellness-Feministinnen“, die sich nur „für Karriere und Männer“ interessierten. Andere wiederum sind, wenn sie ihr kritisch kommen, Erfüllungsgehilfinnen, die „den Jungs nach dem Maul reden“ und ihre eigene „Vernuttung“ betreiben. Dass Frauen sich gegen solcherlei Anmaßungen der selbsternannten „Ikone“ selten wehren, liegt nicht nur an mangelndem Mut, sondern auch an fehlendem Masochismus: Schwarzers Gegenangriffe pflegen stets sexistisch zu sein und immer unter die Gürtellinie zu zielen. Wer ihr widerspricht, behauptet sie, handelt denunziatorisch und ist eine von Männern bestellte und bezahlte Agentin des Bösen.
Dass auch Alice Schwarzer von Männern bezahlt wird, ist hingegen kein Problem, steht sie doch so zweifelsfrei fürs Gute. Ihre komfortable Existenz im Kölner Bayenturm, wo sie über die Linie der „Emma“ und über ein „Frauenarchiv“ wacht, das jährlich weniger als 300 Besucher anzieht, verdankt sie Männern, darunter dem Mäzen Jan-Philipp Reemtsma, der sie mit Millionenbeträgen förderte. Auch so einer, der die Frauenbewegung mit Alice Schwarzer verwechselt hat. Erst eine Frau, Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, hatte den Mut, den Landeszuschuss für ein Privatprojekt von recht geringem öffentlichen Interesse radikal zu kürzen. Dass ausgerechnet Kristina Schröder, die Familienministerin, dann mit Bundesgeldern aushalf, ist ein Sonderfall von weiblichem Masochismus. Schröder wurde von Alice Schwarzer einst in einem offenen Brief als „hoffnungslose(r) Fall. Schlicht ungeeignet“ attackiert. Sie eigne sich höchstens als „Pressesprecherin der neuen, alten, so medienwirksam agierenden, rechtskonservativen Männerbünde und ihrer Sympathisanten.“
Doch ausgerechnet die haben längst ihren Frieden mit Alice Schwarzer gemacht. Eine Krawallschachtel, die ihre Geschlechtsgenossinnen kleinhält, ist entschieden einfacher zu handhaben als erwachsene Frauen, die keine Opfer sein wollen. Und das beantwortet schon die Frage, warum Alice Schwarzer „größer (ist) als der Feminismus in Deutschland“. Dies überaus zweischneidige Kompliment von Harald Schmidt sagt vor allem eins: dass es der „Ikone des Feminismus“ gelungen ist, die Frauenbewegung klein zu halten.
Dass ausgerechnet die „"Dienstleisterinnen“ des horizontalen Gewerbes den Opferbonus ablehnen, der ihnen angeboten wird, ist wahre Größe. Andere fühlen sich schon bei täppischen Männersprüchen als Opfer von Sexismus. Was lernen wir daraus? In Deutschland ist Feminismus zu einer weiblichen Problemzone geworden, die mit symbolischen Sprechakten glattgebügelt werden soll. Mit der Wirklichkeit hat das alles nichts zu tun. Höchstens mit Alice Schwarzer.
Zur Fußballweltmeisterschaft 2006 wurden in Deutschland 40 000 zugereiste Prostituierte erwartet. Wer damals schon wusste, dass es sich nur um 40 000 Zwangsprostituierte handeln konnte, war Alice Schwarzer. Sie hat seither dazugelernt. Heute weiß sie es besser: nicht alle, nur 95 % der Prostituierten täten ihren Job ungern, verkündete sie jüngst. Denen (und den restlichen 5 % gleich mit) soll ihr ungeliebtes Geschick zukünftig erspart werden. Die neueste Kampagne von Alice Schwarzer zielt auf die Abschaffung des ältesten Gewerbes der Welt.
Woher die „Ikone der Frauenbewegung“ ihre Zahlen hat? Das bleibt das Geheimnis Schwarzerscher Wahrheitsfindung und ist im Grunde auch wurscht. Denn es geht ihr nicht um den widerwärtigen Menschenhandel, in dem es eindeutig Opfer gibt, die beschützt, und Täter, die bestraft werden müssen. Es geht ihr ums sorgsam gepflegte Weltbild, wonach Männer Schweine und Frauen Opfer sind.
Dagegen gibt es nun einen Aufschrei besonderer Art: die im „Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen“ organisierten Frauen protestieren gegen ihre Vereinnahmung durch die Berufsfeministin Schwarzer. Sie halten deren Kampagne für einen Akt der Bevormundung. „Man kann Menschen nicht gegen ihren Willen helfen“, sagt Verbandssprecherin Undine de Rivière. Denn die Professionellen sehen sich nicht als Opfer. Männer, die sexuelle Dienstleistungen bezahlen (müssen), üben im Regelfall keine Macht aus. Es mag sein, dass manche von ihnen Schweine sind – arme Schweine, etwa, wie jene Kunden, „ die einmal zahlen, zehn Mal wollen und dann zwei Mal können“ (de Riviére über Flatrate-Freier). Aber eine freie Vereinbarung zweier Erwachsener über eine Dienstleistung ist keine Unterdrückung der Frau – es sei denn, man vertritt die Auffassung, Frauen seien mit ihrem Körper und ihrem Sex identisch. In paternalistischen Kulturen wird das so gesehen, weshalb man Frauen in den Ganzkörperschleier zwingt. Manch einer scheint das auch hierzulande für eine gute Idee zu halten.
Die neue Kampagne ist, was Schwarzers Kampagnen immer waren: Selbstinszenierung. Dass sie eine Ikone der Frauenbewegung sei, beruht auf einem Missverständnis. Eigentlich ist sie der beste Freund der Männer. Denen hat das Weltbild der Oberfeministin zunächst einen unschätzbaren Dienst getan: Sie dürfen Frauen als arme Hascherl betrachten, als Opfer, die beständig gefördert und beschützt werden müssen. Die überwiegend rein symbolischen Akte der Wiedergutmachung sind ein kleiner Preis für den geübten Frauenfreund, und das gendergerechte Parlieren tut nur einer winzigen Minderheit weh, die unter der Sprachverhunzung im öffentlichen Raum leidet.
In diesem Frauenbild ist kein Platz für Partnerinnen. Für Konkurrentinnen, die zu respektieren sind. Oder für Gegnerinnen, die man fürchten sollte. Denn fürchterlich kann Frau sein, wenn sie sich den Opferbonus zunutzemacht und den Spieß umdreht. Wer einen Mann des Sexismus oder der Vergewaltigung beschuldigt, ist mittlerweile in einer unschlagbaren Machtposition: so kann man Existenzen ruinieren.
Schwarzers Feminismus, demzufolge alle Männer potentielle Vergewaltiger sind, ist männerverachtend, gewiss. Aber sie hat, wie ihre Biografin Bascha Mika sagt, „vor allem ein Problem auf der Welt: Frauen. In nahezu allen Konflikten und Krächen, die sie ausgefochten hat, standen Frauen auf der Gegenseite. Mit Männern hat sie sich kaum je persönlich angelegt.“
In der Tat. Mit Frauen, die ihr die Gefolgschaft verweigern, geht sie gnadenlos ins Gericht. Das sind „"Wellness-Feministinnen“, die sich nur „für Karriere und Männer“ interessierten. Andere wiederum sind, wenn sie ihr kritisch kommen, Erfüllungsgehilfinnen, die „den Jungs nach dem Maul reden“ und ihre eigene „Vernuttung“ betreiben. Dass Frauen sich gegen solcherlei Anmaßungen der selbsternannten „Ikone“ selten wehren, liegt nicht nur an mangelndem Mut, sondern auch an fehlendem Masochismus: Schwarzers Gegenangriffe pflegen stets sexistisch zu sein und immer unter die Gürtellinie zu zielen. Wer ihr widerspricht, behauptet sie, handelt denunziatorisch und ist eine von Männern bestellte und bezahlte Agentin des Bösen.
Dass auch Alice Schwarzer von Männern bezahlt wird, ist hingegen kein Problem, steht sie doch so zweifelsfrei fürs Gute. Ihre komfortable Existenz im Kölner Bayenturm, wo sie über die Linie der „Emma“ und über ein „Frauenarchiv“ wacht, das jährlich weniger als 300 Besucher anzieht, verdankt sie Männern, darunter dem Mäzen Jan-Philipp Reemtsma, der sie mit Millionenbeträgen förderte. Auch so einer, der die Frauenbewegung mit Alice Schwarzer verwechselt hat. Erst eine Frau, Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, hatte den Mut, den Landeszuschuss für ein Privatprojekt von recht geringem öffentlichen Interesse radikal zu kürzen. Dass ausgerechnet Kristina Schröder, die Familienministerin, dann mit Bundesgeldern aushalf, ist ein Sonderfall von weiblichem Masochismus. Schröder wurde von Alice Schwarzer einst in einem offenen Brief als „hoffnungslose(r) Fall. Schlicht ungeeignet“ attackiert. Sie eigne sich höchstens als „Pressesprecherin der neuen, alten, so medienwirksam agierenden, rechtskonservativen Männerbünde und ihrer Sympathisanten.“
Doch ausgerechnet die haben längst ihren Frieden mit Alice Schwarzer gemacht. Eine Krawallschachtel, die ihre Geschlechtsgenossinnen kleinhält, ist entschieden einfacher zu handhaben als erwachsene Frauen, die keine Opfer sein wollen. Und das beantwortet schon die Frage, warum Alice Schwarzer „größer (ist) als der Feminismus in Deutschland“. Dies überaus zweischneidige Kompliment von Harald Schmidt sagt vor allem eins: dass es der „Ikone des Feminismus“ gelungen ist, die Frauenbewegung klein zu halten.
Dass ausgerechnet die „"Dienstleisterinnen“ des horizontalen Gewerbes den Opferbonus ablehnen, der ihnen angeboten wird, ist wahre Größe. Andere fühlen sich schon bei täppischen Männersprüchen als Opfer von Sexismus. Was lernen wir daraus? In Deutschland ist Feminismus zu einer weiblichen Problemzone geworden, die mit symbolischen Sprechakten glattgebügelt werden soll. Mit der Wirklichkeit hat das alles nichts zu tun. Höchstens mit Alice Schwarzer.
Dienstag, 26. November 2013
Zurück zu den Wurzeln
In jedem Hotelklo wird die Welt gerettet und für unsere Umwelt gespart, ob an Handtüchern, Klopapier oder Spülung. Die Frauenquote gilt, egal, was Frauen davon halten. Und geraucht wird nur draußen. Also bitte: Die Grünen haben an allen Fronten gesiegt! Was wollen sie mehr?
Besser gefragt: wozu braucht man sie noch? Den Todesstoß versetzte ihnen Angela Merkel schon vor Jahr und Tag, als sie den Abschied von der Atomkraft verkündete. Das, die Anti-AKW-Bewegung, war einmal das Herz der Grünen und der Punkt, an dem Ökos und K-Grüppler einst zusammenfanden. Und nun das Ende. Grün hat sich zu Tode gesiegt. Das, womit sie früher einmal Neuland betraten, gehört mittlerweile zur Standardmöblierung der Parteienlandschaft.
Fast möchte man den Alternativgrünen von damals ein Tränchen hinterherweinen, den Waldschraten, Wallebärten und Strickliesels. Denn auch eine Partei wie keine andere sind die Grünen schon lange nicht mehr. Sicher, im Zuge der Normalisierung haben sie nicht nur liebenswerte Schrulligkeiten, sondern auch fundamentale Missverständnisse abgelegt – etwa über Sinn und Zweck eines Gewaltmonopols des Staates oder über den Nutzen frei gewählter und von der Partei unabhängiger Abgeordneter. Aber sind sie deshalb gleich zum politischen Doppelsprech verurteilt, der die Bündnisgrünen heute genauso öde macht wie all die anderen?
Bei näherer Betrachtung könnte man auf die Idee kommen, dass sich ihr Markenkern genau darin beweist: in der frömmelnden Floskelei vom Guten, Wahren und Schönen. Und gerade das haben die anderen Parteien von den Grünalternativen gelernt.
Deren Unwiderstehlichkeit bestand ja nie in ihren „Themen“ allein, sondern im Anspruch auf ihre Alleinvertretung. Wer sich mit tiefer Überzeugung in die Brust wirft und die Rettung der Welt, der Natur, der Frauen, also der Menschheit verspricht, dem kann man schwerlich widersprechen: wer möchte es sich schon mit den Ganz Großen Dingen verderben? Also! Die Grünen haben, ganz im Sinne einer „Politik in der ersten Person“, die persönliche Betroffenheit, das Gefühl und die Moral vor den kalten „Sachzwang“ und die noch kälteren Interessen gestellt. Das Ergebnis ist ein Programm mit Kuschel-Optik – für die Empfehlung eines „Veggie-Days“ gebührt ihnen deshalb eine Auszeichnung für die erfolgreiche Infantilisierung der Politik.
Doch mittlerweile menschelt es sogar bei den Liberalen, die sich „mitfühlenden Liberalismus“ verordnet haben. Alle Parteien scheinen den Begriffswandel des Politischen hinzunehmen, der sich darin ausdrückt. Dabei heißen sie Parteien, weil im Parlament Repräsentanten unterschiedlicher Interessen, also „parteilich“ miteinander konkurrieren sollen. Heute konkurriert man nur noch um die gelungene Darstellung moralischer Untadeligkeit und sozialer Wärme – und Interesse, das einst Ausweis für Ehrlichkeit war, ist ein schmutziges Wort geworden.
Es ist bezeichnend, dass in den derzeitigen Verhandlungen um die „Groko“ – ein Wort, das lautmalerisch ausdrückt, wonach manch einem dabei ist – keine einzige Frage verhandelt wird, die mehr als symbolischen Wert hat. Weder spricht man über Europa und den Euro, noch über die Schuldenkrise, noch über die dramatisch gescheiterte „Energiewende“, auf die gerade die Grünen so unkritisch stolz sind. Dass die gigantischen Subventionen, die dabei im Spiel sind, Zocker anlocken – windige Investoren bis hin zu den Hell’s Angels und der Mafia – verwundert niemanden, der rechnen kann. Auch nicht, dass die Ökoindustrie mittlerweile eine mächtige Lobby unterhält.
Hier liegt womöglich der eigentliche Grund, warum die Grünen verzichtbar geworden sind. Wenn noch nicht einmal eine Partei, in der „Natur“ einst hoch firmierte (was immer jeweils darunter verstanden wurde) zur Kritik am Desaster der „Energiewende“ fähig ist, dann hat sie ihren letzten Daseinszweck verfehlt. Wer Natur und Umwelt einer unausgereiften Technologie opfert, weil es um ein angeblich höheres Ziel gehe, hat sich vom „grünen“ Gedanken verabschiedet. Und von der Nachhaltigkeit: der irgendwann nötige Rückbau der Windkraftanlagen wird der vorhandenen Zerstörung ganzer Landschaften eine weitere, kostenträchtige hinzufügen. Aber so ist das eben, wenn man im „Gattungsauftrag“ unterwegs ist: da müssen halt Opfer gebracht werden, das hat schon Lenin so gesehen. Opfer der anderen, natürlich.
Wenn die SPD nicht achtgibt, wird sie den Grünen in den Abwärtssog folgen. Auch die SPD sah sich im 19. Jahrhundert als Vertreterin der Menschheit. Erst nach 1945 reifte sie zu einer Partei, die im besten Sinne Interessen vertrat, nämlich die der Industriearbeiterschaft (und damit auch der Wirtschaft). Mit den Gewerkschaften zusammen wurde sie zum Garant der sozialen Marktwirtschaft. Gewiss, die Treue zum Steinkohlebergbau war irgendwann anachronistisch. Und der Kampf für einen „Mindestlohn“ riecht nach der alten Gewerkschaftsstrategie, Einsteiger, die mit niedrigen Löhnen in den Markt drängen, wegzubeißen. Im Grunde aber hat die SPD ihre Klientel der Facharbeiter und Handwerker, Techniker und Ingenieure längst verlassen und verraten. Statt dessen grast sie ebenso wie alle anderen bei den Staatsabhängigen und den städtischen Milieus, in denen man heute immerhin auch andere Weine als die aus der Toscana kennt.
Die Partei des Fortschritts, die sie einst sein wollte, ist sie schon lange nicht mehr. Sonst wären es die Sozialdemokraten, die ein Ende der absurden Energiepolitik forderten - im Vertrauen auf die deutsche Ingenieurskunst, deren Erfindungsreichtum längst zu besseren Lösungen des Energieproblems geführt hätte, wären nicht die Gelder in die falsche Richtung geflossen. Statt dessen schaut die Partei gelassen zu, wie dem Wirtschaftsstandort Deutschland Schaden zugefügt wird. Heute scheint der Partei alles andere wichtiger zu sein als Arbeitsplätze.
Im Blick auf die Zukunft wünscht man sich ein Zurück zum alten Markenkern: zurück zur Natur bei den Grünen. Dass sie sich in einer Koalition mit der hessischen CDU zu einer neuen liberalen Kraft entwickeln, ist zu viel gehofft. Und zurück zum Fortschritt bei der SPD. Dafür ist Opposition eine gute Ausgangsposition. Hessen vorn!
Im Vertrauen: das Erbe der gescheiterten Energiewende und der nutzlosen Klimapolitik kann man getrost der Kanzlerpartei überlassen.
Besser gefragt: wozu braucht man sie noch? Den Todesstoß versetzte ihnen Angela Merkel schon vor Jahr und Tag, als sie den Abschied von der Atomkraft verkündete. Das, die Anti-AKW-Bewegung, war einmal das Herz der Grünen und der Punkt, an dem Ökos und K-Grüppler einst zusammenfanden. Und nun das Ende. Grün hat sich zu Tode gesiegt. Das, womit sie früher einmal Neuland betraten, gehört mittlerweile zur Standardmöblierung der Parteienlandschaft.
Fast möchte man den Alternativgrünen von damals ein Tränchen hinterherweinen, den Waldschraten, Wallebärten und Strickliesels. Denn auch eine Partei wie keine andere sind die Grünen schon lange nicht mehr. Sicher, im Zuge der Normalisierung haben sie nicht nur liebenswerte Schrulligkeiten, sondern auch fundamentale Missverständnisse abgelegt – etwa über Sinn und Zweck eines Gewaltmonopols des Staates oder über den Nutzen frei gewählter und von der Partei unabhängiger Abgeordneter. Aber sind sie deshalb gleich zum politischen Doppelsprech verurteilt, der die Bündnisgrünen heute genauso öde macht wie all die anderen?
Bei näherer Betrachtung könnte man auf die Idee kommen, dass sich ihr Markenkern genau darin beweist: in der frömmelnden Floskelei vom Guten, Wahren und Schönen. Und gerade das haben die anderen Parteien von den Grünalternativen gelernt.
Deren Unwiderstehlichkeit bestand ja nie in ihren „Themen“ allein, sondern im Anspruch auf ihre Alleinvertretung. Wer sich mit tiefer Überzeugung in die Brust wirft und die Rettung der Welt, der Natur, der Frauen, also der Menschheit verspricht, dem kann man schwerlich widersprechen: wer möchte es sich schon mit den Ganz Großen Dingen verderben? Also! Die Grünen haben, ganz im Sinne einer „Politik in der ersten Person“, die persönliche Betroffenheit, das Gefühl und die Moral vor den kalten „Sachzwang“ und die noch kälteren Interessen gestellt. Das Ergebnis ist ein Programm mit Kuschel-Optik – für die Empfehlung eines „Veggie-Days“ gebührt ihnen deshalb eine Auszeichnung für die erfolgreiche Infantilisierung der Politik.
Doch mittlerweile menschelt es sogar bei den Liberalen, die sich „mitfühlenden Liberalismus“ verordnet haben. Alle Parteien scheinen den Begriffswandel des Politischen hinzunehmen, der sich darin ausdrückt. Dabei heißen sie Parteien, weil im Parlament Repräsentanten unterschiedlicher Interessen, also „parteilich“ miteinander konkurrieren sollen. Heute konkurriert man nur noch um die gelungene Darstellung moralischer Untadeligkeit und sozialer Wärme – und Interesse, das einst Ausweis für Ehrlichkeit war, ist ein schmutziges Wort geworden.
Es ist bezeichnend, dass in den derzeitigen Verhandlungen um die „Groko“ – ein Wort, das lautmalerisch ausdrückt, wonach manch einem dabei ist – keine einzige Frage verhandelt wird, die mehr als symbolischen Wert hat. Weder spricht man über Europa und den Euro, noch über die Schuldenkrise, noch über die dramatisch gescheiterte „Energiewende“, auf die gerade die Grünen so unkritisch stolz sind. Dass die gigantischen Subventionen, die dabei im Spiel sind, Zocker anlocken – windige Investoren bis hin zu den Hell’s Angels und der Mafia – verwundert niemanden, der rechnen kann. Auch nicht, dass die Ökoindustrie mittlerweile eine mächtige Lobby unterhält.
Hier liegt womöglich der eigentliche Grund, warum die Grünen verzichtbar geworden sind. Wenn noch nicht einmal eine Partei, in der „Natur“ einst hoch firmierte (was immer jeweils darunter verstanden wurde) zur Kritik am Desaster der „Energiewende“ fähig ist, dann hat sie ihren letzten Daseinszweck verfehlt. Wer Natur und Umwelt einer unausgereiften Technologie opfert, weil es um ein angeblich höheres Ziel gehe, hat sich vom „grünen“ Gedanken verabschiedet. Und von der Nachhaltigkeit: der irgendwann nötige Rückbau der Windkraftanlagen wird der vorhandenen Zerstörung ganzer Landschaften eine weitere, kostenträchtige hinzufügen. Aber so ist das eben, wenn man im „Gattungsauftrag“ unterwegs ist: da müssen halt Opfer gebracht werden, das hat schon Lenin so gesehen. Opfer der anderen, natürlich.
Wenn die SPD nicht achtgibt, wird sie den Grünen in den Abwärtssog folgen. Auch die SPD sah sich im 19. Jahrhundert als Vertreterin der Menschheit. Erst nach 1945 reifte sie zu einer Partei, die im besten Sinne Interessen vertrat, nämlich die der Industriearbeiterschaft (und damit auch der Wirtschaft). Mit den Gewerkschaften zusammen wurde sie zum Garant der sozialen Marktwirtschaft. Gewiss, die Treue zum Steinkohlebergbau war irgendwann anachronistisch. Und der Kampf für einen „Mindestlohn“ riecht nach der alten Gewerkschaftsstrategie, Einsteiger, die mit niedrigen Löhnen in den Markt drängen, wegzubeißen. Im Grunde aber hat die SPD ihre Klientel der Facharbeiter und Handwerker, Techniker und Ingenieure längst verlassen und verraten. Statt dessen grast sie ebenso wie alle anderen bei den Staatsabhängigen und den städtischen Milieus, in denen man heute immerhin auch andere Weine als die aus der Toscana kennt.
