Es schadet gewiss nicht, Despoten verstehen zu lernen – und beim