Die Partei des Fortschritts, die sie einst sein wollte, ist sie schon lange nicht mehr. Sonst wären es die Sozialdemokraten, die ein Ende der absurden Energiepolitik forderten - im Vertrauen auf die deutsche Ingenieurskunst, deren Erfindungsreichtum längst zu besseren Lösungen des Energieproblems geführt hätte, wären nicht die Gelder in die falsche Richtung geflossen. Statt dessen schaut die Partei gelassen zu, wie dem Wirtschaftsstandort Deutschland Schaden zugefügt wird. Heute scheint der Partei alles andere wichtiger zu sein als Arbeitsplätze.
Im Blick auf die Zukunft wünscht man sich ein Zurück zum alten Markenkern: zurück zur Natur bei den Grünen. Dass sie sich in einer Koalition mit der hessischen CDU zu einer neuen liberalen Kraft entwickeln, ist zu viel gehofft. Und zurück zum Fortschritt bei der SPD. Dafür ist Opposition eine gute Ausgangsposition. Hessen vorn!
Im Vertrauen: das Erbe der gescheiterten Energiewende und der nutzlosen Klimapolitik kann man getrost der Kanzlerpartei überlassen.
Donnerstag, 14. November 2013
Wir müssen über den Krieg reden...
Dass Deutschland „zwei Weltkriege angezettelt“ habe, ist in Deutschlands Schulen und Redaktionsstuben weitgehend Konsens. Auch die letzten beiden deutschen Außenminister reklamieren die Schuld am Ersten Weltkrieg, als ob es angesichts des Zweiten Weltkriegs darauf nun auch nicht mehr ankomme.
Ob man sich von der packenden Studie des in Cambridge lehrenden australischen Historikers Christopher Clark belehren lässt? Er weist in einer minutiösen Analyse der Wochen und Tage vor dem Beginn des Großen Kriegs nach, dass von einer deutschen „"Schuld“ an der Katastrophe nicht die Rede sein kann und dass sich die „"Verantwortung“ dafür die Staatsmänner aller beteiligten Nationen teilen müssen.
Für die Deutschen bedeutet das keine Erlösung und für die anderen ist es schmerzhaft. Der erste Weltkrieg ist und bleibt die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, aus ihm folgten noch größere Schrecken. Die je unterschiedlichen nationalen Erinnerungen an den „Großen Krieg“ bestimmen noch immer die europäische Gegenwart – und damit auch das Bild, das man in Europa von den Deutschen hat. Schon deshalb müssen wir über den Krieg reden – den ersten, nicht nur den zweiten.
In Großbritannien bereitet man sich auf die Gedenkfeiern zum hundertsten Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs vor. Eine schwierige Gratwanderung kündigt sich an. Zwar ist das „Hun-Bashing“ derzeit aus der Mode und die britische Regierung möchte Schuldzuweisungen vermeiden. Man bestehe, heißt es, auf lediglich zwei Punkten: dass der Krieg ein gerechter Krieg war, ein „just war“. Und dass man gesiegt habe.
Von deutscher Seite wird man wenig Widerspruch ernten. Mit nationalem Masochismus – oder Sadismus? – erklärte jüngst der einstige Außenminister Joschka Fischer den Vertrag von Versailles sogar für „zu sanft“ und „nicht konsequent genug“. Interessant sind die kritischen Stimmen in Großbritannien selbst. Gewiss, ein Mann wie der Autor Max Hastings verkauft sein neues Buch aggressiv mit dem Argument, man habe 1914 wie 1939 in den Deutschen das Böse bekämpft, und der ungleich eminentere Militärhistoriker und Regierungsberater Hew Strachan meint, es gebe bei den Zentenarfeierlichkeiten keinerlei Grund, Rücksicht auf das heutige Deutschland zu nehmen, bloß, weil es nicht zu seinen Niederlagen stehen wolle. Doch die Mehrheit der britischen Publizisten und Historiker, die sich zu Wort melden, fordert vom eigenen Land Selbstkritik. Der Deutschlandkenner Richard J. Evans, Historiker in Cambridge, sieht keinen Grund für die Annahme, dem Kaiser sei es darum gegangen, sich zum Diktator Deutschlands und Europas aufzuschwingen – also keinen Grund für einen „just war“. Auch habe niemand gesiegt. Die Hauptkonflikte blieben ungelöst, bis sie 1939 wieder virulent wurden. Der Mythos vom britischen Sieg verleihe keine verlässliche nationale Identität.
Noch deutlicher wird der konservative Publizist Simon Heffer: Nur aufgrund der Einmischung Großbritanniens sei aus einem begrenzten Konflikt ein Weltkrieg geworden. Die britische Intervention habe nicht nur Millionen Tote gekostet, sondern die alte europäische Ordnung zerstört, revolutionäre Bewegungen genährt und den Wohlstand der vorhergehenden Jahrzehnte vernichtet. Man hätte neutral bleiben, über die starken Handelsbeziehungen die Partnerschaft mit Deutschland pflegen und so die meisten Katastrophen des 20. Jahrhunderts verhindern können.
Das Buch von Christopher Clark, in dem die These von der Hauptverantwortlichkeit des Deutschen Reichs klaftertief begraben wird, gibt der Debatte neue Nahrung. Wer die 700 Seiten dieses Krimis durchgestanden hat, hat zwar keinen Schurken mit rauchendem Colt serviert bekommen, sondern eine Tragödie, in der alle Akteure mit offenen Augen und dennoch blind durch die Kulissen stolpern. Kein Zweifel aber besteht an der provozierenden Rolle Frankreichs – und daran, dass Großbritannien kein eigenes Eisen im Feuer hatte, also kein legitimes Interesse, das ihm das „ius ad bellum“ verliehen hätte. Großbritannien hat nicht nur nicht gesiegt. Es hat auch keinen „just war“ geführt – einen gerechten, d.h. gerechtfertigten Krieg.
Doch war die britische Regierung nicht wegen der Verletzung der Souveränität Belgiens durch die Deutschen moralisch und rechtlich zur Intervention verpflichtet gewesen? Das war, wie Clark minutiös nachzeichnet, eine nachgeschobene Begründung, und die These, man habe „die Freiheit“ gegen deutsche Hegemoniebestrebungen verteidigen müssen, ein Propagandamärchen. Tatsächlich war ein Durchmarsch durch Belgien auch in den Kriegsplänen Frankreichs und Englands vorgesehen, die Solidarität mit „Little Belgium“ zielte auf die Bevölkerung, die man moralisch mobilisieren musste. Mit Propaganda über kindermordende deutsche Hunnen, die ans Gemüt appellierte.
Clarks Buch ist politisch brisant. Ja, erst Großbritanniens Kriegseintritt hat den Krieg zum Weltkrieg werden lassen, wofür seine Regierung, wie Clark zeigt, keinen legitimen Grund hatte. Das ist das Päckchen, das England zu tragen hat – völlig unabhängig von der politischen Blindheit, den voreiligen Versprechen, der Selbstüberschätzung und Fehldiagnosen aller anderen.
Was die deutsche „Schuld“ betrifft, so teilen sich die Sieger selten die Verantwortung mit den Besiegten. Irgend jemand musste die enormen Kosten der Materialschlachten tragen. Vor allem aber brauchten die ausgebluteten und zerstörten Nationen wenigstens den Hauch einer Rechtfertigung für den millionenfachen Tod junger Männer. Dass ihr Opfer keinem vernünftigen Ziel diente, ja dass es ihnen geradezu absichtslos abverlangt wurde, war und ist schwer auszuhalten. Einer muss der Schurke sein, damit man weiterhin ans Gute glauben kann.
Manch einer in Großbritannien hält an alter Größe fest, auch wenn das Empire beim dauernden Siegen unterging. Und manchmal scheint es, als sei aus Deutschland geworden, was Winston Churchill einst boshaft versprochen hat: es ist „fat and impotent“, feist und unbeweglich, wie ein gut gemästeter Kapaun, es kann und will seine ökonomische Macht nicht in eine politische ummünzen. Doch selbst diese Zurückhaltung hilft dem Land nicht, das „zu groß für Europa und zu klein für die Welt“ ist (Kissinger). In der Eurokrise scheuen sich manche unserer Nachbarn nicht zu behaupten, mit der deutschen Austeritätspolitik drohe Deutschland „zum dritten Mal in einem Jahrhundert den Kontinent zu ruinieren“ (Gustav Seibt).
Nein, wir haben es alle gemeinsam getan. Und das ist, wenn man so will, die gute Botschaft für Europa: wir bewältigen die Krise auch nur – gemeinsam.
Ob man sich von der packenden Studie des in Cambridge lehrenden australischen Historikers Christopher Clark belehren lässt? Er weist in einer minutiösen Analyse der Wochen und Tage vor dem Beginn des Großen Kriegs nach, dass von einer deutschen „"Schuld“ an der Katastrophe nicht die Rede sein kann und dass sich die „"Verantwortung“ dafür die Staatsmänner aller beteiligten Nationen teilen müssen.
Für die Deutschen bedeutet das keine Erlösung und für die anderen ist es schmerzhaft. Der erste Weltkrieg ist und bleibt die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, aus ihm folgten noch größere Schrecken. Die je unterschiedlichen nationalen Erinnerungen an den „Großen Krieg“ bestimmen noch immer die europäische Gegenwart – und damit auch das Bild, das man in Europa von den Deutschen hat. Schon deshalb müssen wir über den Krieg reden – den ersten, nicht nur den zweiten.
In Großbritannien bereitet man sich auf die Gedenkfeiern zum hundertsten Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs vor. Eine schwierige Gratwanderung kündigt sich an. Zwar ist das „Hun-Bashing“ derzeit aus der Mode und die britische Regierung möchte Schuldzuweisungen vermeiden. Man bestehe, heißt es, auf lediglich zwei Punkten: dass der Krieg ein gerechter Krieg war, ein „just war“. Und dass man gesiegt habe.
Von deutscher Seite wird man wenig Widerspruch ernten. Mit nationalem Masochismus – oder Sadismus? – erklärte jüngst der einstige Außenminister Joschka Fischer den Vertrag von Versailles sogar für „zu sanft“ und „nicht konsequent genug“. Interessant sind die kritischen Stimmen in Großbritannien selbst. Gewiss, ein Mann wie der Autor Max Hastings verkauft sein neues Buch aggressiv mit dem Argument, man habe 1914 wie 1939 in den Deutschen das Böse bekämpft, und der ungleich eminentere Militärhistoriker und Regierungsberater Hew Strachan meint, es gebe bei den Zentenarfeierlichkeiten keinerlei Grund, Rücksicht auf das heutige Deutschland zu nehmen, bloß, weil es nicht zu seinen Niederlagen stehen wolle. Doch die Mehrheit der britischen Publizisten und Historiker, die sich zu Wort melden, fordert vom eigenen Land Selbstkritik. Der Deutschlandkenner Richard J. Evans, Historiker in Cambridge, sieht keinen Grund für die Annahme, dem Kaiser sei es darum gegangen, sich zum Diktator Deutschlands und Europas aufzuschwingen – also keinen Grund für einen „just war“. Auch habe niemand gesiegt. Die Hauptkonflikte blieben ungelöst, bis sie 1939 wieder virulent wurden. Der Mythos vom britischen Sieg verleihe keine verlässliche nationale Identität.
Noch deutlicher wird der konservative Publizist Simon Heffer: Nur aufgrund der Einmischung Großbritanniens sei aus einem begrenzten Konflikt ein Weltkrieg geworden. Die britische Intervention habe nicht nur Millionen Tote gekostet, sondern die alte europäische Ordnung zerstört, revolutionäre Bewegungen genährt und den Wohlstand der vorhergehenden Jahrzehnte vernichtet. Man hätte neutral bleiben, über die starken Handelsbeziehungen die Partnerschaft mit Deutschland pflegen und so die meisten Katastrophen des 20. Jahrhunderts verhindern können.
Das Buch von Christopher Clark, in dem die These von der Hauptverantwortlichkeit des Deutschen Reichs klaftertief begraben wird, gibt der Debatte neue Nahrung. Wer die 700 Seiten dieses Krimis durchgestanden hat, hat zwar keinen Schurken mit rauchendem Colt serviert bekommen, sondern eine Tragödie, in der alle Akteure mit offenen Augen und dennoch blind durch die Kulissen stolpern. Kein Zweifel aber besteht an der provozierenden Rolle Frankreichs – und daran, dass Großbritannien kein eigenes Eisen im Feuer hatte, also kein legitimes Interesse, das ihm das „ius ad bellum“ verliehen hätte. Großbritannien hat nicht nur nicht gesiegt. Es hat auch keinen „just war“ geführt – einen gerechten, d.h. gerechtfertigten Krieg.
Doch war die britische Regierung nicht wegen der Verletzung der Souveränität Belgiens durch die Deutschen moralisch und rechtlich zur Intervention verpflichtet gewesen? Das war, wie Clark minutiös nachzeichnet, eine nachgeschobene Begründung, und die These, man habe „die Freiheit“ gegen deutsche Hegemoniebestrebungen verteidigen müssen, ein Propagandamärchen. Tatsächlich war ein Durchmarsch durch Belgien auch in den Kriegsplänen Frankreichs und Englands vorgesehen, die Solidarität mit „Little Belgium“ zielte auf die Bevölkerung, die man moralisch mobilisieren musste. Mit Propaganda über kindermordende deutsche Hunnen, die ans Gemüt appellierte.
Clarks Buch ist politisch brisant. Ja, erst Großbritanniens Kriegseintritt hat den Krieg zum Weltkrieg werden lassen, wofür seine Regierung, wie Clark zeigt, keinen legitimen Grund hatte. Das ist das Päckchen, das England zu tragen hat – völlig unabhängig von der politischen Blindheit, den voreiligen Versprechen, der Selbstüberschätzung und Fehldiagnosen aller anderen.
Was die deutsche „Schuld“ betrifft, so teilen sich die Sieger selten die Verantwortung mit den Besiegten. Irgend jemand musste die enormen Kosten der Materialschlachten tragen. Vor allem aber brauchten die ausgebluteten und zerstörten Nationen wenigstens den Hauch einer Rechtfertigung für den millionenfachen Tod junger Männer. Dass ihr Opfer keinem vernünftigen Ziel diente, ja dass es ihnen geradezu absichtslos abverlangt wurde, war und ist schwer auszuhalten. Einer muss der Schurke sein, damit man weiterhin ans Gute glauben kann.
Manch einer in Großbritannien hält an alter Größe fest, auch wenn das Empire beim dauernden Siegen unterging. Und manchmal scheint es, als sei aus Deutschland geworden, was Winston Churchill einst boshaft versprochen hat: es ist „fat and impotent“, feist und unbeweglich, wie ein gut gemästeter Kapaun, es kann und will seine ökonomische Macht nicht in eine politische ummünzen. Doch selbst diese Zurückhaltung hilft dem Land nicht, das „zu groß für Europa und zu klein für die Welt“ ist (Kissinger). In der Eurokrise scheuen sich manche unserer Nachbarn nicht zu behaupten, mit der deutschen Austeritätspolitik drohe Deutschland „zum dritten Mal in einem Jahrhundert den Kontinent zu ruinieren“ (Gustav Seibt).
Nein, wir haben es alle gemeinsam getan. Und das ist, wenn man so will, die gute Botschaft für Europa: wir bewältigen die Krise auch nur – gemeinsam.
Montag, 4. November 2013
Die Provinz leuchtet
Was sich geändert hat? Es riecht jetzt anders. Und es klingt anders, dort, wo ich lebe, in der oberhessischen Provinz, am Rande des Vulkans.
Am Anfang war der Schrei: ein langgezogenes „Aaaa-uf!“, mit dem die Nachbarin ihre Milchkühe angetrieben hat, begleitet vom Klatschen des dicken Stocks aus Buchenholz auf den Hintern der trödelnden Tiere. Dazu das Geräusch, das Kuhfladen machen, wenn sie auf Asphalt treffen: so ein kurzer, saftiger Platsch, wie ein zerberstender Apfel. Morgens und abends das gleiche Schauspiel, früh auf die Weide, später zurück zum Melken in den Stall. Das ordnete meinen Tag, wie die Kirchenglocken im Nachbarort.
Den meiner Nachbarin auch: Eine Kuh macht Muh, viele Kühe machen Mühe. Irgendwann trennte sie sich schweren Herzens vom Milchvieh. Statt dessen zogen Schweine in den Stall, der Duft nach Milch und verdautem Gras wich dem scharfen, strengen Gestank von Ammoniak. Und anstelle des satten Rülpsers einer zufrieden mampfenden Milchkuh hört man seither nebenan das empörte Schreien eingesperrter Fleischreserven.
Ja, das Dorf klingt anders, auch, weil Hermann fehlt. Der Hahn, der jeden Morgen bereits um vier verschnupft losgurgelte, ist tot. Ich vermisse ihn. Mehr noch die geschäftigen Hennen, hübsche Zwergwyandotten und prächtige Legehühner, die beste Eier gaben. Erst hat der Nachbar die Kaninchenzucht aufgegeben, danach wurden die Hühner abgeschafft. Und nun mussten auch noch die jubilierenden Kanarienvögel weichen – Hubert hat’s am Knie und ist sowieso nicht mehr der Jüngste.
Frei lebende Singvögel machen sich hier schon lange rar, das verdanken wir den hässlich schnarrenden Elstern. Wenigstens die Greifvögel von der nahen Flussaue rufen noch ab und an kreisend über dem Dorf. Kein Trost sind nächtliche Katergefechte.
Ja, es wird leiser im Dorf. Wenn man die Rasenmäher nicht zählt. Ebenfalls verzichtbar ist das Theater beim frühmorgendliche Abtransport der Schlachtschweine, ein schreckliches Schreien und Trommeln, das den Vegetarier in mir weckt. Doch auch das ist bald vorbei. Dann hört man morgens wahrscheinlich nur noch ein Flugzeug, das Warteschleife fliegt, weil der Frankfurter Flughafen überlastet ist. Oder den Bäckerwagen, der sein Kommen durch lautes Hupen ankündigt, was immer noch erträglicher ist als das fröhliche „Hier kommt der Eiermann“, das erschallt, wenn der Mann mit Wurst und Käse heranbraust. Aber ihm sei verziehen: die Nachbarin, um die neunzig, die jeden Tag wie um die siebzig mit dem Hund durch die Flussaue läuft, kauft lieber bei ihm als im Supermarkt, der ist zwei Dörfer entfernt. Überhaupt, die Alten, von denen es in meinem Dorf übrigens weniger gibt als Kinder: sie werden steinalt hier. Woran das liegt?
Bald hat es hier mehr Pferde als Rinder. Die Gemüsegärten mit den bunten Blumen und Stauden werden weniger. Die Maisfelder nehmen zu. Und nachts sind die Sterne ferner gerückt, seit sie am Horizont wie Weihnachtsbäume stehen und leuchten und leuchten: Windkrafträder, die Feinde der dunklen Nächte. Und des roten Milans und der Zugvögel. Sie sind so bekömmlich für die Natur und die karge Schönheit des Vogelsbergs wie die Monokulturen der Maisfelder.
Und dann ist auch noch Herbst. Äpfel fallen, Nebel wallen. Zeit fürs Kaminfeuer und eine gute Dosis Melancholie mit Hilfe von Schnaps und Statistik: Lasst uns leben hinterm Mond, solange das noch geht. Das Dorf stirbt. Der Untergang ist nah. Aber wir können sagen, wir sind dabei gewesen.
Die Provinz leuchtet nicht, sie lichtet sich, sagen die Zahlen. Erst starben die Dorfkneipen, dann die Tante-Emma-Läden, jetzt sind die erst ein paar Jahrzehnte alten Kläranlagen zu groß für die kleiner werdenden Haushalte, in denen Menschen leben, denen man das Wassersparen beigebracht hat. Das war in unserer Region immer schon unnötig, mittlerweile zerstört es die Kanalisation. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, die alte Hausgrube aufzugeben, um statt dessen die Fäkalien und Abwässer in den Kanal zu leiten? Doch wir mussten, die Ideologie der „Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen“ wollte es so – gleiche Standards für alle, egal, wie unterschiedlich die Lebenslagen sind. Kläranlagen aber verursachen den Kommunen die höchsten Energiekosten.
Ja, die Situation ist da, besonders spürbar in den „neuen“ Bundesländern: die Infrastruktur ist zu groß für die schwindende Bevölkerung; die Kosten bleiben gleich, verteilen sich jedoch auf weniger Nutzer. Das Leben in der Provinz wird teuer. Häuser stehen leer und verfallen, die noch bewohnt sind, verlieren an Wert. Erst recht die in der Nähe von Wind“parks“ und Starkstromleitungen. Wir Letzten vom Land leben in einer Abwärtsspirale. Abreißen oder Umziehen, empfehlen Studien für die besonders betroffenen Regionen.
Also weg mit den Dörfern und dem Landleben? Der freien Wildbahn eine Chance? Irrtum: Die Tierwelt macht es den Menschen nach und zieht in die Stadt. In Berlin stromern Füchse durch die Schrebergärten, in den Parkanlagen von Frankfurt am Main fühlen sich Singvögel wohler als in den agrarischen Monokulturen, die Kaninchen wissen das schon längst und vermehren sich entsprechend.
Die Provinz aber soll zur Stellfläche für Windräder und Biogasanlagen werden, meinen manche, weil das ja gut für die Natur sei, wenn auch nun nicht gerade für jene Schrumpfnatur, die sie umgibt. Der Bauer als Verpächter seiner sauren Wiesen hat es prima damit, von der Pacht lässt sich gut leben und das Schweinefleisch kommt eh billiger aus Dänemark. Das Land überlebt in den nach ihm benannten Zeitschriften, die man vor allem in der Stadt liest, wo viele statt Wetter nur noch klimageregelte Zonen kennen.
Wie in den Science Fiction-Romanen der 70er Jahre wird sich die Provinz irgendwann zum feindlichen Draußen wandeln, zur hässlichen Versorgungswüste für den Energiebedarf der Städte. Aber ganz wie im Roman werden auch sie irgendwann kommen, die Unpassenden, die Freaks, die Stadtflüchtlinge, die sich in den Nischen der Zivilisation ihr eigenes Paradies suchen. Es hat sie immer gegeben.
Kein Trend ist unumkehrbar. Immer wieder gab es Gegenbewegungen zum Zug in die Metropolen, suchen Städter Ruhe und geräumige Fachwerkscheunen und entdecken die Kunst des Gartenbaus neu. Stets wird irgendwann der Wert des Alten wiederentdeckt, weil es Charakter hat und beständiger ist als die Wegwerfarchitektur der Lebensabschnittshülsen in den Wohnstädten.
Wir werden ja sehen. Wir Letzten.
Am Anfang war der Schrei: ein langgezogenes „Aaaa-uf!“, mit dem die Nachbarin ihre Milchkühe angetrieben hat, begleitet vom Klatschen des dicken Stocks aus Buchenholz auf den Hintern der trödelnden Tiere. Dazu das Geräusch, das Kuhfladen machen, wenn sie auf Asphalt treffen: so ein kurzer, saftiger Platsch, wie ein zerberstender Apfel. Morgens und abends das gleiche Schauspiel, früh auf die Weide, später zurück zum Melken in den Stall. Das ordnete meinen Tag, wie die Kirchenglocken im Nachbarort.
Den meiner Nachbarin auch: Eine Kuh macht Muh, viele Kühe machen Mühe. Irgendwann trennte sie sich schweren Herzens vom Milchvieh. Statt dessen zogen Schweine in den Stall, der Duft nach Milch und verdautem Gras wich dem scharfen, strengen Gestank von Ammoniak. Und anstelle des satten Rülpsers einer zufrieden mampfenden Milchkuh hört man seither nebenan das empörte Schreien eingesperrter Fleischreserven.
Ja, das Dorf klingt anders, auch, weil Hermann fehlt. Der Hahn, der jeden Morgen bereits um vier verschnupft losgurgelte, ist tot. Ich vermisse ihn. Mehr noch die geschäftigen Hennen, hübsche Zwergwyandotten und prächtige Legehühner, die beste Eier gaben. Erst hat der Nachbar die Kaninchenzucht aufgegeben, danach wurden die Hühner abgeschafft. Und nun mussten auch noch die jubilierenden Kanarienvögel weichen – Hubert hat’s am Knie und ist sowieso nicht mehr der Jüngste.
Frei lebende Singvögel machen sich hier schon lange rar, das verdanken wir den hässlich schnarrenden Elstern. Wenigstens die Greifvögel von der nahen Flussaue rufen noch ab und an kreisend über dem Dorf. Kein Trost sind nächtliche Katergefechte.
Ja, es wird leiser im Dorf. Wenn man die Rasenmäher nicht zählt. Ebenfalls verzichtbar ist das Theater beim frühmorgendliche Abtransport der Schlachtschweine, ein schreckliches Schreien und Trommeln, das den Vegetarier in mir weckt. Doch auch das ist bald vorbei. Dann hört man morgens wahrscheinlich nur noch ein Flugzeug, das Warteschleife fliegt, weil der Frankfurter Flughafen überlastet ist. Oder den Bäckerwagen, der sein Kommen durch lautes Hupen ankündigt, was immer noch erträglicher ist als das fröhliche „Hier kommt der Eiermann“, das erschallt, wenn der Mann mit Wurst und Käse heranbraust. Aber ihm sei verziehen: die Nachbarin, um die neunzig, die jeden Tag wie um die siebzig mit dem Hund durch die Flussaue läuft, kauft lieber bei ihm als im Supermarkt, der ist zwei Dörfer entfernt. Überhaupt, die Alten, von denen es in meinem Dorf übrigens weniger gibt als Kinder: sie werden steinalt hier. Woran das liegt?
Bald hat es hier mehr Pferde als Rinder. Die Gemüsegärten mit den bunten Blumen und Stauden werden weniger. Die Maisfelder nehmen zu. Und nachts sind die Sterne ferner gerückt, seit sie am Horizont wie Weihnachtsbäume stehen und leuchten und leuchten: Windkrafträder, die Feinde der dunklen Nächte. Und des roten Milans und der Zugvögel. Sie sind so bekömmlich für die Natur und die karge Schönheit des Vogelsbergs wie die Monokulturen der Maisfelder.
Und dann ist auch noch Herbst. Äpfel fallen, Nebel wallen. Zeit fürs Kaminfeuer und eine gute Dosis Melancholie mit Hilfe von Schnaps und Statistik: Lasst uns leben hinterm Mond, solange das noch geht. Das Dorf stirbt. Der Untergang ist nah. Aber wir können sagen, wir sind dabei gewesen.
Die Provinz leuchtet nicht, sie lichtet sich, sagen die Zahlen. Erst starben die Dorfkneipen, dann die Tante-Emma-Läden, jetzt sind die erst ein paar Jahrzehnte alten Kläranlagen zu groß für die kleiner werdenden Haushalte, in denen Menschen leben, denen man das Wassersparen beigebracht hat. Das war in unserer Region immer schon unnötig, mittlerweile zerstört es die Kanalisation. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, die alte Hausgrube aufzugeben, um statt dessen die Fäkalien und Abwässer in den Kanal zu leiten? Doch wir mussten, die Ideologie der „Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen“ wollte es so – gleiche Standards für alle, egal, wie unterschiedlich die Lebenslagen sind. Kläranlagen aber verursachen den Kommunen die höchsten Energiekosten.
Ja, die Situation ist da, besonders spürbar in den „neuen“ Bundesländern: die Infrastruktur ist zu groß für die schwindende Bevölkerung; die Kosten bleiben gleich, verteilen sich jedoch auf weniger Nutzer. Das Leben in der Provinz wird teuer. Häuser stehen leer und verfallen, die noch bewohnt sind, verlieren an Wert. Erst recht die in der Nähe von Wind“parks“ und Starkstromleitungen. Wir Letzten vom Land leben in einer Abwärtsspirale. Abreißen oder Umziehen, empfehlen Studien für die besonders betroffenen Regionen.
Also weg mit den Dörfern und dem Landleben? Der freien Wildbahn eine Chance? Irrtum: Die Tierwelt macht es den Menschen nach und zieht in die Stadt. In Berlin stromern Füchse durch die Schrebergärten, in den Parkanlagen von Frankfurt am Main fühlen sich Singvögel wohler als in den agrarischen Monokulturen, die Kaninchen wissen das schon längst und vermehren sich entsprechend.
Die Provinz aber soll zur Stellfläche für Windräder und Biogasanlagen werden, meinen manche, weil das ja gut für die Natur sei, wenn auch nun nicht gerade für jene Schrumpfnatur, die sie umgibt. Der Bauer als Verpächter seiner sauren Wiesen hat es prima damit, von der Pacht lässt sich gut leben und das Schweinefleisch kommt eh billiger aus Dänemark. Das Land überlebt in den nach ihm benannten Zeitschriften, die man vor allem in der Stadt liest, wo viele statt Wetter nur noch klimageregelte Zonen kennen.
Wie in den Science Fiction-Romanen der 70er Jahre wird sich die Provinz irgendwann zum feindlichen Draußen wandeln, zur hässlichen Versorgungswüste für den Energiebedarf der Städte. Aber ganz wie im Roman werden auch sie irgendwann kommen, die Unpassenden, die Freaks, die Stadtflüchtlinge, die sich in den Nischen der Zivilisation ihr eigenes Paradies suchen. Es hat sie immer gegeben.
Kein Trend ist unumkehrbar. Immer wieder gab es Gegenbewegungen zum Zug in die Metropolen, suchen Städter Ruhe und geräumige Fachwerkscheunen und entdecken die Kunst des Gartenbaus neu. Stets wird irgendwann der Wert des Alten wiederentdeckt, weil es Charakter hat und beständiger ist als die Wegwerfarchitektur der Lebensabschnittshülsen in den Wohnstädten.
Wir werden ja sehen. Wir Letzten.
Sonntag, 20. Oktober 2013
Prunk, Protz, Pranger
In Sachen Bischof von Limburg hat der Protestantismus gesiegt oder das Proletariat. Passend dazu jene Worte, die Verachtung regelrecht herausprusten: Prunk und Pracht, protzen und prassen. Also: Pranger.
Vom fröhlichen Agnostiker bis zum strengen Lutheraner scheinen sich alle einig zu sein: der Katholik habe es an Bescheidenheit fehlen lassen, als er die Bischofsresidenz des hübschen Städtchens zu einem Schmuckstück ausbauen ließ – zu Kosten, die mittlerweile angeblich auf das zehnfache des ursprünglich vorgesehenen Betrags gestiegen sind.
Nun ist jener Bischof, ein schmales Männchen, gewiss kein Sympathieträger. Doch wie auch immer er gesündigt hat: niemand scheint ihn kontrolliert zu haben. Das Versagen sämtlicher kritischer Instanzen ist ein Krimi für sich. Wer sich da im Nachhinein unschuldig gibt, verhält sich unredlich.
Was jedoch am meisten irritiert: die öffentliche Empörung übersteigt bei weitem den Schaden. Denn der Bischof hat keine Steuergelder veruntreut, Vorwürfe können ihm höchstens seine Kirche und ihre Gläubigen machen. Woher also die Aufregung, die so auffällig fehlt, wenn es um „demokratisch“, also von der öffentlichen Hand geplante Bauwerke geht? Bei denen ist es üblich, dass die Kosten explodieren, was, wenn es nicht vorsätzliche Irreführung ist, zumindest darauf schließen lässt, dass Politik und Verwaltung Planung und Kostenkalkulation verlernt haben.
Der Schaden, sofern einer dem Bistum entstanden ist, geht im Grunde weder Politik noch Nichtkatholiken etwas an. Womöglich speist sich also die allgemeine Erregung aus tieferen Quellen, was so sprechende Worte wie „Protz“ und „Prunk“ nahelegen. Sie lassen vor unseren Augen ein Sittengemälde entstehen, in dem Klerus und Adel enthemmt verprassen, was das Volk mit Fleiß erschaffen hat. Und so führen sich all die Empörten und Selbstgerechten auf wie weiland im 18. Jahrhundert die Jakobiner, die im Namen der Tugend zum Tyrannensturz aufrufen. Dabei sieht ausgerechnet Tebartz-van-Elst nicht im Entferntesten aus wie die Karikatur des versoffenen und verfressenen Kirchenmannes. Doch wem, denken offenbar die Erregten, ist schon zu trauen, der sich eine freistehende Wanne ins Badezimmer stellen und goldglänzende Türklinken verbauen lässt?
Ohne mich zum Anwalt der katholischen Kirche machen zu wollen: an diesen Bildern und an dieser Empörung stimmt etwas nicht.
Etwa, was das Protzen und Prunken betrifft: wer, bitte schön, wäre geeigneter für die Entfaltung von Pracht als die katholische Kirche? Ihre Mönche und Bischöfe haben der Nachwelt die schönsten Dinge hinterlassen: Kathedralen und Champagner, um es mal auf diesen Punkt zu bringen. Bleiben wir bei den Kathedralen, diesen großartigen Bauten zu Ehren Gottes: nichts als Protz und Prunk und Verschwendung, nach den Maßstäben der Empörten. Doch – wollen wir sie missen? Ein Ort ohne Gotteshaus ist eine Ansiedlung ohne Mitte – und ohne Geschichte. Es sind nunmal die Adelspaläste, Bischofssitze und Bürgerhäuser, die Europa noch heute prägen, während die Behausungen der kleinen Leute selten ein Menschenleben überdauerten. Sollen wir deshalb auf die Zeugnisse früherer Prachtentfaltung verzichten?
Mag sein, dass sich dieser Bischof und jener Papst mit prächtigen Bauten ein Denkmal setzen oder seine Macht demonstrieren wollte. Doch sogar den sichtlich Eigensüchtigen darf man unterstellen, dass sie über den Tag hinaus gedacht haben. Kirchen und Paläste waren nicht für nur ein Menschenleben gedacht, sie sollten überdauern, bis in alle Ewigkeit, amen. In Zeiten, in denen Zweckarchitektur die Innenstädte veröden lässt und Reihenhäuser armselige Lebensabschnittshüllen geworden sind, die keinen Charakter mehr haben, ist das vielleicht einen Gedanken wert: dass es im Leben auch darauf ankommen könnte, etwas Bleibendes zu schaffen und zu hinterlassen.
Der Limburger Bischof hat jedenfalls ein gutes Werk für Limburg und seine Besucher getan, in dem er mit beträchtlichem Aufwand die prächtige Vikarie aus dem 15. Jahrhundert restaurieren ließ. Ob die Neubauten der Residenz Bestand haben, unterliegt einem ästhetischen Urteil, keinem moralischen oder buchhalterischen.
Doch das Spektakuläre des Neubaus scheint überwiegend unter der Sichtbarkeitsgrenze zu liegen. Und die Schießschartenoptik der neuen Kapelle lässt befürchten, dass sie in hundert Jahren niemanden mehr berührt. Dieses Urteil aber müssen wir der Nachwelt überlassen. Und der katholischen Kirche, sofern es sie und ihr Vermögen dann noch gibt.
Vom fröhlichen Agnostiker bis zum strengen Lutheraner scheinen sich alle einig zu sein: der Katholik habe es an Bescheidenheit fehlen lassen, als er die Bischofsresidenz des hübschen Städtchens zu einem Schmuckstück ausbauen ließ – zu Kosten, die mittlerweile angeblich auf das zehnfache des ursprünglich vorgesehenen Betrags gestiegen sind.
Nun ist jener Bischof, ein schmales Männchen, gewiss kein Sympathieträger. Doch wie auch immer er gesündigt hat: niemand scheint ihn kontrolliert zu haben. Das Versagen sämtlicher kritischer Instanzen ist ein Krimi für sich. Wer sich da im Nachhinein unschuldig gibt, verhält sich unredlich.
Was jedoch am meisten irritiert: die öffentliche Empörung übersteigt bei weitem den Schaden. Denn der Bischof hat keine Steuergelder veruntreut, Vorwürfe können ihm höchstens seine Kirche und ihre Gläubigen machen. Woher also die Aufregung, die so auffällig fehlt, wenn es um „demokratisch“, also von der öffentlichen Hand geplante Bauwerke geht? Bei denen ist es üblich, dass die Kosten explodieren, was, wenn es nicht vorsätzliche Irreführung ist, zumindest darauf schließen lässt, dass Politik und Verwaltung Planung und Kostenkalkulation verlernt haben.
Der Schaden, sofern einer dem Bistum entstanden ist, geht im Grunde weder Politik noch Nichtkatholiken etwas an. Womöglich speist sich also die allgemeine Erregung aus tieferen Quellen, was so sprechende Worte wie „Protz“ und „Prunk“ nahelegen. Sie lassen vor unseren Augen ein Sittengemälde entstehen, in dem Klerus und Adel enthemmt verprassen, was das Volk mit Fleiß erschaffen hat. Und so führen sich all die Empörten und Selbstgerechten auf wie weiland im 18. Jahrhundert die Jakobiner, die im Namen der Tugend zum Tyrannensturz aufrufen. Dabei sieht ausgerechnet Tebartz-van-Elst nicht im Entferntesten aus wie die Karikatur des versoffenen und verfressenen Kirchenmannes. Doch wem, denken offenbar die Erregten, ist schon zu trauen, der sich eine freistehende Wanne ins Badezimmer stellen und goldglänzende Türklinken verbauen lässt?
Ohne mich zum Anwalt der katholischen Kirche machen zu wollen: an diesen Bildern und an dieser Empörung stimmt etwas nicht.
Etwa, was das Protzen und Prunken betrifft: wer, bitte schön, wäre geeigneter für die Entfaltung von Pracht als die katholische Kirche? Ihre Mönche und Bischöfe haben der Nachwelt die schönsten Dinge hinterlassen: Kathedralen und Champagner, um es mal auf diesen Punkt zu bringen. Bleiben wir bei den Kathedralen, diesen großartigen Bauten zu Ehren Gottes: nichts als Protz und Prunk und Verschwendung, nach den Maßstäben der Empörten. Doch – wollen wir sie missen? Ein Ort ohne Gotteshaus ist eine Ansiedlung ohne Mitte – und ohne Geschichte. Es sind nunmal die Adelspaläste, Bischofssitze und Bürgerhäuser, die Europa noch heute prägen, während die Behausungen der kleinen Leute selten ein Menschenleben überdauerten. Sollen wir deshalb auf die Zeugnisse früherer Prachtentfaltung verzichten?
Mag sein, dass sich dieser Bischof und jener Papst mit prächtigen Bauten ein Denkmal setzen oder seine Macht demonstrieren wollte. Doch sogar den sichtlich Eigensüchtigen darf man unterstellen, dass sie über den Tag hinaus gedacht haben. Kirchen und Paläste waren nicht für nur ein Menschenleben gedacht, sie sollten überdauern, bis in alle Ewigkeit, amen. In Zeiten, in denen Zweckarchitektur die Innenstädte veröden lässt und Reihenhäuser armselige Lebensabschnittshüllen geworden sind, die keinen Charakter mehr haben, ist das vielleicht einen Gedanken wert: dass es im Leben auch darauf ankommen könnte, etwas Bleibendes zu schaffen und zu hinterlassen.
Der Limburger Bischof hat jedenfalls ein gutes Werk für Limburg und seine Besucher getan, in dem er mit beträchtlichem Aufwand die prächtige Vikarie aus dem 15. Jahrhundert restaurieren ließ. Ob die Neubauten der Residenz Bestand haben, unterliegt einem ästhetischen Urteil, keinem moralischen oder buchhalterischen.
Doch das Spektakuläre des Neubaus scheint überwiegend unter der Sichtbarkeitsgrenze zu liegen. Und die Schießschartenoptik der neuen Kapelle lässt befürchten, dass sie in hundert Jahren niemanden mehr berührt. Dieses Urteil aber müssen wir der Nachwelt überlassen. Und der katholischen Kirche, sofern es sie und ihr Vermögen dann noch gibt.
Mittwoch, 2. Oktober 2013
Ach, die FDP. Ach ja.
Vergangen, vergessen, vorüber und vorbei. Die FDP hat bekommen, was sie verdient. Denn nicht erst jetzt fehlt im Bundestag eine liberale Stimme. Wir Liberalen und Libertären sind schon lange heimatlos und leiden nicht erst seit gestern darunter, dass Liberalismus hierzulande mit der FDP identifiziert wird – zu Unrecht.
Oder soll man vielleicht doch ein klein wenig Mitleid haben? Denn jetzt mauert ihr auch noch die neue Führungsmannschaft, welche die Partei nach dem tiefen Fall wieder zur Sonne, zur Freiheit führen soll, den Grabstein breit. Als ob man Koalitionstreue nachholen müsste, sollen die wenigen verbliebenen Eurokritiker in der Partei endgültig mundtot gemacht werden. Man wolle ja nicht der Alternative für Deutschland hinterherlaufen. Natürlich nicht – man hat ihr schließlich den Weg bereitet.
Denn die FDP hatte ihre Chancen, der Freiheit eine Gasse zu schlagen – und hat eine nach der anderen verspielt. Statt dagegen zu halten, wenn die anderen Parteien ihre Kuschelparolen ausgeben, hat sie sich angebiedert. „Mitfühlender“ Liberalismus – ja herrje, haben wir das wirklich noch gebraucht angesichts des Gesumses und Gesäusels unserer Menschlichkeitsspezialisten von links bis CDU? Das letzte ehrliche Wort, das Guido Westerwelle ganz schnell wieder zurücknahm, um fortan den sprachlosen Außenminister zu geben, war das von der „spätrömischen Dekadenz“. Recht hatte er: das System der Wahlgeschenke soll, wie Brot und Spiele, das Volk ruhigstellen. Die Staatsschuldenkrise verdankt sich genau jener Politik, in der Stimmenkauf das politische Projekt ersetzt.
Doch die FDP blieb spätrömisch bis zum bitteren Ende, als ob Ruhigstellen die erste Bürgerpflicht wäre. Wäre sie eine liberale Partei gewesen, hätte sie der Debatte über die Risiken der Eurorettungspolitik Raum und Stimme gegeben und damit die „Alternative für Deutschland“, über die sie jetzt so bitter klagt, unnötig gemacht. Eine liberale Partei hätte den permanenten Rechtsbruch zum Thema gemacht, auf dem die „Eurorettung“ basiert und auf Vertragstreue, Eigenverantwortung und das Haftungsprinzip gepocht. Liberal wäre gewesen, auf dem Budgetrecht der frei gewählten Abgeordneten des (nationalen) Parlaments zu beharren, statt das Geld der Bürger irgendwelchen durch nichts legitimierten (europäischen) Instanzen auszuliefern. Liberal hieße, sich gegen eine Energiepolitik zu stemmen, die durch gigantische Subventionen den Wettbewerb verzerrt, die hierzulande weitgehend nutzlose Photovoltaik zugunsten innovativer Technik privilegiert und Umverteilung von unten nach oben begünstigt.
A propos Umverteilung: Es mag ja ungerecht sein, dass sich die FDP nie vom Ruch hat freimachen können, sie sei eine gemeinwohlfreie Partei der Besserverdiener und nur daran interessiert, das Wohl ihrer reichen Lobby zu mehren. Die Gegenfrage sei gestellt: warum hat es in dieser Partei keiner verstanden, das Lob all jener zu singen, die dafür sorgen, dass fast die Hälfte aller Bürger keine Lohn- oder Einkommenssteuer zahlen muss? Man könnte das schließlich eine Leistung nennen, die sich sehen lassen kann. Reichenschelte betreiben schon die anderen, für eine liberale Partei aber gibt es mehr als einen Grund, die hohe Steuermoral der Mehrheit der „Besserverdienenden“ zu rühmen, als der man im übrigen hierzulande schon als Handwerker oder mittlerer Angestellter gilt. Das Keifen gegen Steuerzahler, die man glaubt ducken und beleidigen zu müssen, statt sie zu ehren und zu preisen, ist die hierzulande vorherrschende Tonlage. Kühe, die Milch geben sollen, werden besser behandelt.
Diejenigen, die keine Steuern zahlen, brauchen keine Extralobby, die haben sie bereits – in einem Staat, in dessen Haushalt der größte Posten das Sozialbudget ist, weiß man, wie man durch Abhängigkeit Treue erzielt.
Womit wir bei einem liberalen Kernprojekt wäre: der Abwehr eines Staates, der seine Eingriffe Fürsorge nennt. Was könnte liberaler sein, als sich gegen die anmaßende Einmischung des Staates in die private Lebensführung der Bürger zu wehren? Wer sich nicht als hilfloses Wesen fühlt, das vom Staat gepäppelt und von lächelnden Politikdarstellern in den Arm genommen werden muss, wer selber weiß, was ihm gut tut, und keine Anweisung braucht, wie man „richtig“ lebt, hat hierzulande keine Lobby. Hat aber mittlerweile einen Verdacht: Wer nichts Substantielles zu sagen hat, bläht sich eben moralisch auf. Die Fürsorgerhetorik der Parteien soll das große Nichts verdecken, das sich sonst gähnend auftäte.
Nach solcher Bedeckung einer Blöße scheint großer Bedarf zu herrschen. Auch die Grünen halten vom Bürger wenig, vom Staat umso mehr. Mit Jürgen Trittin ist man zu den autoritären Traditionen aus K-Gruppenzeiten zurückgekehrt. Dabei hat es ja einst ein durchaus liberales Intermezzo gegeben, befeuert durch das Bündnis mit Bürgerrechtlern aus der DDR. Tempi passati - auch der wirtschaftsliberale Flügel der Partei um Margareta Wolf oder Oswald Metzger hat sich längst verabschiedet. Die Grünen hatten der heiklen Eurorettungspolitik der Kanzlerin nichts entgegenzusetzen, begeisterten sich mit protestantischem Eifer für Steuererhöhungen und haben ihre städtisch-lockere Klientel endgültig mit dem „Veggie“-Day vergrault. Was, bitte, hat eine Partei in den Kantinen der Republik zu suchen?
Fast tragisch könnte man nennen, dass die Partei ausgerechnet, was die „Energiewende“ betrifft, jedes Gespür für das verloren hat, was ihr doch sonst so heilig ist: Nachhaltigkeit, Natur und Umwelt. Eine plan- und hirnlose Energiepolitik, die dazu führt, dass der auf Kosten der Stromkunden hochsubventioniert erzeugte Strom verschenkt werden muss, ist sicherlich alles andere als ressourcenschonend. Dabei sind die materiellen und ideellen Kosten noch gar nicht mitgerechnet, die Vermaisung und Verspargelung der Landschaft auf Kosten von Flora und Fauna erzeugen. Merke: Die Geldbauchunke und Hufnasenfledermaus haben immer nur als Vorwand gedient. Wenn es dem roten Milan und unzähligen Zugvögeln ans Gefieder geht, bleiben die Grünen völlig ungerührt. Hauptsache, das böse Atom ist erledigt. Doch noch nicht einmal diese Trophäe kann die Partei sich anheften. Dieser Drache ist von der Kanzlerin erschlagen worden.
Was tun also ohne eine Partei, die man liberal nennen könnte? Ach, man musste ja lange schon ohne auskommen. Souveräne Bürger brauchen keine Lobby. Ansonsten: bei der Europawahl die „Alternative für Deutschland“ wählen. Damit ärgert man unter Garantie alle.
Oder soll man vielleicht doch ein klein wenig Mitleid haben? Denn jetzt mauert ihr auch noch die neue Führungsmannschaft, welche die Partei nach dem tiefen Fall wieder zur Sonne, zur Freiheit führen soll, den Grabstein breit. Als ob man Koalitionstreue nachholen müsste, sollen die wenigen verbliebenen Eurokritiker in der Partei endgültig mundtot gemacht werden. Man wolle ja nicht der Alternative für Deutschland hinterherlaufen. Natürlich nicht – man hat ihr schließlich den Weg bereitet.
Denn die FDP hatte ihre Chancen, der Freiheit eine Gasse zu schlagen – und hat eine nach der anderen verspielt. Statt dagegen zu halten, wenn die anderen Parteien ihre Kuschelparolen ausgeben, hat sie sich angebiedert. „Mitfühlender“ Liberalismus – ja herrje, haben wir das wirklich noch gebraucht angesichts des Gesumses und Gesäusels unserer Menschlichkeitsspezialisten von links bis CDU? Das letzte ehrliche Wort, das Guido Westerwelle ganz schnell wieder zurücknahm, um fortan den sprachlosen Außenminister zu geben, war das von der „spätrömischen Dekadenz“. Recht hatte er: das System der Wahlgeschenke soll, wie Brot und Spiele, das Volk ruhigstellen. Die Staatsschuldenkrise verdankt sich genau jener Politik, in der Stimmenkauf das politische Projekt ersetzt.
Doch die FDP blieb spätrömisch bis zum bitteren Ende, als ob Ruhigstellen die erste Bürgerpflicht wäre. Wäre sie eine liberale Partei gewesen, hätte sie der Debatte über die Risiken der Eurorettungspolitik Raum und Stimme gegeben und damit die „Alternative für Deutschland“, über die sie jetzt so bitter klagt, unnötig gemacht. Eine liberale Partei hätte den permanenten Rechtsbruch zum Thema gemacht, auf dem die „Eurorettung“ basiert und auf Vertragstreue, Eigenverantwortung und das Haftungsprinzip gepocht. Liberal wäre gewesen, auf dem Budgetrecht der frei gewählten Abgeordneten des (nationalen) Parlaments zu beharren, statt das Geld der Bürger irgendwelchen durch nichts legitimierten (europäischen) Instanzen auszuliefern. Liberal hieße, sich gegen eine Energiepolitik zu stemmen, die durch gigantische Subventionen den Wettbewerb verzerrt, die hierzulande weitgehend nutzlose Photovoltaik zugunsten innovativer Technik privilegiert und Umverteilung von unten nach oben begünstigt.
A propos Umverteilung: Es mag ja ungerecht sein, dass sich die FDP nie vom Ruch hat freimachen können, sie sei eine gemeinwohlfreie Partei der Besserverdiener und nur daran interessiert, das Wohl ihrer reichen Lobby zu mehren. Die Gegenfrage sei gestellt: warum hat es in dieser Partei keiner verstanden, das Lob all jener zu singen, die dafür sorgen, dass fast die Hälfte aller Bürger keine Lohn- oder Einkommenssteuer zahlen muss? Man könnte das schließlich eine Leistung nennen, die sich sehen lassen kann. Reichenschelte betreiben schon die anderen, für eine liberale Partei aber gibt es mehr als einen Grund, die hohe Steuermoral der Mehrheit der „Besserverdienenden“ zu rühmen, als der man im übrigen hierzulande schon als Handwerker oder mittlerer Angestellter gilt. Das Keifen gegen Steuerzahler, die man glaubt ducken und beleidigen zu müssen, statt sie zu ehren und zu preisen, ist die hierzulande vorherrschende Tonlage. Kühe, die Milch geben sollen, werden besser behandelt.
Diejenigen, die keine Steuern zahlen, brauchen keine Extralobby, die haben sie bereits – in einem Staat, in dessen Haushalt der größte Posten das Sozialbudget ist, weiß man, wie man durch Abhängigkeit Treue erzielt.
Womit wir bei einem liberalen Kernprojekt wäre: der Abwehr eines Staates, der seine Eingriffe Fürsorge nennt. Was könnte liberaler sein, als sich gegen die anmaßende Einmischung des Staates in die private Lebensführung der Bürger zu wehren? Wer sich nicht als hilfloses Wesen fühlt, das vom Staat gepäppelt und von lächelnden Politikdarstellern in den Arm genommen werden muss, wer selber weiß, was ihm gut tut, und keine Anweisung braucht, wie man „richtig“ lebt, hat hierzulande keine Lobby. Hat aber mittlerweile einen Verdacht: Wer nichts Substantielles zu sagen hat, bläht sich eben moralisch auf. Die Fürsorgerhetorik der Parteien soll das große Nichts verdecken, das sich sonst gähnend auftäte.
Nach solcher Bedeckung einer Blöße scheint großer Bedarf zu herrschen. Auch die Grünen halten vom Bürger wenig, vom Staat umso mehr. Mit Jürgen Trittin ist man zu den autoritären Traditionen aus K-Gruppenzeiten zurückgekehrt. Dabei hat es ja einst ein durchaus liberales Intermezzo gegeben, befeuert durch das Bündnis mit Bürgerrechtlern aus der DDR. Tempi passati - auch der wirtschaftsliberale Flügel der Partei um Margareta Wolf oder Oswald Metzger hat sich längst verabschiedet. Die Grünen hatten der heiklen Eurorettungspolitik der Kanzlerin nichts entgegenzusetzen, begeisterten sich mit protestantischem Eifer für Steuererhöhungen und haben ihre städtisch-lockere Klientel endgültig mit dem „Veggie“-Day vergrault. Was, bitte, hat eine Partei in den Kantinen der Republik zu suchen?
Fast tragisch könnte man nennen, dass die Partei ausgerechnet, was die „Energiewende“ betrifft, jedes Gespür für das verloren hat, was ihr doch sonst so heilig ist: Nachhaltigkeit, Natur und Umwelt. Eine plan- und hirnlose Energiepolitik, die dazu führt, dass der auf Kosten der Stromkunden hochsubventioniert erzeugte Strom verschenkt werden muss, ist sicherlich alles andere als ressourcenschonend. Dabei sind die materiellen und ideellen Kosten noch gar nicht mitgerechnet, die Vermaisung und Verspargelung der Landschaft auf Kosten von Flora und Fauna erzeugen. Merke: Die Geldbauchunke und Hufnasenfledermaus haben immer nur als Vorwand gedient. Wenn es dem roten Milan und unzähligen Zugvögeln ans Gefieder geht, bleiben die Grünen völlig ungerührt. Hauptsache, das böse Atom ist erledigt. Doch noch nicht einmal diese Trophäe kann die Partei sich anheften. Dieser Drache ist von der Kanzlerin erschlagen worden.
Was tun also ohne eine Partei, die man liberal nennen könnte? Ach, man musste ja lange schon ohne auskommen. Souveräne Bürger brauchen keine Lobby. Ansonsten: bei der Europawahl die „Alternative für Deutschland“ wählen. Damit ärgert man unter Garantie alle.
Samstag, 21. September 2013
Wie schön ist doch die Revolution.
Warum nur hat Revolution so einen sagenhaften Ruf? Warum glaubt nicht nur die Werbeindustrie, wo man neue Produkte gern als „revolutionär“ anpreist, damit sei Aufbruch und Befreiung gemeint, Erneuerung, Umwertung aller Werte, frische Luft, also rundum Schönes und Gutes? Und so gebiert in beschwingter Wahrnehmungsschwäche noch jede Generation ihre eigene rote Garde standesgemäß gewandeter Revoluzzer. Viele der Älteren applaudieren: hatte man nicht einst selbst die Hüften geschwungen zum „Street fighting man“ der Stones? Dann hat man in der Zwischenzeit womöglich vergessen, dass die Stones zwar dem Zeitgeist von 1968 Tribut zollten, aber sich zum melancholischen Salonmarxismus bekannten: marschiert ihr nur da draußen rum, wir müssen Musik machen, was anderes können wir nicht. Eine weise Entscheidung. Sie hat sich im Unterschied zu den Ritualen der Straßenkämpfer über die Jahre bewährt.
Und so fragt man sich, warum das reputierliche Lucerne Festival kürzlich mit „!Viva la Revolución!“ (schwarze Schrift in roten Blutblasen) und mit barbusiger Marianne für ein anspruchsvolles musikalisches Programm warb. Das ist ebenso witzig wie die übliche Werbung für Krimilesungen, wo man Mord und Totschlag für den heiteren Zeitvertreib von schwarzen Witwen zu halten scheint („Wie morden Sie am liebsten?“).
Revolution – nichts als ein lustiges Zitat? Die Freude am Aufstand (gern fremder Völker) nichts als ein modischer Irrtum von Sesselhockern? Die Begeisterung für die „Arabellion“ jedenfalls kündete von einem Missverständnis: dass allein schon der Aufstand der nach Freiheit dürstenden Massen die Dinge zum Besseren wenden müsse.
Gewiss: auch Friedrich Wilhelm Hegel erklärte die Freiheit zum Ziel der Revolution, mahnte allerdings, dass ihrer politischen Verwirklichung allerlei Hinderliches im Wege stehe. Denn die Schattenseite der Revolution war stets der Schrecken, der Terror, der die Häupter nicht nur der Vertreter des ancien regime wie die Kohlköpfe in die Körbe rollen ließ. Stets mündete der Freiheitswunsch der Individuen in der Diskussion, ob es angesichts des Erstrebten, der Freiheit für alle eben, denn auf das Leben eines Einzelnen noch ankomme. Einzelschicksale sind Krampf, in der Revolution oder im Klassenkampf. Menschenopfer für höhere Ziele sind der Revolution eingeschrieben.
An den postrevolutionären Blutströmen entwickelt meist nur bedingungs- und erbarmungslose Jugend Vergnügen. Der Philosoph Konrad Paul Liessmann führt den Nimbus der Revolution denn auch nicht auf ihre Praxis, sondern auf ihr Pathos, ihre Gestik, ihre Symbolik zurück. Und das zieht all jene an, die ihren Schatten noch nicht gesehen haben. Den allerdings kennt man spätestens nach etlichen Jahrzehnten Anschauung. Allen anderen hilft das Studium der Geschichte.
Der Sturz des Schah-Regimes in Persien etwa sollte die Befreiung der unter der Last des Pfauenthrons ächzenden Masse bringen. Freiheit statt Farah Diba! Heute müsste sie ihre Bienenkorbfrisur unter einem muffigen dunklen Sack verstecken, die Herrschaft der Mullahs ist tödlicher und unerfreulicher als alles, was vorher war.
Die „Arabellion“ war das letzte große Ereignis, das Sehnsucht weckte. Gewiss, sogar im idealistischen Westen ahnte man, dass sie vielleicht ein Kampf für Demokratie war, gewiss aber nicht für rechtstaatliche Institutionen. Doch die neuerliche Faszination vom Aufstand der Massen war nicht nur Ausdruck von „Geschichtsvergessenheit, letzter Reflex einer Revolutionsromantik“ (Liessmann), sondern ebensosehr Gegenwartsblindheit: man musste schon die Augen vor der Realität einer durch Stammes- und Religionsfehden gespaltenen Gesellschaft ganz fest verschließen, um den Schatten zu übersehen: nach dem Sturz des Tyrannen neue Tyrannis. Und man musste Adonis überhören, den arabischen Schriftsteller Ali Ahmad Said, der schon zu Beginn des arabischen Frühlings erklärte, er könne an keiner Revolution teilnehmen, die in einer Moschee beginne.
Und doch gibt es etwas, das Revolution immer wieder zum Faszinosum macht, weil es tiefere Schichten anspricht, die das nüchterne Argument zunächst nicht erreicht.
Da ist das konservative Grundelement jeder Revolution: der Wunsch nach Wiederherstellung der gerechten Ordnung. Mit „gerecht“ ist hier nicht gemeint, was heute als Wieselwort jeden Wahlkampf krönt. Es bedeutet „regelrecht“, dem gewohnten Recht gemäß. Eine Herrschaft, die auf Dauer gegen die Regeln verstößt, ist unrecht, es ist legitim, sich gegen sie aufzulehnen. (Auch dieses konservativen Elements wegen haben Berufsrevolutionäre stets versucht, den Aufstand über sich hinauszutreiben, ihnen ging es nicht um Wiederherstellung der alten, „gerechten“ Ordnung, sondern um ihren Umsturz.)
Dank einer Politik von Brot und Spielen, mit der in Parteiendemokratien Gefolgschaft organisiert wird, ist von revolutionärem Elan im satten Westen wenig zu spüren. Doch ein offenbar nicht gänzlich zu betäubendes Gespür für das Unrechte des Regelbruchs lässt uns mitfiebern, wenn andere sich dagegen erheben.
An noch tiefere Schichten rühren die Bilder, die skandierende Massen zeigen, Menschenmenge in Bewegung. „Everywhere I hear the sound of marching, charging feet, boy, ’cause summer’s here and the time is right for fighting in the street, boy“, sang Mick Jagger zu einem treibenden Rhythmus, zu dem man nicht nur gut tanzen, sondern auch prima marschieren konnte. Rhythmisch bewegte Massen erzeugen einen archaischen Impuls und etwas, das man in der Psychologie „Bonding“ nennt. Wer mit anderen marschiert, ist ihnen verbunden – spätestens seit der Heeresreform des Moritz von Nassau ist das im übrigen auch beim Militär bekannt.
Es muss ja nicht immer „Bandera Rossa“ oder „Rede, Genosse Mauser“ sein, zu dem man marschiert. Der „Hohenfriedberger“ passt auch. Oder Ludwig van Beethovens „Schlacht von Vitoria“, ein Stück, das er nach dem Sieg der britischen über die französische Armee bei Vitoria 1813 schrieb.
Was wären wir also ohne Revolution? Besser dran? Dass die Französische Revolution uns Menschenrechte und Aufklärung beschert hat, gehört zu ihrem Mythos, der die Blutströme vergessen lässt, die ihre Anführer vergossen haben. Doch solche Kosten ändern offenbar nichts an dem archaischen Schauder, den eine Menge in Aufruhr auslöst. Glücklich, wer sich bei ihrem Anblick im Fernsehsessel befindet und die glimmenden Barrikaden andere wegräumen lässt.
Und so fragt man sich, warum das reputierliche Lucerne Festival kürzlich mit „!Viva la Revolución!“ (schwarze Schrift in roten Blutblasen) und mit barbusiger Marianne für ein anspruchsvolles musikalisches Programm warb. Das ist ebenso witzig wie die übliche Werbung für Krimilesungen, wo man Mord und Totschlag für den heiteren Zeitvertreib von schwarzen Witwen zu halten scheint („Wie morden Sie am liebsten?“).
Revolution – nichts als ein lustiges Zitat? Die Freude am Aufstand (gern fremder Völker) nichts als ein modischer Irrtum von Sesselhockern? Die Begeisterung für die „Arabellion“ jedenfalls kündete von einem Missverständnis: dass allein schon der Aufstand der nach Freiheit dürstenden Massen die Dinge zum Besseren wenden müsse.
Gewiss: auch Friedrich Wilhelm Hegel erklärte die Freiheit zum Ziel der Revolution, mahnte allerdings, dass ihrer politischen Verwirklichung allerlei Hinderliches im Wege stehe. Denn die Schattenseite der Revolution war stets der Schrecken, der Terror, der die Häupter nicht nur der Vertreter des ancien regime wie die Kohlköpfe in die Körbe rollen ließ. Stets mündete der Freiheitswunsch der Individuen in der Diskussion, ob es angesichts des Erstrebten, der Freiheit für alle eben, denn auf das Leben eines Einzelnen noch ankomme. Einzelschicksale sind Krampf, in der Revolution oder im Klassenkampf. Menschenopfer für höhere Ziele sind der Revolution eingeschrieben.
An den postrevolutionären Blutströmen entwickelt meist nur bedingungs- und erbarmungslose Jugend Vergnügen. Der Philosoph Konrad Paul Liessmann führt den Nimbus der Revolution denn auch nicht auf ihre Praxis, sondern auf ihr Pathos, ihre Gestik, ihre Symbolik zurück. Und das zieht all jene an, die ihren Schatten noch nicht gesehen haben. Den allerdings kennt man spätestens nach etlichen Jahrzehnten Anschauung. Allen anderen hilft das Studium der Geschichte.
Der Sturz des Schah-Regimes in Persien etwa sollte die Befreiung der unter der Last des Pfauenthrons ächzenden Masse bringen. Freiheit statt Farah Diba! Heute müsste sie ihre Bienenkorbfrisur unter einem muffigen dunklen Sack verstecken, die Herrschaft der Mullahs ist tödlicher und unerfreulicher als alles, was vorher war.
Die „Arabellion“ war das letzte große Ereignis, das Sehnsucht weckte. Gewiss, sogar im idealistischen Westen ahnte man, dass sie vielleicht ein Kampf für Demokratie war, gewiss aber nicht für rechtstaatliche Institutionen. Doch die neuerliche Faszination vom Aufstand der Massen war nicht nur Ausdruck von „Geschichtsvergessenheit, letzter Reflex einer Revolutionsromantik“ (Liessmann), sondern ebensosehr Gegenwartsblindheit: man musste schon die Augen vor der Realität einer durch Stammes- und Religionsfehden gespaltenen Gesellschaft ganz fest verschließen, um den Schatten zu übersehen: nach dem Sturz des Tyrannen neue Tyrannis. Und man musste Adonis überhören, den arabischen Schriftsteller Ali Ahmad Said, der schon zu Beginn des arabischen Frühlings erklärte, er könne an keiner Revolution teilnehmen, die in einer Moschee beginne.
Und doch gibt es etwas, das Revolution immer wieder zum Faszinosum macht, weil es tiefere Schichten anspricht, die das nüchterne Argument zunächst nicht erreicht.
Da ist das konservative Grundelement jeder Revolution: der Wunsch nach Wiederherstellung der gerechten Ordnung. Mit „gerecht“ ist hier nicht gemeint, was heute als Wieselwort jeden Wahlkampf krönt. Es bedeutet „regelrecht“, dem gewohnten Recht gemäß. Eine Herrschaft, die auf Dauer gegen die Regeln verstößt, ist unrecht, es ist legitim, sich gegen sie aufzulehnen. (Auch dieses konservativen Elements wegen haben Berufsrevolutionäre stets versucht, den Aufstand über sich hinauszutreiben, ihnen ging es nicht um Wiederherstellung der alten, „gerechten“ Ordnung, sondern um ihren Umsturz.)
Dank einer Politik von Brot und Spielen, mit der in Parteiendemokratien Gefolgschaft organisiert wird, ist von revolutionärem Elan im satten Westen wenig zu spüren. Doch ein offenbar nicht gänzlich zu betäubendes Gespür für das Unrechte des Regelbruchs lässt uns mitfiebern, wenn andere sich dagegen erheben.
An noch tiefere Schichten rühren die Bilder, die skandierende Massen zeigen, Menschenmenge in Bewegung. „Everywhere I hear the sound of marching, charging feet, boy, ’cause summer’s here and the time is right for fighting in the street, boy“, sang Mick Jagger zu einem treibenden Rhythmus, zu dem man nicht nur gut tanzen, sondern auch prima marschieren konnte. Rhythmisch bewegte Massen erzeugen einen archaischen Impuls und etwas, das man in der Psychologie „Bonding“ nennt. Wer mit anderen marschiert, ist ihnen verbunden – spätestens seit der Heeresreform des Moritz von Nassau ist das im übrigen auch beim Militär bekannt.
Es muss ja nicht immer „Bandera Rossa“ oder „Rede, Genosse Mauser“ sein, zu dem man marschiert. Der „Hohenfriedberger“ passt auch. Oder Ludwig van Beethovens „Schlacht von Vitoria“, ein Stück, das er nach dem Sieg der britischen über die französische Armee bei Vitoria 1813 schrieb.
Was wären wir also ohne Revolution? Besser dran? Dass die Französische Revolution uns Menschenrechte und Aufklärung beschert hat, gehört zu ihrem Mythos, der die Blutströme vergessen lässt, die ihre Anführer vergossen haben. Doch solche Kosten ändern offenbar nichts an dem archaischen Schauder, den eine Menge in Aufruhr auslöst. Glücklich, wer sich bei ihrem Anblick im Fernsehsessel befindet und die glimmenden Barrikaden andere wegräumen lässt.
Dienstag, 17. September 2013
Wacht auf, Entspannte dieser Erde!
Wir kennen alle die Fabel vom Jungen, der so oft vorm bösen Wolf gewarnt hat, dass ihm niemand mehr glaubte, als das Raubtier tatsächlich vor der Stalltür stand. So ungläubig sind mittlerweile viele Deutsche: jahrelang wurde vorm Dritten Weltkrieg, dem Waldsterben, dem Klimagau und anderen Weltuntergängen gemahnt und gewarnt, in der Absicht, den Angstpegel hoch und die Bereitschaft zu Einkehr und zahlkräftiger Buße hochzuhalten. Nichts von all den vorhergesagten Katastrophen trat ein. Und nun glauben wir rein gar nichts mehr.
So jedenfalls könnte man sie interpretieren, die Umfragen, denen zufolge die Deutschen derzeit ohne Ängste und Hoffnungen in die Zukunft blicken: German Angst war einmal. Himmelhochjauchzend ist allerdings auch niemand, aber warum auch, man muss ja nicht immer gleich vom einen ins andere Extrem verfallen.
Und so lassen die einen Mutti walten, die anderen stecken den Kopf in den Sand, wieder andere verlassen sich auf die stabil produktive Wirtschaft, und der Rest bleibt einfach gutgelaunt und mag vor allem die ganzen Miesepeter nicht, die ihm Krise und Krieg einreden wollen. Offenbar kann man sie hierzulande nicht mehr hören, die Untergangspropheten, die aus einer Erdbebenkatastrophe in Japan eine Atomkatastrophe gemacht und mit dem „Klimaleugner“ eine neue Spezies erfunden haben, der man, ähnlich den Holocaustleugnern, den Mund verbieten müsse; die Ablassprediger, die jedem ein schlechtes Gewissen einreden möchten, damit der Rubel rollt; die Moralapostel, die uns ein Glück vorschreiben möchten, dass sie vorsichtshalber selbst definiert haben. Glückwunsch, Deutschland! Großartig, dass unsere Probleme nicht größer zu sein scheinen als die Frage, ob man bundesdeutschen Kantinenessern einen Veggieday vorschreiben darf.
Und so wäre also alles gut, wenn nicht tatsächlich ein paar ziemlich struppige Wölfe vor der Stalltür stünden, die allerdings keinen der bekannten Namen tragen. Deshalb, und während Deutschland sein Glück genießt (und manch einer noch der Kanzlerin neue Kleider bewundert), bleiben die hungrigen Raubtiere unerkannt. Wer sie gesehen hat, spricht nicht über sie. Wer sie kennt, nennt sie nicht beim Namen. Ausgerechnet die Marktschreier des Weltuntergangs schweigen, wenn es um die Wölfe vor der Haustür geht, die bereits im Schafpferch wildern. Schon das ist ein Grund zum Misstrauen. Wenn selbst die Fachleute der orchestrierten Angstmache mal ihr Maul halten, muss es wirklich ernst sein.
Bei näherer Betrachtung: es ist ernst. Sehr ernst sogar. Und deshalb: Wacht bitteschön auf, Entspannte dieser Erde, wenn euch am Frieden gelegen ist und ihr euer bisschen Wohlstand lieb habt. Draußen stehen die Wölfe und haben Hunger. Eure ja eigentlich bewundernswerte Ruhe und Gelassenheit wird einem langsam ein wenig unheimlich.
Gewiss, soviel Zufriedenheit kommt den meisten der im Parlament vertretenen Parteien ausgesprochen gelegen, denen reicht es, wenn die Wähler stille sind und ihr Kreuzchen machen wie gehabt. Und deshalb herrscht in diesem Wahl“kampf“ zu wichtigen Themen beredtes Schweigen, sofern man die Debatte nicht schon vor der Eiteilung mit dem Wort „alternativlos“ beenden konnte. „Gerechtigkeit“ wollen natürlich alle, das ist so schön wolkig, da kann sich jeder wiederfinden. Wenn’s konkret wird, ist’s schon wieder ungemütlich. Etwa, wenn es um den Euro geht. Oder um den „Nahen Osten“, der so heißt, weil er blöderweise um die Ecke liegt.
Was den Euro betrifft, so ließ die Kanzlerin noch jüngst wissen: „Der Euro ist gut und sichert Arbeitsplätze für Deutschland.“ Alles klar? Wem das nicht reicht, dem sei noch ein „der Euro ist die EU ist Europa“ entgegengehalten. Und dass es ohne die europäische Vereinigung nicht so lange Frieden in Europa gegeben hätte. Nun verdanken wir diesen günstigen Umstand zwar dem Kalten Krieg und der Nato, aber wer will das schon so genau wissen? Wenn der Euro Frieden bedeutet, muss man alles tun, um ihn zu retten, zumal die Deutschen, schon der Vergangenheit wegen, oder?
An solchen Vorfabrikaten ist so ziemlich alles falsch, sichtbar und spürbar zerreißt der Euro Europa, weil er zusammenzwingt, was nicht zusammengeht – unterschiedliche Ökonomien und auseinanderklaffende Leistungsfähigkeit. Aber gerade die Deutschen lassen sich ungern unterstellen, nicht „solidarisch“ zu sein, ein Wort, das es dem Bürger schmackhaft machen soll, ökonomische und politische Fehlleistungen anderer auszubaden. Solidarisch also retten wir alles mögliche, den Euro, korrupte Eliten und die Banken (nur nicht diejenigen, die unter der Staatsschuldenkrise wirklich handfest leiden: die Griechen, etwa). Und es käme uns viel zu egoistisch vor, mal nachzurechnen, ob sich die Deutschen diese Sorte Solidarität auf die Dauer überhaupt leisten können.
Auch über den ewigen Krisenherd im Nahen und Mittleren Osten reden Politiker in Wahlkampfzeiten ungern. Gut, dass die USA der Bundesregierung in Sachen Syrien kein Handeln aufgezwungen hat – kurz vor der Wahl, um Himmelswillen! Deutschland ist für Frieden, punktum, auch, wenn andere ihn nicht halten. Soviel Friedensverlangen tut unschuldig und ist es ganz und gar nicht, auch Nichthandeln hat Wirkung. Eine Aufforderung zum Handeln aber, die lediglich moralische Gründe bemüht, ist ebenso töricht wie gefährlich. Die moralische Debatte unterschlägt die unendlich mühevolle Auseinandersetzung mit den realen Optionen, die meist nur die Wahl zwischen mehreren großen Übeln bedeuten. Deutschland ist keine Insel der Seligen mehr. Wir müssen wieder Außenpolitik lernen. Das dauert, offenbar, und bis dahin stehen wir wie der dumme Riese in der Gegend herum und lassen uns auslachen.
Draußen heulen die Wölfe. In nächster Nachbarschaft droht eine Region aus dem Ruder zu laufen. Und Zuhause ist es auch nicht mehr gemütlich. Der Euro hat den Frieden in Europa längst zerstört, und unsere Nachbarn können sich nicht entscheiden, ob sie Deutschland für schuldig halten oder seine Führerschaft einklagen. Dass man gemeinsame Probleme auch gemeinsam lösen kann, ist offenbar keine Option mehr.
Reden wir darüber? Im Bundestag fehlt – noch – die eurokritische Stimme. Eine intellektuelle Debatte, die auf dem Niveau der Probleme wäre, ist nicht in Sicht. Der Winter wird kalt und die Wölfe heulen. Reden wir darüber, solange das Haus noch steht.
So jedenfalls könnte man sie interpretieren, die Umfragen, denen zufolge die Deutschen derzeit ohne Ängste und Hoffnungen in die Zukunft blicken: German Angst war einmal. Himmelhochjauchzend ist allerdings auch niemand, aber warum auch, man muss ja nicht immer gleich vom einen ins andere Extrem verfallen.
Und so lassen die einen Mutti walten, die anderen stecken den Kopf in den Sand, wieder andere verlassen sich auf die stabil produktive Wirtschaft, und der Rest bleibt einfach gutgelaunt und mag vor allem die ganzen Miesepeter nicht, die ihm Krise und Krieg einreden wollen. Offenbar kann man sie hierzulande nicht mehr hören, die Untergangspropheten, die aus einer Erdbebenkatastrophe in Japan eine Atomkatastrophe gemacht und mit dem „Klimaleugner“ eine neue Spezies erfunden haben, der man, ähnlich den Holocaustleugnern, den Mund verbieten müsse; die Ablassprediger, die jedem ein schlechtes Gewissen einreden möchten, damit der Rubel rollt; die Moralapostel, die uns ein Glück vorschreiben möchten, dass sie vorsichtshalber selbst definiert haben. Glückwunsch, Deutschland! Großartig, dass unsere Probleme nicht größer zu sein scheinen als die Frage, ob man bundesdeutschen Kantinenessern einen Veggieday vorschreiben darf.
Und so wäre also alles gut, wenn nicht tatsächlich ein paar ziemlich struppige Wölfe vor der Stalltür stünden, die allerdings keinen der bekannten Namen tragen. Deshalb, und während Deutschland sein Glück genießt (und manch einer noch der Kanzlerin neue Kleider bewundert), bleiben die hungrigen Raubtiere unerkannt. Wer sie gesehen hat, spricht nicht über sie. Wer sie kennt, nennt sie nicht beim Namen. Ausgerechnet die Marktschreier des Weltuntergangs schweigen, wenn es um die Wölfe vor der Haustür geht, die bereits im Schafpferch wildern. Schon das ist ein Grund zum Misstrauen. Wenn selbst die Fachleute der orchestrierten Angstmache mal ihr Maul halten, muss es wirklich ernst sein.
Bei näherer Betrachtung: es ist ernst. Sehr ernst sogar. Und deshalb: Wacht bitteschön auf, Entspannte dieser Erde, wenn euch am Frieden gelegen ist und ihr euer bisschen Wohlstand lieb habt. Draußen stehen die Wölfe und haben Hunger. Eure ja eigentlich bewundernswerte Ruhe und Gelassenheit wird einem langsam ein wenig unheimlich.
Gewiss, soviel Zufriedenheit kommt den meisten der im Parlament vertretenen Parteien ausgesprochen gelegen, denen reicht es, wenn die Wähler stille sind und ihr Kreuzchen machen wie gehabt. Und deshalb herrscht in diesem Wahl“kampf“ zu wichtigen Themen beredtes Schweigen, sofern man die Debatte nicht schon vor der Eiteilung mit dem Wort „alternativlos“ beenden konnte. „Gerechtigkeit“ wollen natürlich alle, das ist so schön wolkig, da kann sich jeder wiederfinden. Wenn’s konkret wird, ist’s schon wieder ungemütlich. Etwa, wenn es um den Euro geht. Oder um den „Nahen Osten“, der so heißt, weil er blöderweise um die Ecke liegt.
Was den Euro betrifft, so ließ die Kanzlerin noch jüngst wissen: „Der Euro ist gut und sichert Arbeitsplätze für Deutschland.“ Alles klar? Wem das nicht reicht, dem sei noch ein „der Euro ist die EU ist Europa“ entgegengehalten. Und dass es ohne die europäische Vereinigung nicht so lange Frieden in Europa gegeben hätte. Nun verdanken wir diesen günstigen Umstand zwar dem Kalten Krieg und der Nato, aber wer will das schon so genau wissen? Wenn der Euro Frieden bedeutet, muss man alles tun, um ihn zu retten, zumal die Deutschen, schon der Vergangenheit wegen, oder?
An solchen Vorfabrikaten ist so ziemlich alles falsch, sichtbar und spürbar zerreißt der Euro Europa, weil er zusammenzwingt, was nicht zusammengeht – unterschiedliche Ökonomien und auseinanderklaffende Leistungsfähigkeit. Aber gerade die Deutschen lassen sich ungern unterstellen, nicht „solidarisch“ zu sein, ein Wort, das es dem Bürger schmackhaft machen soll, ökonomische und politische Fehlleistungen anderer auszubaden. Solidarisch also retten wir alles mögliche, den Euro, korrupte Eliten und die Banken (nur nicht diejenigen, die unter der Staatsschuldenkrise wirklich handfest leiden: die Griechen, etwa). Und es käme uns viel zu egoistisch vor, mal nachzurechnen, ob sich die Deutschen diese Sorte Solidarität auf die Dauer überhaupt leisten können.
Auch über den ewigen Krisenherd im Nahen und Mittleren Osten reden Politiker in Wahlkampfzeiten ungern. Gut, dass die USA der Bundesregierung in Sachen Syrien kein Handeln aufgezwungen hat – kurz vor der Wahl, um Himmelswillen! Deutschland ist für Frieden, punktum, auch, wenn andere ihn nicht halten. Soviel Friedensverlangen tut unschuldig und ist es ganz und gar nicht, auch Nichthandeln hat Wirkung. Eine Aufforderung zum Handeln aber, die lediglich moralische Gründe bemüht, ist ebenso töricht wie gefährlich. Die moralische Debatte unterschlägt die unendlich mühevolle Auseinandersetzung mit den realen Optionen, die meist nur die Wahl zwischen mehreren großen Übeln bedeuten. Deutschland ist keine Insel der Seligen mehr. Wir müssen wieder Außenpolitik lernen. Das dauert, offenbar, und bis dahin stehen wir wie der dumme Riese in der Gegend herum und lassen uns auslachen.
Draußen heulen die Wölfe. In nächster Nachbarschaft droht eine Region aus dem Ruder zu laufen. Und Zuhause ist es auch nicht mehr gemütlich. Der Euro hat den Frieden in Europa längst zerstört, und unsere Nachbarn können sich nicht entscheiden, ob sie Deutschland für schuldig halten oder seine Führerschaft einklagen. Dass man gemeinsame Probleme auch gemeinsam lösen kann, ist offenbar keine Option mehr.
Reden wir darüber? Im Bundestag fehlt – noch – die eurokritische Stimme. Eine intellektuelle Debatte, die auf dem Niveau der Probleme wäre, ist nicht in Sicht. Der Winter wird kalt und die Wölfe heulen. Reden wir darüber, solange das Haus noch steht.
Dienstag, 3. September 2013
Moral und Krieg
Die Bilder toter Kinder treiben einem die Tränen in die Augen, sie beflügeln den Wunsch, etwas zu tun. Sofort. Und genau dazu sollen die Bilder auch dienen. Von welcher Seite auch immer der Giftgasangriff ausgegangen ist: er soll das moralische Vermögen der Menschen in den westlichen Ländern bis zur Empörung aufrühren. Gewünscht ist die Eskalation.
Nur wer kalten Herzens ist, kann sich den Bildern entziehen. Und doch sollte in Fragen von Krieg und Frieden nicht das Herz, sondern der Verstand sprechen. Denn was immer geschehen ist und wer immer es getan hat: es ist Teil einer Propaganda, die Brandbeschleuniger auf einen bislang noch regional glimmenden Brandherd gießt.
Früher genügte der Kriegspropaganda noch die bloße Behauptung, der Feind vergewaltige Frauen und töte Kinder. Heute müssen Bilder von realen Opfern her. Es ist längst nicht mehr ausgeschlossen, dass die Kombattanten schon selbst dafür sorgen, dass die Greueltaten auch begangen werden, die sie ihrem Gegner anlasten. Sie können sich auf die Moral der Menschen im Westen verlassen: bei Bildern toter Kinder fragen wir nicht mehr nach Nutzen und Kosten, nach der Vereinbarkeit einer Intervention mit militärischen Möglichkeiten oder gar den eigenen Interessen. Moral entgrenzt. Das ist ihr Problem.
Moralisierung macht jede Intervention zum Krieg des Guten gegen das Böse – als ob es eine solche eindeutige Frontstellung jemals geben könnte. Joschka Fischers Begründung für eine Intervention im Kosovo, „Nie wieder Auschwitz“ (1999), war so bestechend wie falsch. Der Krieg gegen Hitler ging nicht um Auschwitz. Und im Kosovo ging es darum erst recht nicht. Das moralische Argument, und das sollten alle Empörten bedenken, dient meist nur dazu, die weit weniger großartigen Interessen zu verdecken, die in Kriegsangelegenheiten eine Rolle spielen.
Ja, die Lage in Syrien ist furchtbar. Aber der Ruf „Warum tut der Westen nichts dagegen?“ ist ebenso hilflos wie größenwahnsinnig. Denn wem eine Einmischung letztlich dient, ist völlig unklar. Dem unterdrückten Volk? Dem zuletzt. Den Rebellen gegen Assad? Welchen? Wer 1968 in Deutschland gegen den Schah von Persien demonstriert hat, dürfte keine große Freude an seinen Nachfolgern haben. Wer sich erinnert, ist gründlich desillusioniert, was den „Volkskrieg“ und die „Solidarität“ für selbsternannte Befreiungsbewegungen betrifft. Auch in Syrien ist aus dem legitimen Widerstand gegen einen Diktator längst offener Bürgerkrieg geworden, ohne Legitimation und Legitimität, und die Leidtragenden sind das „Volk“, die vielen Unbeteiligten, die, wie in jedem Bürgerkrieg, zwischen zwei Feuern stehen.
Der menschenrechtlichen Argumentation zufolge kann man nicht tatenlos hinnehmen, wie Diktatoren mit ihren Gegnern verfahren. Wer dächte das nicht. Das Völkerrecht hingegen verbietet jede militärische Unterstützung bewaffneter Aufstände in fremden Staaten. Warum? Weil es den benachbarten Gegnern ein Einfallstor bietet, die sich zu Hilfe aufgerufen fühlen. Längst geschehen: benachbarte Golfstaaten haben Aufständische mit Waffen beliefert, sicher nicht, weil sie plötzlich Freunde der Demokratie geworden sind. Doch der Westen, worauf der Rechtsphilosoph Reinhold Merkel jüngst hinwies, hat den reinen Seelen der Arabischen Liga sein Placet gegeben. Die Folge: der Bürgerkrieg und das Elend der Unbeteiligten verlängern sich.
Das Dilemma ist hässlich und hält keine einfache Antwort bereit. Letztendlich entscheidet ein Kernsatz militärischen Abwägens: wer reingeht, muss auch wieder rauskommen. Und: kein Krieg sollte mehr Probleme hinterlassen, als er zu lösen vorgibt. Das macht eine Intervention in Syrien fragwürdig – wenn sie über ein Signal der Stärke hinausginge.
Die Geschichte hält neben Vietnam und Afghanistan zahllose Beispiele dafür bereit, dass es auch beim Einsatz höchster militärischer Mittel einer Weltmacht misslingen kann, einen Bürgerkrieg zu befrieden. Aus einem einfachen und brutalen Grund: in einem Bürgerkrieg gibt es nicht, wie im Staatenkrieg, die Möglichkeit eines Verhandlungsfriedens. Es muss sich, und das weiß man in den USA sehr gut, die ja aus einem Bürgerkrieg hervorgegangen sind, eine einzige Seite machtvoll durchsetzen. Das erfordert den Untergang der anderen Seite – sei es durch bedingungslose Kapitulation oder durch Vernichtung.
Kann sich ein demokratischer Staat zu einer solchen Entscheidung über das Leben anderer aufgerufen fühlen? Der Vietnamkrieg hat die innere Textur der USA auf Jahre hin zermürbt. Das haben auch diejenigen nicht vergessen, die Obama nun zum Handeln drängen. Sie verfolgen im Zweifelsfall eigene Interessen: nämlich einen zaudernden Präsidenten vorzuführen, der sich, weil er permanent rote Linien zieht, irgendwann gezwungen sehen könnte, sie zu überschreiten.
Dann soll eben Europa ran, Frankreich, England, Deutschland? Präsident Hollande winkt schon mit der militärischen Karte, ein anderes Blatt hat er nicht mehr in der Hand. Die Deutschen? Halten sich, wie immer, lieber raus. Oder waltet bei uns gar die Vernunft? Denn in der europäischen Tradition der Staatenkriege wurde dem Verhandlungsfrieden auch mit dem ärgsten Gegner stets der Vorzug gegeben gegenüber der Ächtung des Feindes und der unendlichen Verlängerung des Konflikts zu Lasten der Bevölkerung.
Auch die schrecklichsten Bilder sollten dem Westen nicht das Gesetz des Handelns aufzwingen. Syrien wäre der letzte und womöglich blutigste Beweis für das Scheitern eines „demokratischen Interventionismus“.
Nur wer kalten Herzens ist, kann sich den Bildern entziehen. Und doch sollte in Fragen von Krieg und Frieden nicht das Herz, sondern der Verstand sprechen. Denn was immer geschehen ist und wer immer es getan hat: es ist Teil einer Propaganda, die Brandbeschleuniger auf einen bislang noch regional glimmenden Brandherd gießt.
Früher genügte der Kriegspropaganda noch die bloße Behauptung, der Feind vergewaltige Frauen und töte Kinder. Heute müssen Bilder von realen Opfern her. Es ist längst nicht mehr ausgeschlossen, dass die Kombattanten schon selbst dafür sorgen, dass die Greueltaten auch begangen werden, die sie ihrem Gegner anlasten. Sie können sich auf die Moral der Menschen im Westen verlassen: bei Bildern toter Kinder fragen wir nicht mehr nach Nutzen und Kosten, nach der Vereinbarkeit einer Intervention mit militärischen Möglichkeiten oder gar den eigenen Interessen. Moral entgrenzt. Das ist ihr Problem.
Moralisierung macht jede Intervention zum Krieg des Guten gegen das Böse – als ob es eine solche eindeutige Frontstellung jemals geben könnte. Joschka Fischers Begründung für eine Intervention im Kosovo, „Nie wieder Auschwitz“ (1999), war so bestechend wie falsch. Der Krieg gegen Hitler ging nicht um Auschwitz. Und im Kosovo ging es darum erst recht nicht. Das moralische Argument, und das sollten alle Empörten bedenken, dient meist nur dazu, die weit weniger großartigen Interessen zu verdecken, die in Kriegsangelegenheiten eine Rolle spielen.
Ja, die Lage in Syrien ist furchtbar. Aber der Ruf „Warum tut der Westen nichts dagegen?“ ist ebenso hilflos wie größenwahnsinnig. Denn wem eine Einmischung letztlich dient, ist völlig unklar. Dem unterdrückten Volk? Dem zuletzt. Den Rebellen gegen Assad? Welchen? Wer 1968 in Deutschland gegen den Schah von Persien demonstriert hat, dürfte keine große Freude an seinen Nachfolgern haben. Wer sich erinnert, ist gründlich desillusioniert, was den „Volkskrieg“ und die „Solidarität“ für selbsternannte Befreiungsbewegungen betrifft. Auch in Syrien ist aus dem legitimen Widerstand gegen einen Diktator längst offener Bürgerkrieg geworden, ohne Legitimation und Legitimität, und die Leidtragenden sind das „Volk“, die vielen Unbeteiligten, die, wie in jedem Bürgerkrieg, zwischen zwei Feuern stehen.
Der menschenrechtlichen Argumentation zufolge kann man nicht tatenlos hinnehmen, wie Diktatoren mit ihren Gegnern verfahren. Wer dächte das nicht. Das Völkerrecht hingegen verbietet jede militärische Unterstützung bewaffneter Aufstände in fremden Staaten. Warum? Weil es den benachbarten Gegnern ein Einfallstor bietet, die sich zu Hilfe aufgerufen fühlen. Längst geschehen: benachbarte Golfstaaten haben Aufständische mit Waffen beliefert, sicher nicht, weil sie plötzlich Freunde der Demokratie geworden sind. Doch der Westen, worauf der Rechtsphilosoph Reinhold Merkel jüngst hinwies, hat den reinen Seelen der Arabischen Liga sein Placet gegeben. Die Folge: der Bürgerkrieg und das Elend der Unbeteiligten verlängern sich.
Das Dilemma ist hässlich und hält keine einfache Antwort bereit. Letztendlich entscheidet ein Kernsatz militärischen Abwägens: wer reingeht, muss auch wieder rauskommen. Und: kein Krieg sollte mehr Probleme hinterlassen, als er zu lösen vorgibt. Das macht eine Intervention in Syrien fragwürdig – wenn sie über ein Signal der Stärke hinausginge.
Die Geschichte hält neben Vietnam und Afghanistan zahllose Beispiele dafür bereit, dass es auch beim Einsatz höchster militärischer Mittel einer Weltmacht misslingen kann, einen Bürgerkrieg zu befrieden. Aus einem einfachen und brutalen Grund: in einem Bürgerkrieg gibt es nicht, wie im Staatenkrieg, die Möglichkeit eines Verhandlungsfriedens. Es muss sich, und das weiß man in den USA sehr gut, die ja aus einem Bürgerkrieg hervorgegangen sind, eine einzige Seite machtvoll durchsetzen. Das erfordert den Untergang der anderen Seite – sei es durch bedingungslose Kapitulation oder durch Vernichtung.
Kann sich ein demokratischer Staat zu einer solchen Entscheidung über das Leben anderer aufgerufen fühlen? Der Vietnamkrieg hat die innere Textur der USA auf Jahre hin zermürbt. Das haben auch diejenigen nicht vergessen, die Obama nun zum Handeln drängen. Sie verfolgen im Zweifelsfall eigene Interessen: nämlich einen zaudernden Präsidenten vorzuführen, der sich, weil er permanent rote Linien zieht, irgendwann gezwungen sehen könnte, sie zu überschreiten.
Dann soll eben Europa ran, Frankreich, England, Deutschland? Präsident Hollande winkt schon mit der militärischen Karte, ein anderes Blatt hat er nicht mehr in der Hand. Die Deutschen? Halten sich, wie immer, lieber raus. Oder waltet bei uns gar die Vernunft? Denn in der europäischen Tradition der Staatenkriege wurde dem Verhandlungsfrieden auch mit dem ärgsten Gegner stets der Vorzug gegeben gegenüber der Ächtung des Feindes und der unendlichen Verlängerung des Konflikts zu Lasten der Bevölkerung.
Auch die schrecklichsten Bilder sollten dem Westen nicht das Gesetz des Handelns aufzwingen. Syrien wäre der letzte und womöglich blutigste Beweis für das Scheitern eines „demokratischen Interventionismus“.
Dienstag, 13. August 2013
BRDDR
Angela Merkel hat kein Gefühl für Europa, meint Peer Steinbrück. Der muss es ja wissen. Seine Partei hat das Gefühl für Europa lange Zeit ebenfalls missen lassen, etwa 1981, als die Polen den Aufstand probten und man das in der SPD egoistisch fand, weil es doch auf Frieden mit der Sowjetunion ankam. Mal ganz zu schweigen von all den Jahren, in denen man vergessen hatte, dass ein großer Teil Europas am 8. Mai 1945 mitnichten befreit worden war. Ist halt schwierig, die Sache mit Europa.
Andererseits ist die Frage durchaus berechtigt, ob Angela Merkels Herkunft etwas mit ihrer Politik zu tun hat. Man muss ja nicht so weit gehen wie manch einer im Blogger-Untergrund, der die Kanzlerin als „IM Erika“ führt. In Dichter- und Denkerkreisen sagt man’s vornehmer: Als FDJ-Sekretärin lerne man nunmal „Opportunität und Anpassung“ (Günter Grass).
Werden wir also von der SED regiert? Für Verschwörungstheoretiker und Krimiautoren ist das ausbaufähiger Stoff: Angela Merkel eine Schläferin, der es gelungen ist, mithilfe einer Untergrundarmee ehemaliger Stasileute und mit dem verschwundenen SED-Bimbes im Kreuz die Bundesrepublik Deutschland in eine DDR light zu verwandeln. Steilvorlage für einen weltbestsellerverdächtigen Thriller. Altbundeskanzler Helmut Kohl könnte man dabei eine besonders pikante Rolle zuschreiben: war der Preis für die Wiedervereinigung (und für das Beschweigen der Parteispendenaffäre) womöglich – Angela Merkel?
Was da durchs Internet geistert und in mancher Buchpublikation anklingt, ist albern. Einerseits. Andererseits: Irgendwie ist der Gedanke faszinierend, sich Angela Merkel als realsozialistische Einflussagentin vorzustellen. Nicht die BRD, hieße das ja wohl dann, hat die DDR angeschlossen, sondern umgekehrt: das kapitalistische Westdeutschland marschiert unter Führung einer Kanzlerin der sozialen Wärme peu a peu in Richtung Sozialismus, „mit menschlichem Antlitz“, natürlich.
Die Wirklichkeit dürfte prosaischer sein. Ja, in Merkels Regierungsstil findet sich einiges an alter DDR. Ihr „alternativlos“ hat was ausgesprochen Totalitäres, ihre Unterstützung „wissenschaftlicher“ Eliten, die Demokratie störend finden, wenn es um die wirklich großen Dinge der Menschheit geht, erinnert an „die Partei hat immer recht“. Und ihr Faible für Gattungsfragen – vom Kampf gegen „Klimawandel“ über die „Energiewende“ bis zur Euro(pa)rettung – könnte man als Erbe der Arbeiterbewegung sehen, die sich stets als Stellvertreterin der Gattung auf Erden gefühlt hat. Merkel verbirgt ihr Faible für die großen Fragen gerne hinter Pragmatismus und es ist sogar möglich, dass sie die großen Fragen weit weniger interessieren als die (Symbol-)-Politik, die man damit betreiben kann – aber wer in der DDR erzogen worden ist, kennt die Unterordnung der Einzelfragen und –interessen unter das große Ganze. Demokratiedefizit der EU? Egal – Hauptsache, wir bringen das große Werk voran. Ähnlich in allen anderen Fragen. Energiewende auf Deubel komm raus, egal, ob die Rahmenbedingungen stimmen? So sieht echte Planwirtschaft aus. Von der DDR lernen heißt siegen lernen.
Auch die Tatsache, dass sie an einem Schicksalstag des Euro und Deutschlands, nämlich am 9. Mai 2010, als in Brüssel über das Euro-Stabilisierungsgesetz verhandelt wurde, nicht anwesend war, könnte man verschwörungstheoretisch deuten: Sie war statt dessen nach Moskau geflogen, stand neben Putin auf einer Tribüne am roten Platz und ließ die Militärparade an sich vorbeiziehen, mit der man in Moskau den Sieg der Sowjetunion über das Deutsche Reich zu feiern pflegt.
Angela Merkel besiegt Deutschland – das ist ohne Zweifel pikant.
Doch hier wie dort erklären weder Verschwörungstheorien noch neue Erkenntnisse über Merkels DDR-Vergangenheit das wahre Phänomen: dass Angela Merkel mit ihrer Politik der Sozialdemokratisierung der CDU bei den Wählern ankommt. Während es im Osten Deutschlands noch Menschen geben dürfte, die sich an die Nachteile des Systems erinnern, fährt man im Westen Deutschlands jetzt erst recht in breiter Front auf die alten sozialistischen Errungenschaften ab: Gleichheit und Gerechtigkeit sind höchste Werte, Planwirtschaft ist prima, solange sie dem Guten (wie einer Energie“wende“) dient, und damit der Staatssozialismus blüht, fordern auch diejenigen höhere Steuern, die noch nicht gemerkt haben, dass sie mit ihrem bescheidenen Wohlstand die „Reichen“ sind, die von den Blockparteien im Parlament gemolken werden sollen.
Die Lehre von Klassenkampf und Umverteilung braucht hierzulande schon lange keine Einflussagenten mehr. Die haben ihren Job im übrigen weit vor Angela Merkels langem Marsch an die Macht erledigt. All die künftigen Lehrer, die in den 70er und 80er Jahren als GEW-Studenten in die DDR gereist sind, um dort Ganztagskindergärten, vollzeitarbeitende Muttis und polytechnischen Unterricht kennen und preisen zu lernen, sind mit jeder Menge ideologischer Botschaften im Gepäck nach Hause zurückgekehrt. In den Seminaren der geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten war es üblich gewesen, zur „soziokulturellen Grundlegung des Stoffes“ günstig zu erwerbende Werke aus der DDR zu studieren.
Es brauchte keine Angela Merkel, um Intellektuelle von den Vorzügen der DDR beziehungsweise eines ähnlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems zu überzeugen. Noch 1989 erklärten sie sich massenhaft gegen eine Wiedervereinigung, man hatte sich ja so an die DDR als das „bessere Deutschland“ gewöhnt. Diejenigen, die vor triumphierendem Stolz auf das westlichen Systems warnten, waren die gleichen, die den Anschluss der DDR an die Bundesrepublik für fatal hielten. Die anderen wussten schon früh, wie nützlich es sein könnte, die Deutschen sich nicht allzu sehr freuen zu lassen, denn schlechtes Gewissen erzeugt Steuerbereitschaft.
Das Selbstbild der Deutschen ähnelt heute in vielem dem Zerrbild, das in der verflossenen DDR von Westdeutschland entworfen worden war: sie empfinden ihr Land als eines der sozialen Kälte, denken antikapitalistisch und antiamerikanisch und ziehen die Gleichheit der Freiheit vor. Hätte Angela Merkel einen Auftrag der untergegangenen SED zu erfüllen gehabt, wäre sie gewiss des höchsten DDR-Ordens gewiss: Soll erfüllt. Aber das brauchte sie gar nicht. Sie hatte und sie hat jede Menge willige Vollstrecker.
Was Europa betrifft: Deutschland ist das einzige Land, in dem sich viele auf der Linken wünschen, in einem vereinten Europa auf- und zur Not auch unterzugehen. Welchen Traum von Europa träumt eigentlich Peer Steinbrück?
Andererseits ist die Frage durchaus berechtigt, ob Angela Merkels Herkunft etwas mit ihrer Politik zu tun hat. Man muss ja nicht so weit gehen wie manch einer im Blogger-Untergrund, der die Kanzlerin als „IM Erika“ führt. In Dichter- und Denkerkreisen sagt man’s vornehmer: Als FDJ-Sekretärin lerne man nunmal „Opportunität und Anpassung“ (Günter Grass).
Werden wir also von der SED regiert? Für Verschwörungstheoretiker und Krimiautoren ist das ausbaufähiger Stoff: Angela Merkel eine Schläferin, der es gelungen ist, mithilfe einer Untergrundarmee ehemaliger Stasileute und mit dem verschwundenen SED-Bimbes im Kreuz die Bundesrepublik Deutschland in eine DDR light zu verwandeln. Steilvorlage für einen weltbestsellerverdächtigen Thriller. Altbundeskanzler Helmut Kohl könnte man dabei eine besonders pikante Rolle zuschreiben: war der Preis für die Wiedervereinigung (und für das Beschweigen der Parteispendenaffäre) womöglich – Angela Merkel?
Was da durchs Internet geistert und in mancher Buchpublikation anklingt, ist albern. Einerseits. Andererseits: Irgendwie ist der Gedanke faszinierend, sich Angela Merkel als realsozialistische Einflussagentin vorzustellen. Nicht die BRD, hieße das ja wohl dann, hat die DDR angeschlossen, sondern umgekehrt: das kapitalistische Westdeutschland marschiert unter Führung einer Kanzlerin der sozialen Wärme peu a peu in Richtung Sozialismus, „mit menschlichem Antlitz“, natürlich.
Die Wirklichkeit dürfte prosaischer sein. Ja, in Merkels Regierungsstil findet sich einiges an alter DDR. Ihr „alternativlos“ hat was ausgesprochen Totalitäres, ihre Unterstützung „wissenschaftlicher“ Eliten, die Demokratie störend finden, wenn es um die wirklich großen Dinge der Menschheit geht, erinnert an „die Partei hat immer recht“. Und ihr Faible für Gattungsfragen – vom Kampf gegen „Klimawandel“ über die „Energiewende“ bis zur Euro(pa)rettung – könnte man als Erbe der Arbeiterbewegung sehen, die sich stets als Stellvertreterin der Gattung auf Erden gefühlt hat. Merkel verbirgt ihr Faible für die großen Fragen gerne hinter Pragmatismus und es ist sogar möglich, dass sie die großen Fragen weit weniger interessieren als die (Symbol-)-Politik, die man damit betreiben kann – aber wer in der DDR erzogen worden ist, kennt die Unterordnung der Einzelfragen und –interessen unter das große Ganze. Demokratiedefizit der EU? Egal – Hauptsache, wir bringen das große Werk voran. Ähnlich in allen anderen Fragen. Energiewende auf Deubel komm raus, egal, ob die Rahmenbedingungen stimmen? So sieht echte Planwirtschaft aus. Von der DDR lernen heißt siegen lernen.
Auch die Tatsache, dass sie an einem Schicksalstag des Euro und Deutschlands, nämlich am 9. Mai 2010, als in Brüssel über das Euro-Stabilisierungsgesetz verhandelt wurde, nicht anwesend war, könnte man verschwörungstheoretisch deuten: Sie war statt dessen nach Moskau geflogen, stand neben Putin auf einer Tribüne am roten Platz und ließ die Militärparade an sich vorbeiziehen, mit der man in Moskau den Sieg der Sowjetunion über das Deutsche Reich zu feiern pflegt.
Angela Merkel besiegt Deutschland – das ist ohne Zweifel pikant.
Doch hier wie dort erklären weder Verschwörungstheorien noch neue Erkenntnisse über Merkels DDR-Vergangenheit das wahre Phänomen: dass Angela Merkel mit ihrer Politik der Sozialdemokratisierung der CDU bei den Wählern ankommt. Während es im Osten Deutschlands noch Menschen geben dürfte, die sich an die Nachteile des Systems erinnern, fährt man im Westen Deutschlands jetzt erst recht in breiter Front auf die alten sozialistischen Errungenschaften ab: Gleichheit und Gerechtigkeit sind höchste Werte, Planwirtschaft ist prima, solange sie dem Guten (wie einer Energie“wende“) dient, und damit der Staatssozialismus blüht, fordern auch diejenigen höhere Steuern, die noch nicht gemerkt haben, dass sie mit ihrem bescheidenen Wohlstand die „Reichen“ sind, die von den Blockparteien im Parlament gemolken werden sollen.
Die Lehre von Klassenkampf und Umverteilung braucht hierzulande schon lange keine Einflussagenten mehr. Die haben ihren Job im übrigen weit vor Angela Merkels langem Marsch an die Macht erledigt. All die künftigen Lehrer, die in den 70er und 80er Jahren als GEW-Studenten in die DDR gereist sind, um dort Ganztagskindergärten, vollzeitarbeitende Muttis und polytechnischen Unterricht kennen und preisen zu lernen, sind mit jeder Menge ideologischer Botschaften im Gepäck nach Hause zurückgekehrt. In den Seminaren der geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten war es üblich gewesen, zur „soziokulturellen Grundlegung des Stoffes“ günstig zu erwerbende Werke aus der DDR zu studieren.
Es brauchte keine Angela Merkel, um Intellektuelle von den Vorzügen der DDR beziehungsweise eines ähnlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems zu überzeugen. Noch 1989 erklärten sie sich massenhaft gegen eine Wiedervereinigung, man hatte sich ja so an die DDR als das „bessere Deutschland“ gewöhnt. Diejenigen, die vor triumphierendem Stolz auf das westlichen Systems warnten, waren die gleichen, die den Anschluss der DDR an die Bundesrepublik für fatal hielten. Die anderen wussten schon früh, wie nützlich es sein könnte, die Deutschen sich nicht allzu sehr freuen zu lassen, denn schlechtes Gewissen erzeugt Steuerbereitschaft.
Das Selbstbild der Deutschen ähnelt heute in vielem dem Zerrbild, das in der verflossenen DDR von Westdeutschland entworfen worden war: sie empfinden ihr Land als eines der sozialen Kälte, denken antikapitalistisch und antiamerikanisch und ziehen die Gleichheit der Freiheit vor. Hätte Angela Merkel einen Auftrag der untergegangenen SED zu erfüllen gehabt, wäre sie gewiss des höchsten DDR-Ordens gewiss: Soll erfüllt. Aber das brauchte sie gar nicht. Sie hatte und sie hat jede Menge willige Vollstrecker.
Was Europa betrifft: Deutschland ist das einzige Land, in dem sich viele auf der Linken wünschen, in einem vereinten Europa auf- und zur Not auch unterzugehen. Welchen Traum von Europa träumt eigentlich Peer Steinbrück?
Montag, 5. August 2013
Drei Stühle hinter der Queen
Was für ein Moment: Ich sitze direkt hinter der Queen, nur drei schlanke Stühlchen entfernt. Die trägt ein schlichtes eierschalfarbenes Kleid, sitzt auf einem etwas weniger schmalen Stuhl und friert auch an diesem kühlen Juniabend im zugigen weißen VIP-Zelt offenbar kein bisschen. An ihrer Seite sitzen zwei kunstvoll verpackte Herren, mit denen sie sich glänzend zu unterhalten scheint. Der rechts von ihr, im blauen Rock, den Helm mit Schwanenfedern geschmückt, ist George Pemberton Ross Norton, (noch) der Kommandeur der Household Division. Die umfasst zwei Regimenter, die Life Guards und die Blues and Royals, deren Befehlshaberin übrigens Princess Anne ist.
Was sich auf dem Exerzierfeld vor uns und vor zahlreichen zahlenden Besuchern auf den Tribünen rechts und links abspielt, gehört zu den bei traditionsfreudigen Briten beliebtesten Events. Es nennt sich „Beating the Retreat“. Einmal im Jahr gibt sich die Household Division die Ehre und zeigt, gemeinsam mit den Musikkorps anderer Regimenter, zu welcher Pracht- und Talententfaltung Soldaten fähig sind.
"Trooping the colour"gibt es schon seit Karl dem II. und ist seit 1805 ein öffentliches Spektakel auf der Horse Guards Parade, dem größten offenen Platz in London. „Beating the retreat“ hat eine nicht ganz so lange Tradition wie der Geburtstagsgruß an die Königin – erst nach 1945 wurde aus dem schlichten Hornsignal zum Sammeln nach dem Ende der Schlacht ein wiederkehrendes Ereignis: Ein Signal an die vom Krieg erschöpfte Bevölkerung.
Wer im weißen VIP-Zelt sitzt, hat Tradition und Gegenwart auch im Rücken. Direkt hinter uns, im Gebäude der Horse-Guards, einem Bau im Palladium-Stil, befindet sich das Büro des Duke of Wellington, des Bezwingers Napoleons. Vor dem Spektakel gab es einen Empfang mit Fingerfood und Cocktail, jetzt sitzen dort die Gattinnen von Prince Charles und Prince William, um dem Geschehen unten vom Fenster im ersten Stock aus zuzusehen.
Das große Spektakel zu Pferde und zu Fuß, mit Pipes and Drums and Bugles, hat Züge eines aufwendigen Balletts, an dem sich das Publikum enthusiastisch beteiligt, wenn es nämlich aufstehen muss, weil die Queen vorfährt oder wegfährt, weil „Rule Britannia“ erklingt oder „God Save the Queen“. Nichts für Deutsche, die schon beim vergleichsweise bescheidenen „Großen Zapfenstreich“ Magenschmerzen bekommen. In Großbritannien hingegen feiert man völlig unbefangen eine große Tradition – und die Queen, die sie verkörpert, und die auch heute Abend nicht gelangweilt wirkt, obwohl sie in ihrer Amtszeit diese und andere Demonstrationen britischer Militärtradition schon mehr als hundertfach erlebt hat.
Beneidenswertes Britannien? Ja. Doch. Über den Respekt vor der Monarchin, dieser alten Dame da vorne, im Laufe der Jahrzehnte geschrumpft, erfährt die Nation Respekt vor sich selbst. Und für Soldaten, die ihr Leben riskieren, mag es einfacher sein, der Königin zu dienen – mit „Liebe“ und „Stolz“, wie General Norton versichert - als einer Versammlung von Politikern konkurrierender Parteien, in deren Urteil über Krieg oder Frieden militärisch gebotene Risikoabwägung selten an erster Stelle steht. Eine Königin kann man lieben, den Staat betrachtet ein echter Engländer eher sachlich.
Das macht die Frage müßig, ob das denn sein müsse und dem Ernst der Lage gerecht wird, diese Zurschaustellung prächtiger Schlachtrösser, unbequemer Uniformen und antiker Waffen. Hier feiert die Nation ihre Tradition, ganz einfach. Gleich nebenan, im Museum der Horse Guards, kann man ja nachprüfen, wie Soldaten gekleidet sind, die heute im Kampfeinsatz stehen. Denn die Regimenter der Household Division sind nicht allein zum Pläsier der Königin da, sie bestehen aus kämpfenden Truppen. Und ironischerweise ist ein Teil der zeremoniellen Aufgaben keine schlechte Schulung für Soldaten, die beim Einsatz in fernen Ländern Geduld und ein dickes Fell haben müssen: Angehörige der Horse Guards sitzen stundenlang auf ihren geduldigen Pferden, ohne sich von lästigen Touristen aus der Ruhe bringen zu lassen, die rücksichtslos auf Tuchfühlung gehen für das Foto, das sie zu Hause vorzeigen können.
Und nicht zuletzt dient der Aufmarsch unter Pauken und Trompeten der Sichtbarkeit: die Nation muss ihre Soldaten nicht verstecken, die sie nach Afghanistan oder sonstwohin schickt. Das hat man in Großbritannien im übrigen lange Zeit getan: geschuldet dem irischen Konflikt. Seit Ende der sechziger Jahre haben Armeeangehörige darauf verzichtet, in der Öffentlichkeit Uniform zu tragen. Das änderte sich mit der Olympiade, bei der die Armee Sicherheitsaufgaben übernahm. Nun stellte man fest, dass die Briten ihre Soldaten schätzen.
Die Bundeswehr hat keine vergleichbare Tradition (und im übrigen auch nicht annähernd so farbenprächtige Uniformen), obzwar die Geschichte deutscher Armeen nicht bei Hitler mündet und mit ihm endet. Dabei erinnert eine hübsche Szene des Militärspektakels an einen Kampf, der auch auf deutschem Ruhmesblatt steht: Zu Beethovens „Wellingtons Sieg“ rücken siegesgewisse britische Soldaten gegen ein paar armselige französischen Landser vor, an ihrer Seite eine zerrupfte Marianne, die, obzwar sie ihre Gewehre hektisch stopfen, hoffnungslos unterlegen sind. Man wüsste gern, wie ein französischer Beobachter die Szene empfindet. Nett ist die Erinnerung an die siegreiche Schlacht gegen französische Truppen bei Vitorio am 21. Juni 1813 nicht, die zwei Jahre vor Napoleons Waterloo stattfand – eine Niederlage, die ihm auch die Preußen zugefügt haben.
Glückliches Britannien, das stolz auf eine ungebrochene Tradition sein darf? Ja und nein. Der erste Weltkrieg, in den das Land sehenden Auges hineingeschlittert ist, hat das Empire gekostet und kein Problem gelöst, sondern viele neue geschaffen, nicht zuletzt im Nahen Osten. Auch der Mythos Churchill wankt. Viele in Großbritannien mögen die Deutschen dafür bewundern, dass sie sich ihrer Vergangenheit stellen, mit einer nirgendwo sonst zu findenden Radikalität. Doch das bedeutet nicht, dass man sich Ähnliches anzutun gedenkt: man fühlt sich in Großbritannien, ähnlich wie in Frankreich, noch immer als Großmacht. Dabei sind es insbesondere britische Historiker, die mit den eigenen nationalen Mythen hart ins Gericht gehen. Wenn es um das Gedenken an den Ersten Weltkrieg geht, auf das man sich für die Jahre 2014 bis 2018 vorbereitet, wird man sich auf das gute alte Spiel des Hun-Bashings nicht verlassen können.
Der Rolls Royce fährt vor. Die Queen steigt ein und fährt davon. Doch wer weiß: Vielleicht kommt der nächste König im Mercedes. Man mag deutsche Autos auf den Inseln.
Was sich auf dem Exerzierfeld vor uns und vor zahlreichen zahlenden Besuchern auf den Tribünen rechts und links abspielt, gehört zu den bei traditionsfreudigen Briten beliebtesten Events. Es nennt sich „Beating the Retreat“. Einmal im Jahr gibt sich die Household Division die Ehre und zeigt, gemeinsam mit den Musikkorps anderer Regimenter, zu welcher Pracht- und Talententfaltung Soldaten fähig sind.
"Trooping the colour"gibt es schon seit Karl dem II. und ist seit 1805 ein öffentliches Spektakel auf der Horse Guards Parade, dem größten offenen Platz in London. „Beating the retreat“ hat eine nicht ganz so lange Tradition wie der Geburtstagsgruß an die Königin – erst nach 1945 wurde aus dem schlichten Hornsignal zum Sammeln nach dem Ende der Schlacht ein wiederkehrendes Ereignis: Ein Signal an die vom Krieg erschöpfte Bevölkerung.
Wer im weißen VIP-Zelt sitzt, hat Tradition und Gegenwart auch im Rücken. Direkt hinter uns, im Gebäude der Horse-Guards, einem Bau im Palladium-Stil, befindet sich das Büro des Duke of Wellington, des Bezwingers Napoleons. Vor dem Spektakel gab es einen Empfang mit Fingerfood und Cocktail, jetzt sitzen dort die Gattinnen von Prince Charles und Prince William, um dem Geschehen unten vom Fenster im ersten Stock aus zuzusehen.
Das große Spektakel zu Pferde und zu Fuß, mit Pipes and Drums and Bugles, hat Züge eines aufwendigen Balletts, an dem sich das Publikum enthusiastisch beteiligt, wenn es nämlich aufstehen muss, weil die Queen vorfährt oder wegfährt, weil „Rule Britannia“ erklingt oder „God Save the Queen“. Nichts für Deutsche, die schon beim vergleichsweise bescheidenen „Großen Zapfenstreich“ Magenschmerzen bekommen. In Großbritannien hingegen feiert man völlig unbefangen eine große Tradition – und die Queen, die sie verkörpert, und die auch heute Abend nicht gelangweilt wirkt, obwohl sie in ihrer Amtszeit diese und andere Demonstrationen britischer Militärtradition schon mehr als hundertfach erlebt hat.
Beneidenswertes Britannien? Ja. Doch. Über den Respekt vor der Monarchin, dieser alten Dame da vorne, im Laufe der Jahrzehnte geschrumpft, erfährt die Nation Respekt vor sich selbst. Und für Soldaten, die ihr Leben riskieren, mag es einfacher sein, der Königin zu dienen – mit „Liebe“ und „Stolz“, wie General Norton versichert - als einer Versammlung von Politikern konkurrierender Parteien, in deren Urteil über Krieg oder Frieden militärisch gebotene Risikoabwägung selten an erster Stelle steht. Eine Königin kann man lieben, den Staat betrachtet ein echter Engländer eher sachlich.
Das macht die Frage müßig, ob das denn sein müsse und dem Ernst der Lage gerecht wird, diese Zurschaustellung prächtiger Schlachtrösser, unbequemer Uniformen und antiker Waffen. Hier feiert die Nation ihre Tradition, ganz einfach. Gleich nebenan, im Museum der Horse Guards, kann man ja nachprüfen, wie Soldaten gekleidet sind, die heute im Kampfeinsatz stehen. Denn die Regimenter der Household Division sind nicht allein zum Pläsier der Königin da, sie bestehen aus kämpfenden Truppen. Und ironischerweise ist ein Teil der zeremoniellen Aufgaben keine schlechte Schulung für Soldaten, die beim Einsatz in fernen Ländern Geduld und ein dickes Fell haben müssen: Angehörige der Horse Guards sitzen stundenlang auf ihren geduldigen Pferden, ohne sich von lästigen Touristen aus der Ruhe bringen zu lassen, die rücksichtslos auf Tuchfühlung gehen für das Foto, das sie zu Hause vorzeigen können.
Und nicht zuletzt dient der Aufmarsch unter Pauken und Trompeten der Sichtbarkeit: die Nation muss ihre Soldaten nicht verstecken, die sie nach Afghanistan oder sonstwohin schickt. Das hat man in Großbritannien im übrigen lange Zeit getan: geschuldet dem irischen Konflikt. Seit Ende der sechziger Jahre haben Armeeangehörige darauf verzichtet, in der Öffentlichkeit Uniform zu tragen. Das änderte sich mit der Olympiade, bei der die Armee Sicherheitsaufgaben übernahm. Nun stellte man fest, dass die Briten ihre Soldaten schätzen.
Die Bundeswehr hat keine vergleichbare Tradition (und im übrigen auch nicht annähernd so farbenprächtige Uniformen), obzwar die Geschichte deutscher Armeen nicht bei Hitler mündet und mit ihm endet. Dabei erinnert eine hübsche Szene des Militärspektakels an einen Kampf, der auch auf deutschem Ruhmesblatt steht: Zu Beethovens „Wellingtons Sieg“ rücken siegesgewisse britische Soldaten gegen ein paar armselige französischen Landser vor, an ihrer Seite eine zerrupfte Marianne, die, obzwar sie ihre Gewehre hektisch stopfen, hoffnungslos unterlegen sind. Man wüsste gern, wie ein französischer Beobachter die Szene empfindet. Nett ist die Erinnerung an die siegreiche Schlacht gegen französische Truppen bei Vitorio am 21. Juni 1813 nicht, die zwei Jahre vor Napoleons Waterloo stattfand – eine Niederlage, die ihm auch die Preußen zugefügt haben.
Glückliches Britannien, das stolz auf eine ungebrochene Tradition sein darf? Ja und nein. Der erste Weltkrieg, in den das Land sehenden Auges hineingeschlittert ist, hat das Empire gekostet und kein Problem gelöst, sondern viele neue geschaffen, nicht zuletzt im Nahen Osten. Auch der Mythos Churchill wankt. Viele in Großbritannien mögen die Deutschen dafür bewundern, dass sie sich ihrer Vergangenheit stellen, mit einer nirgendwo sonst zu findenden Radikalität. Doch das bedeutet nicht, dass man sich Ähnliches anzutun gedenkt: man fühlt sich in Großbritannien, ähnlich wie in Frankreich, noch immer als Großmacht. Dabei sind es insbesondere britische Historiker, die mit den eigenen nationalen Mythen hart ins Gericht gehen. Wenn es um das Gedenken an den Ersten Weltkrieg geht, auf das man sich für die Jahre 2014 bis 2018 vorbereitet, wird man sich auf das gute alte Spiel des Hun-Bashings nicht verlassen können.
Der Rolls Royce fährt vor. Die Queen steigt ein und fährt davon. Doch wer weiß: Vielleicht kommt der nächste König im Mercedes. Man mag deutsche Autos auf den Inseln.
Montag, 22. Juli 2013
Soziologen, Experten und andere Spinner
Die „Alternative für Deutschland“? „Vergleichbar mit der Tea Party“, Botschaft: es gebe dort „antidemokratische und homophobe Tendenzen“. Quelle: ein „Soziologe aus Münster.“ Gefunden: beim „Spiegel“ dieser Woche.
Beim „Focus“ – Fakten, Fakten, wir erinnern uns –mutiert der Münsteraner Soziologe gleich zum „Experten“, der sich „besorgt über rechtspopulistische Tendenzen der Partei“ äußert, „die zum Anziehungspunkt extremer Wählergruppen werden könnten.“
Und wer ist dieser Wissenschaftler aus Münster, der „Experte“, der in der neuen Partei „demokratiefeindliche Tendenzen“ festgestellt hat? Auch wenn die Partei natürlich nicht offen zugebe, dass sie das Wahlrecht einschränken will? Woraus wir wohl schließen sollen, dass sie es heimlich will?
Andreas Kemper, 50, wird weder vom „Spiegel“ noch vom „Focus“ nach beweisstarken Belegen gefragt. Seine Behauptung, Vorstandsmitglied Konrad Adam habe „schon mal implizit“ gefordert, Arbeitslosen das Wahlrecht abzuerkennen, ist es jedenfalls nicht. Wer das entsprechende Zitat nachliest, stellt fest: implizit ist ein schöner Ausdruck für etwas, das einer weder gesagt noch „gefordert“ hat.
Wer dennoch ganz schnell das Buch des „Experten“ kaufen möchte, das „Rechte Euro-Rebellion“ betitelt ist, wundert sich über den „Spiegel“ und staunt über den „Focus“. Ein Blick ins Internet hätte geholfen (früher hätte man das Recherche genannt).
Das Buch des Experten ist in einem Verlag erschienen, der die Fahne der Antifa hochhält, um nicht von Propaganda-Schriften zu reden (das tun wir nur implizit). Auf Kempers Website begegnet man einem Menschen mit eher eingeschränktem Wirklichkeits- und Wissenschaftsverständnis, der sich mit „Klassismus“ und „Maskulismus“ bestens auskennt, aber zwischen liberal und konservativ nicht zu unterscheiden weiß – ist ja alles irgendwie rechts, von links aus gesehen. Im öffentlich-rechtlichen Mainstream würde man ihn wahrscheinlich zum „Aktivisten“ adeln. Zu einem „Experten“ gar noch für die AfD macht ihn das nicht.
Dazu adeln ihn Nachrichtenmagazine, die offenbar mittlerweile jeden linken Spinner für eine seriöse Quelle halten.
Beim „Focus“ – Fakten, Fakten, wir erinnern uns –mutiert der Münsteraner Soziologe gleich zum „Experten“, der sich „besorgt über rechtspopulistische Tendenzen der Partei“ äußert, „die zum Anziehungspunkt extremer Wählergruppen werden könnten.“
Und wer ist dieser Wissenschaftler aus Münster, der „Experte“, der in der neuen Partei „demokratiefeindliche Tendenzen“ festgestellt hat? Auch wenn die Partei natürlich nicht offen zugebe, dass sie das Wahlrecht einschränken will? Woraus wir wohl schließen sollen, dass sie es heimlich will?
Andreas Kemper, 50, wird weder vom „Spiegel“ noch vom „Focus“ nach beweisstarken Belegen gefragt. Seine Behauptung, Vorstandsmitglied Konrad Adam habe „schon mal implizit“ gefordert, Arbeitslosen das Wahlrecht abzuerkennen, ist es jedenfalls nicht. Wer das entsprechende Zitat nachliest, stellt fest: implizit ist ein schöner Ausdruck für etwas, das einer weder gesagt noch „gefordert“ hat.
Wer dennoch ganz schnell das Buch des „Experten“ kaufen möchte, das „Rechte Euro-Rebellion“ betitelt ist, wundert sich über den „Spiegel“ und staunt über den „Focus“. Ein Blick ins Internet hätte geholfen (früher hätte man das Recherche genannt).
Das Buch des Experten ist in einem Verlag erschienen, der die Fahne der Antifa hochhält, um nicht von Propaganda-Schriften zu reden (das tun wir nur implizit). Auf Kempers Website begegnet man einem Menschen mit eher eingeschränktem Wirklichkeits- und Wissenschaftsverständnis, der sich mit „Klassismus“ und „Maskulismus“ bestens auskennt, aber zwischen liberal und konservativ nicht zu unterscheiden weiß – ist ja alles irgendwie rechts, von links aus gesehen. Im öffentlich-rechtlichen Mainstream würde man ihn wahrscheinlich zum „Aktivisten“ adeln. Zu einem „Experten“ gar noch für die AfD macht ihn das nicht.
Dazu adeln ihn Nachrichtenmagazine, die offenbar mittlerweile jeden linken Spinner für eine seriöse Quelle halten.
Donnerstag, 11. Juli 2013
Der gefesselte Riese
Die Deutschen selbst wollen mit überwältigender Mehrheit keineswegs "führen". Aus historisch gespeister Empfindlichkeit dem Wort gegenüber. Aus Bescheidenheit. Vielleicht auch aus Faulheit. Und – weil man es nie gelernt hat. Bevor das Deutsche Reich Großmacht werden konnte, verlor es den Ersten Weltkrieg. Und seit dem Zweiten Weltkrieg ist "Führung" ein schmutziges Wort.
Diese Gründe für schuldbewusste Bedenken und bescheidene Zurückhaltung mögen zwar falsch und längst überholt sein, aber die Euro-Krise ist nicht gerade der geeignete Anlass, um mit dem Führen anzufangen. Nicht, weil dann wieder jemand Angela Merkels Bild mit Hitlerbart versehen könnte. Sondern weil die Situation nicht danach ist. Denn wie man es auch anstellt: Die Deutschen sitzen in der Falle.
Tut die Bundesregierung, was jeder normale Gläubiger tun würde, erwartet sie also von ihren Schuldnern, dass sie so schnell wie möglich dafür sorgen, dass sie die ihnen gewährte Hilfe auch zurückzahlen können, wird die Bundeskanzlerin von wütenden Demonstranten als Nazisse beschimpft, die ein deutsches "Diktat" ausüben wolle. Die Fotos auf den Titelseiten griechischer und portugiesischer Zeitungen sind uns noch lebhaft in Erinnerung.
Schnelle Schuldentilgung, heißt es neuerdings, sei im Übrigen ein unzumutbarer Eingriff in die Kultur südeuropäischer Länder, die ein anderes Arbeitsethos hätten als wir. In der Tat. Hilfe kann entmündigen. Sollte man da nicht zweimal nachdenken, bevor man Geld gibt?
Übrigens: Dass man hierzulande auf Kanzlerbeleidigungen, Nazi-Vergleiche und moralische Erpressung entspannt reagiert, mag manch einer souverän finden. Unsere nationalstolzeren Nachbarn dürften darin eher Schwäche erkennen.
Gibt die Kanzlerin wiederum umstandslos den Zahlmeister (was sie de facto tut), verstößt sie gegen den Verfassungsauftrag, riskiert ihren noch immer großen Rückhalt in der Bevölkerung und beginnt, die Kuh auszuhungern, die man doch weiterhin melken will.
Rational ist das nicht. Während die anderen Euro-Staaten längst wieder ihren ureigenen Interessen den Vorrang geben, ignoriert die Bundesregierung zudem das Haushaltsrecht des Bundestages – vorgeblich des auch moralisch höheren Ziels Europas wegen.
Doch mit der Forderung nach "mehr Europa" als Ausweg aus der Krise steht Deutschland längst allein. Es sind vor allem die Bündnisgenossen, die sich auf einen Souveränitätsverzicht nicht einzulassen wünschen. Dass ein Teil der deutschen Öffentlichkeit zu glauben scheint, Souveränitätseinbußen sei der Preis, den Deutschland der Vergangenheit wegen zu zahlen habe, ist nationaler Masochismus, den niemand honoriert.
Es sind nur noch die Deutschen, die ein sentimentales Interesse an diesem Europa haben. Historisch ist das nachvollziehbar: Für die Bundesrepublik bedeutete die Europäische Union nie ein Instrument der Machtausübung, das war die französische Agenda, wo man unter "Einbindung" gern Fesselung verstand. In der alten Bundesrepublik erhoffte man sich von der Selbstfesselung Akzeptanz.
Nun stellen die vereinigten Deutschen fest, dass sie, gleichgültig was sie tun, noch immer nicht geliebt werden. Vielleicht sollte man den Wunsch danach endlich aufgeben. Respektiert werden ist auch was Schönes.
Achtung hat sich das Land längst erworben. Selbst in Großbritannien, wo das "Kraut-Bashing" viele Jahrzehnte zu den Volkssportarten gehörte, mag man die Deutschen, weil und solange sie erfolgreich sind. Im Vereinten Königreich erkennt man auch keinen Grund für eine historisch begründete Bescheidenheit: Deutschland sei vorbildlich im Umgang mit vergangener Schuld. Also vorwärts!
Doch auch diese Ermunterung zur Leadership hat ihre Haken. Deutschlands Macht in Europa beruht auf seiner wirtschaftlichen Stärke. Wer hier Führung anmahnt, möchte meistens, dass die Bundeskanzlerin ihre "Merkelnomics" (Denis MacShane) aufgibt, ihren "Austeritätskurs", ihr "Spardiktat".
Stattdessen soll Deutschland mutig und risikofreudig "retten", also: Geld ausgeben. Dagegen spricht nicht nur ökonomische Weitsicht, sondern auch das Mandat der Kanzlerin, Schaden vom eigenen Volk abzuwenden. Schon jetzt vollzieht sich eine gewaltige Enteignung der Steuerzahler. Und das ist erst der Anfang.
Die entscheidende Frage lautet: Warum ist eigentlich immer nur von Deutschland die Rede, wenn es ums Führen in Europa geht? Wo sind die Partner? Wo ist französische Leadership zu erkennen, wo bleiben die Briten?
Euro-Europa droht an der Unfähigkeit der politischen und wirtschaftlichen Eliten seiner Mitgliedsländer zu scheitern, die Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein starker Währungsverbund braucht. Denn da ist das Grundproblem des Euro: Seine Einführung gründete in erster Linie auf Wunschdenken, nicht auf ökonomischer und politischer Vernunft.
Nach zwei Weltkriegen, nach 45 Jahren Teilung und eingeschränkter Souveränität ist Deutschland ein gefesselter Riese. Angela Merkel, die einst "durchregieren" wollte, hat, wie alle Regierungschefs vor ihr, schnell gemerkt, dass unser politisches System Führung nicht begünstigt. Es ist nicht aufs Entscheiden ausgelegt, sondern aufs Verhandeln, auf Kompromiss- und Konsensbildung – etwas, worin Angela Merkel stark ist.
Strategische Ziele aber geraten dabei aus dem Blickfeld. Religiös verbrämte Großziele wie "Klimaschutz" oder "Energiewende" mögen beim linksökologischen Wähler-Mainstream beliebt machen, wo man die Weltrettung nicht mehr Superman alleine überlassen will. Die wichtigeren Dinge aber spielen sich nun einmal unterhalb aller großen und letzten Dinge ab.
Deutschlands Rolle in Europa und der Welt zu definieren etwa ist durchaus anspruchsvoll – mag sein, dass sich manch einer im Außenministerium davon überfordert fühlt.
Doch auch darin könnte Führungsstärke liegen: Europa anders zu denken, auch so: Europa ohne den Euro zu denken. Hoffentlich macht sich schon jemand Gedanken darüber. Gut möglich, dass die Ruhe vor dem Sturm nur noch bis zum Tag nach der Bundestagswahl am 22. September währt.
Zuerst in: Die Welt.
Diese Gründe für schuldbewusste Bedenken und bescheidene Zurückhaltung mögen zwar falsch und längst überholt sein, aber die Euro-Krise ist nicht gerade der geeignete Anlass, um mit dem Führen anzufangen. Nicht, weil dann wieder jemand Angela Merkels Bild mit Hitlerbart versehen könnte. Sondern weil die Situation nicht danach ist. Denn wie man es auch anstellt: Die Deutschen sitzen in der Falle.
Tut die Bundesregierung, was jeder normale Gläubiger tun würde, erwartet sie also von ihren Schuldnern, dass sie so schnell wie möglich dafür sorgen, dass sie die ihnen gewährte Hilfe auch zurückzahlen können, wird die Bundeskanzlerin von wütenden Demonstranten als Nazisse beschimpft, die ein deutsches "Diktat" ausüben wolle. Die Fotos auf den Titelseiten griechischer und portugiesischer Zeitungen sind uns noch lebhaft in Erinnerung.
Schnelle Schuldentilgung, heißt es neuerdings, sei im Übrigen ein unzumutbarer Eingriff in die Kultur südeuropäischer Länder, die ein anderes Arbeitsethos hätten als wir. In der Tat. Hilfe kann entmündigen. Sollte man da nicht zweimal nachdenken, bevor man Geld gibt?
Übrigens: Dass man hierzulande auf Kanzlerbeleidigungen, Nazi-Vergleiche und moralische Erpressung entspannt reagiert, mag manch einer souverän finden. Unsere nationalstolzeren Nachbarn dürften darin eher Schwäche erkennen.
Gibt die Kanzlerin wiederum umstandslos den Zahlmeister (was sie de facto tut), verstößt sie gegen den Verfassungsauftrag, riskiert ihren noch immer großen Rückhalt in der Bevölkerung und beginnt, die Kuh auszuhungern, die man doch weiterhin melken will.
Rational ist das nicht. Während die anderen Euro-Staaten längst wieder ihren ureigenen Interessen den Vorrang geben, ignoriert die Bundesregierung zudem das Haushaltsrecht des Bundestages – vorgeblich des auch moralisch höheren Ziels Europas wegen.
Doch mit der Forderung nach "mehr Europa" als Ausweg aus der Krise steht Deutschland längst allein. Es sind vor allem die Bündnisgenossen, die sich auf einen Souveränitätsverzicht nicht einzulassen wünschen. Dass ein Teil der deutschen Öffentlichkeit zu glauben scheint, Souveränitätseinbußen sei der Preis, den Deutschland der Vergangenheit wegen zu zahlen habe, ist nationaler Masochismus, den niemand honoriert.
Es sind nur noch die Deutschen, die ein sentimentales Interesse an diesem Europa haben. Historisch ist das nachvollziehbar: Für die Bundesrepublik bedeutete die Europäische Union nie ein Instrument der Machtausübung, das war die französische Agenda, wo man unter "Einbindung" gern Fesselung verstand. In der alten Bundesrepublik erhoffte man sich von der Selbstfesselung Akzeptanz.
Nun stellen die vereinigten Deutschen fest, dass sie, gleichgültig was sie tun, noch immer nicht geliebt werden. Vielleicht sollte man den Wunsch danach endlich aufgeben. Respektiert werden ist auch was Schönes.
Achtung hat sich das Land längst erworben. Selbst in Großbritannien, wo das "Kraut-Bashing" viele Jahrzehnte zu den Volkssportarten gehörte, mag man die Deutschen, weil und solange sie erfolgreich sind. Im Vereinten Königreich erkennt man auch keinen Grund für eine historisch begründete Bescheidenheit: Deutschland sei vorbildlich im Umgang mit vergangener Schuld. Also vorwärts!
Doch auch diese Ermunterung zur Leadership hat ihre Haken. Deutschlands Macht in Europa beruht auf seiner wirtschaftlichen Stärke. Wer hier Führung anmahnt, möchte meistens, dass die Bundeskanzlerin ihre "Merkelnomics" (Denis MacShane) aufgibt, ihren "Austeritätskurs", ihr "Spardiktat".
Stattdessen soll Deutschland mutig und risikofreudig "retten", also: Geld ausgeben. Dagegen spricht nicht nur ökonomische Weitsicht, sondern auch das Mandat der Kanzlerin, Schaden vom eigenen Volk abzuwenden. Schon jetzt vollzieht sich eine gewaltige Enteignung der Steuerzahler. Und das ist erst der Anfang.
Die entscheidende Frage lautet: Warum ist eigentlich immer nur von Deutschland die Rede, wenn es ums Führen in Europa geht? Wo sind die Partner? Wo ist französische Leadership zu erkennen, wo bleiben die Briten?
Euro-Europa droht an der Unfähigkeit der politischen und wirtschaftlichen Eliten seiner Mitgliedsländer zu scheitern, die Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein starker Währungsverbund braucht. Denn da ist das Grundproblem des Euro: Seine Einführung gründete in erster Linie auf Wunschdenken, nicht auf ökonomischer und politischer Vernunft.
Nach zwei Weltkriegen, nach 45 Jahren Teilung und eingeschränkter Souveränität ist Deutschland ein gefesselter Riese. Angela Merkel, die einst "durchregieren" wollte, hat, wie alle Regierungschefs vor ihr, schnell gemerkt, dass unser politisches System Führung nicht begünstigt. Es ist nicht aufs Entscheiden ausgelegt, sondern aufs Verhandeln, auf Kompromiss- und Konsensbildung – etwas, worin Angela Merkel stark ist.
Strategische Ziele aber geraten dabei aus dem Blickfeld. Religiös verbrämte Großziele wie "Klimaschutz" oder "Energiewende" mögen beim linksökologischen Wähler-Mainstream beliebt machen, wo man die Weltrettung nicht mehr Superman alleine überlassen will. Die wichtigeren Dinge aber spielen sich nun einmal unterhalb aller großen und letzten Dinge ab.
Deutschlands Rolle in Europa und der Welt zu definieren etwa ist durchaus anspruchsvoll – mag sein, dass sich manch einer im Außenministerium davon überfordert fühlt.
Doch auch darin könnte Führungsstärke liegen: Europa anders zu denken, auch so: Europa ohne den Euro zu denken. Hoffentlich macht sich schon jemand Gedanken darüber. Gut möglich, dass die Ruhe vor dem Sturm nur noch bis zum Tag nach der Bundestagswahl am 22. September währt.
Zuerst in: Die Welt.
Mittwoch, 3. Juli 2013
Schlesischer Wein. Alles fließt, oder: come together
Das durchdringende Geheul der Jerichotrompeten, mit denen 87 Stuka in den Morgenstunden des 1. Septembers 1939 die polnische Stadt Wielun heimsuchten, hat Zbigniew Czarnuch noch heute im Ohr. Damals war er neun Jahre alt und lebte ganz in der Nähe. Er sah die Menschen flüchten, erlebte, wie der Vater in den Untergrund ging, und empfand dennoch, wie er breit lächelnd erzählt, als großen Vorzug der deutschen Besatzung, dass er nicht mehr zur Schule gehen musste. Der Junge wurde Herr über 100 Schafe und lernte statt grauer Theorie ein lebendes Dorf kennen, in dem jede Kreuzung und jede Brücke ihre Geschichte hat. Seither ist er der Meinung, dass menschliche Ansiedlungen sprechen.
Der 82jährige, ein kleiner Mann mit weißem Schnurrbart, vollem Haar und handfestem Charme , empfängt in einer mit Büchern und Zeitungen vollgestopften Dreizimmerwohnung, serviert Tee und alkoholgesättigten Kuchen und bietet Wodka an, wonach den Besuchern um 15 Uhr noch nicht ist. Außerdem glaubt man dem Lehrer und Heimatforscher auch ohne Alkohol, dass die Steine zu ihm sprechen – jede Brücke eine Legende, jede Straße eine Story, jedes Haus ein vielstimmiger Gesang. Czarnuch hat ein feines Gehör – auch für Menschen.
In Witnica (Vietz), wo er seit 1945 lebt, weil der Vater einen Posten in der neu aufzubauenden Verwaltung bekam, blieben die Steine lange Zeit stumm. Es gab ja keine Alteingesessenen mehr, die Deutschen waren geflüchtet oder vertrieben, und die jetzt dort gelandet und gestrandet waren, waren ebenfalls nicht freiwillig gekommen. Die kommunistische Führung erzählte zwar gern, sie würden nun in „wiedererlangten Gebieten“ siedeln. Vietz gehörte 1250 zu den Gütern des Templer-Ordens. Die polnischen Piasten hatten ihren Einfluss längst verloren.
Der junge Czarnuch wollte keine deutschen Stimmen hören, als überzeugter Kommunist befreite er Vietz mit dem Hammer von deutschen Symbolen und Emblemen und übermalte deutsche Schilder und Aufschriften. Als er Jahre später die Geschichte von Witnica schreiben wollte, merkte er, dass der Ort nicht zu ihm sprach. Erst der Kontakt zu den einst vertriebenen Deutschen, zunächst aus der DDR, nach 1989 auch aus dem Westen, öffnete Türen und Ohren. Ein Ort lebt nur, wenn alle Stimmen gehört werden, sagt Czarnuch. Also auch die der vertriebenen Deutschen, späte Besucher, die ihn berührt und gerührt haben.
Czarnuch hat keine Geschichten zu erzählen von anmaßenden Deutschen, die nach Schlesien kommen, um den Verlust ihres Eigentums zu beklagen. Er hat sie offenbar nie getroffen. Im übrigen sei nicht zu bestreiten, dass es bei der Vertreibung der Deutschen, die ihren sämtlichen Besitz zurücklassen mussten, alles andere als korrekt zugegangen war. Für seine Verdienste um die Verständigung zwischen Polen und Deutschen wurde er 2009 mit dem Georg-Dehio-Kulturpreis ausgezeichnet. Es gehöre Mut dazu, meint er, zuerst Mensch zu sein, bevor man sich als Pole empfindet.
Damit machte man sich nicht nur im kommunistischen Polen unbeliebt. Das hören auch heute dort viele nicht gern. Aber vielleicht fällt dieser Mut in Schlesien leichter als anderswo in Polen?
*
Ob Schlesien nicht die geeignete Landschaft wäre für den sanften Übergang von Deutschland zu Polen, für ein langsames Verschmelzen in naher Zukunft? Piotr Firfas, unser Fremdenführer durch Zielona Gora, das ehemalige Grünberg, stimmt mit leuchtenden Augen zu, wenn man ihn das fragt. Er hat in Gießen und Germersheim studiert und spricht ein hervorragendes Deutsch. Natürlich gehören hier Polen und Deutschland zusammen, das Deutsche ist schließlich an allen Ecken und Enden präsent, Häuser und Straßen sprechen beide Sprachen, und die Fiktion von der Stunde Null im Jahr 1945 wird längst nicht mehr gepflegt. Im Gegenteil: In Grünberg hat man erkannt, dass es dem Fremdenverkehr förderlich ist, wenn man Geschichte vorweisen kann.
Die Geschichte, etwa, der Weinbauregion um Grünberg herum. Im Weinmuseum kann man alten Fässern und deutschen Namen begegnen. Bereits 1250 sollen Mönche vom heute opulent barock restaurierten Kloster Paradies mit dem Weinbau begonnen haben. Mit 200 ha liegt hier, auf 51° 56` nördlicher Breite und 15° 31` östlicher Länge, das nördlichste geschlossene Weinbaugebiet der Welt.
Die jahrhundertealte Weinbautradition wurde mit der Vertreibung der Deutschen beendet. Es gab 1945 niemanden, der sie hätte fortführen können. Vom kollektivierten Weinanbau im kommunistischen Polen gibt es nichts zu berichten, das Experiment endete 1960. Doch schon 1990 begannen Pioniere, die Weinberge am Hang der Oder wiederzubeleben. Und sie erkannten die Vorteile, die es bringt, an einen alten Ruf anzuknüpfen.
Mit Grempler & Co entstand 1826 in Grünberg die erste deutsche Sektkellerei, die jährlich bis zu 800 000 Flaschen Sekt weltweit auslieferte. Was nicht Sekt wurde, machte man zu Cognac: Albert Buchholz gründete hier „die größte Cognac-Brennerei Deutschlands nach reichsamtlicher Statistik“. Die Vorfahren zweier Spitzenwinzer im australischen Barossa Valley, Peter Lehmann und Johann Christian Henschke, stammen aus der Grünberger Gegend.
Heute gibt es auf gut 100 Hektar etwa hundert Winzer. Mit 6 Ha das größte Weingut dürfte Stara Winna Góra sein, aufgebaut von Marek Krojzig, der sein Geld mit Schaumstoff verdiente, bevor er auf seinem Grundstück bei Cigacice (Tschicherzig) alte Reben entdeckte und sich für den Weinanbau begeisterte. In Weingut und Hotelanlage ist viel investiert worden, allerdings nicht nur Geschmack, und die Häuser mit Walmdach und viel Holz spiegeln Tradition vor, die es nicht gibt. Hier trinken die gehobenen Kreise Polens ihren Riesling oder Regent. Den Wein kann man nur auf dem Gut kaufen, und im Verhältnis zur Qualität ist er teuer.
Das Gegenstück zum Prestigeobjekt Stara Winna Gora ist Roman Grads Weinberg Julia, der gerade mal 0,1 Hektar hat. Expertise und Reben kommen hier wie dort nicht selten aus Geisenheim.
Obwohl Polen seit 2005 als Weinland anerkannt ist, sind die Grünberger Weine nicht im freien Handel zu haben. Die bürokratischen Hürden sind hoch, sie zu überwinden ist teuer. Für Touristen ist das nicht ohne Vorteil: die Karte der Lebuser Wein- und Honigstraße verzeichnet 26 Winzer, bei denen man einkehren und probieren kann. Die eine oder andere Rebe wächst zudem im Park eines alten Herrenhauses.
Die Weinmacher sind eine internationale Community. Wer Winzer ist, hat viele Freunde – nicht zuletzt in Deutschland, wo Weltklasseweine gedeihen. Wein verbindet. Auch so wächst etwas zusammen.
*
Wer sich in Christel Fockens Obhut begibt, sollte aufpassen: die starke Frau mit den kräftigen Händen hat in einem ihrer vielen früheren Leben eine Szenebar in Berlin betrieben. Heute ist sie Vorsitzende des von ihr gegründeten Bundesvereins Privater Historiker. Seit fünfzehn Jahren erkundet sie einen Teil des „Ostwalls“, den 35 Kilometer langen Mittelabschnitt der östlichen Frontlinie, der eigentlich „Festungsfront Oder-Warthe-Bogen“ heißt. Ihre Instruktionen für die Führung sind militärisch knapp: keine Protzautos. Keine Stöckelschuhe. Kein Schnaps. Übeltäter werden von der Führung ausgeschlossen. Warnung: „Sie bringen sich sonst um interessante Erlebnisse!“ Was muss die Frau bei ihren Führungen wohl alles schon erlebt haben? Leichtbekleidete Damen? Betrunkene Heil-Hitler-Gröler?
Am Tag unserer Führung regnet es in Strömen. Vor dem Eingang in den Bunker stehen Männer und Frauen in überaus korrekter Kleidung, in Tarnanzügen und Regencapes, als ginge es in eine Tropfsteinhöhle. Nicht für jeden ist der Besuch ein Abstieg in die Vergangenheit, der Untergrund ist auch bei Radfahrern und Paintball-Spielern beliebt. Im Treppenhaus seilen sich Todesmutige ab. Wir benutzen die völlig intakten Stufen.
In den langen Gängen selbst ist es gleichmäßig kühl temperiert und trocken. Das einzig Martialische sind die Graffiti an den Wänden. Nazi-Grusel ist nicht das Spannende an der gigantischen Anlage aus Bunkern, Panzerwerken und raffinierten Brückenanlagen. Sie ist ein Wahrzeichen deutscher Ingenieurskunst und so kriegsbedeutend wie die französische Maginot-Linie. Also gar nicht. Denn der imponierende Bau hat seine Feuertaufe nie erlebt.
1934 begann man mit dem Bau, 1939 verfügte Hitler den Baustopp. Er hielt den Festungsbau im Westen für dringlicher. Vor allem aber habe man keinen Bedarf für Festungen, „die nur zur Konservierung von zahlreichen Nichtkämpfern dienen“. Als man die Anlage gegen die vorrückenden Russen hätte gebrauchen können, war sie nicht mehr funktionstüchtig, man hatte sie weitgehend ausgeschlachtet. Auch fehlten Soldaten, um sie auf die Schnelle in Betrieb zu nehmen. Die Rote Armee überrollte sie.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde der Ostwall zunächst von den Russen und später von der Polnischen Armee genutzt. 1957 war es damit vorbei, der Ostwall war vergessen. Heute ist er eine Attraktion, um die sich Christel Focken verdient gemacht hat. Der Bürgermeister von Meseritz (Międzyrzecz ) hat sie zur „Ehrenbotschafterin“ der Anlage ernannt.
Bunkertourismus also. Und warum nicht? Was soll man auch sonst mit der Anlage machen? Sie ist ein deutsches Erbe, das fest mit der Landschaft verbunden ist, man kann es ihr nicht mehr entreißen. Am besten arrangiert man sich damit.
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Das Bier ist gut, der Wodka ebenfalls, das Essen schmeckt und der Wein kommt aus Australien, weil der Grünberger ja nicht ausgeschenkt werden darf. Zum Frühstück gibt es Tütentee und Nescafé, gefüllte Eier, nahrhafte Salate, schwere Kuchen. Wir übernachten in einer alten Johanniterburg und in einem prächtigen Herrenhaus, beide trächtig mit deutsch-polnischer Geschichte. Im Herrenhaus wird passenderweise eine deutsch-polnische Hochzeit gefeiert. Niemand jammert über Deutschland, und es ist auch keine Angela Merkel mit Hitlerbärtchen zu sehen. Weil Polen keinen Euro hat? Das hat für Touristen einen unschätzbaren Vorteil: Noch kann man sich die Preise dort leisten.
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Polen ist einer unserer engsten Nachbarn. Kaum ein Land hat bessere Voraussetzungen, um die Drehscheibe zwischen Ost und West werden. Junge Polen, die erkannt haben, dass ihr Land zum Mittler taugt, sprechen russisch, deutsch und englisch. Während der Euro Nord- und Südeuropa entzweit, verbindet sich hier im Grenzgebiet zwischen Polen und Deutschland ganz allmählich etwas, zaghaft, uneingestanden, schüchtern. Das, was einst Schlesien war, ist die denkbar schönste Brücke.
Der 82jährige, ein kleiner Mann mit weißem Schnurrbart, vollem Haar und handfestem Charme , empfängt in einer mit Büchern und Zeitungen vollgestopften Dreizimmerwohnung, serviert Tee und alkoholgesättigten Kuchen und bietet Wodka an, wonach den Besuchern um 15 Uhr noch nicht ist. Außerdem glaubt man dem Lehrer und Heimatforscher auch ohne Alkohol, dass die Steine zu ihm sprechen – jede Brücke eine Legende, jede Straße eine Story, jedes Haus ein vielstimmiger Gesang. Czarnuch hat ein feines Gehör – auch für Menschen.
In Witnica (Vietz), wo er seit 1945 lebt, weil der Vater einen Posten in der neu aufzubauenden Verwaltung bekam, blieben die Steine lange Zeit stumm. Es gab ja keine Alteingesessenen mehr, die Deutschen waren geflüchtet oder vertrieben, und die jetzt dort gelandet und gestrandet waren, waren ebenfalls nicht freiwillig gekommen. Die kommunistische Führung erzählte zwar gern, sie würden nun in „wiedererlangten Gebieten“ siedeln. Vietz gehörte 1250 zu den Gütern des Templer-Ordens. Die polnischen Piasten hatten ihren Einfluss längst verloren.
Der junge Czarnuch wollte keine deutschen Stimmen hören, als überzeugter Kommunist befreite er Vietz mit dem Hammer von deutschen Symbolen und Emblemen und übermalte deutsche Schilder und Aufschriften. Als er Jahre später die Geschichte von Witnica schreiben wollte, merkte er, dass der Ort nicht zu ihm sprach. Erst der Kontakt zu den einst vertriebenen Deutschen, zunächst aus der DDR, nach 1989 auch aus dem Westen, öffnete Türen und Ohren. Ein Ort lebt nur, wenn alle Stimmen gehört werden, sagt Czarnuch. Also auch die der vertriebenen Deutschen, späte Besucher, die ihn berührt und gerührt haben.
Czarnuch hat keine Geschichten zu erzählen von anmaßenden Deutschen, die nach Schlesien kommen, um den Verlust ihres Eigentums zu beklagen. Er hat sie offenbar nie getroffen. Im übrigen sei nicht zu bestreiten, dass es bei der Vertreibung der Deutschen, die ihren sämtlichen Besitz zurücklassen mussten, alles andere als korrekt zugegangen war. Für seine Verdienste um die Verständigung zwischen Polen und Deutschen wurde er 2009 mit dem Georg-Dehio-Kulturpreis ausgezeichnet. Es gehöre Mut dazu, meint er, zuerst Mensch zu sein, bevor man sich als Pole empfindet.
Damit machte man sich nicht nur im kommunistischen Polen unbeliebt. Das hören auch heute dort viele nicht gern. Aber vielleicht fällt dieser Mut in Schlesien leichter als anderswo in Polen?
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Ob Schlesien nicht die geeignete Landschaft wäre für den sanften Übergang von Deutschland zu Polen, für ein langsames Verschmelzen in naher Zukunft? Piotr Firfas, unser Fremdenführer durch Zielona Gora, das ehemalige Grünberg, stimmt mit leuchtenden Augen zu, wenn man ihn das fragt. Er hat in Gießen und Germersheim studiert und spricht ein hervorragendes Deutsch. Natürlich gehören hier Polen und Deutschland zusammen, das Deutsche ist schließlich an allen Ecken und Enden präsent, Häuser und Straßen sprechen beide Sprachen, und die Fiktion von der Stunde Null im Jahr 1945 wird längst nicht mehr gepflegt. Im Gegenteil: In Grünberg hat man erkannt, dass es dem Fremdenverkehr förderlich ist, wenn man Geschichte vorweisen kann.
Die Geschichte, etwa, der Weinbauregion um Grünberg herum. Im Weinmuseum kann man alten Fässern und deutschen Namen begegnen. Bereits 1250 sollen Mönche vom heute opulent barock restaurierten Kloster Paradies mit dem Weinbau begonnen haben. Mit 200 ha liegt hier, auf 51° 56` nördlicher Breite und 15° 31` östlicher Länge, das nördlichste geschlossene Weinbaugebiet der Welt.
Die jahrhundertealte Weinbautradition wurde mit der Vertreibung der Deutschen beendet. Es gab 1945 niemanden, der sie hätte fortführen können. Vom kollektivierten Weinanbau im kommunistischen Polen gibt es nichts zu berichten, das Experiment endete 1960. Doch schon 1990 begannen Pioniere, die Weinberge am Hang der Oder wiederzubeleben. Und sie erkannten die Vorteile, die es bringt, an einen alten Ruf anzuknüpfen.
Mit Grempler & Co entstand 1826 in Grünberg die erste deutsche Sektkellerei, die jährlich bis zu 800 000 Flaschen Sekt weltweit auslieferte. Was nicht Sekt wurde, machte man zu Cognac: Albert Buchholz gründete hier „die größte Cognac-Brennerei Deutschlands nach reichsamtlicher Statistik“. Die Vorfahren zweier Spitzenwinzer im australischen Barossa Valley, Peter Lehmann und Johann Christian Henschke, stammen aus der Grünberger Gegend.
Heute gibt es auf gut 100 Hektar etwa hundert Winzer. Mit 6 Ha das größte Weingut dürfte Stara Winna Góra sein, aufgebaut von Marek Krojzig, der sein Geld mit Schaumstoff verdiente, bevor er auf seinem Grundstück bei Cigacice (Tschicherzig) alte Reben entdeckte und sich für den Weinanbau begeisterte. In Weingut und Hotelanlage ist viel investiert worden, allerdings nicht nur Geschmack, und die Häuser mit Walmdach und viel Holz spiegeln Tradition vor, die es nicht gibt. Hier trinken die gehobenen Kreise Polens ihren Riesling oder Regent. Den Wein kann man nur auf dem Gut kaufen, und im Verhältnis zur Qualität ist er teuer.
Das Gegenstück zum Prestigeobjekt Stara Winna Gora ist Roman Grads Weinberg Julia, der gerade mal 0,1 Hektar hat. Expertise und Reben kommen hier wie dort nicht selten aus Geisenheim.
Obwohl Polen seit 2005 als Weinland anerkannt ist, sind die Grünberger Weine nicht im freien Handel zu haben. Die bürokratischen Hürden sind hoch, sie zu überwinden ist teuer. Für Touristen ist das nicht ohne Vorteil: die Karte der Lebuser Wein- und Honigstraße verzeichnet 26 Winzer, bei denen man einkehren und probieren kann. Die eine oder andere Rebe wächst zudem im Park eines alten Herrenhauses.
Die Weinmacher sind eine internationale Community. Wer Winzer ist, hat viele Freunde – nicht zuletzt in Deutschland, wo Weltklasseweine gedeihen. Wein verbindet. Auch so wächst etwas zusammen.
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Wer sich in Christel Fockens Obhut begibt, sollte aufpassen: die starke Frau mit den kräftigen Händen hat in einem ihrer vielen früheren Leben eine Szenebar in Berlin betrieben. Heute ist sie Vorsitzende des von ihr gegründeten Bundesvereins Privater Historiker. Seit fünfzehn Jahren erkundet sie einen Teil des „Ostwalls“, den 35 Kilometer langen Mittelabschnitt der östlichen Frontlinie, der eigentlich „Festungsfront Oder-Warthe-Bogen“ heißt. Ihre Instruktionen für die Führung sind militärisch knapp: keine Protzautos. Keine Stöckelschuhe. Kein Schnaps. Übeltäter werden von der Führung ausgeschlossen. Warnung: „Sie bringen sich sonst um interessante Erlebnisse!“ Was muss die Frau bei ihren Führungen wohl alles schon erlebt haben? Leichtbekleidete Damen? Betrunkene Heil-Hitler-Gröler?
Am Tag unserer Führung regnet es in Strömen. Vor dem Eingang in den Bunker stehen Männer und Frauen in überaus korrekter Kleidung, in Tarnanzügen und Regencapes, als ginge es in eine Tropfsteinhöhle. Nicht für jeden ist der Besuch ein Abstieg in die Vergangenheit, der Untergrund ist auch bei Radfahrern und Paintball-Spielern beliebt. Im Treppenhaus seilen sich Todesmutige ab. Wir benutzen die völlig intakten Stufen.
In den langen Gängen selbst ist es gleichmäßig kühl temperiert und trocken. Das einzig Martialische sind die Graffiti an den Wänden. Nazi-Grusel ist nicht das Spannende an der gigantischen Anlage aus Bunkern, Panzerwerken und raffinierten Brückenanlagen. Sie ist ein Wahrzeichen deutscher Ingenieurskunst und so kriegsbedeutend wie die französische Maginot-Linie. Also gar nicht. Denn der imponierende Bau hat seine Feuertaufe nie erlebt.
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Nach dem zweiten Weltkrieg wurde der Ostwall zunächst von den Russen und später von der Polnischen Armee genutzt. 1957 war es damit vorbei, der Ostwall war vergessen. Heute ist er eine Attraktion, um die sich Christel Focken verdient gemacht hat. Der Bürgermeister von Meseritz (Międzyrzecz ) hat sie zur „Ehrenbotschafterin“ der Anlage ernannt.
Bunkertourismus also. Und warum nicht? Was soll man auch sonst mit der Anlage machen? Sie ist ein deutsches Erbe, das fest mit der Landschaft verbunden ist, man kann es ihr nicht mehr entreißen. Am besten arrangiert man sich damit.
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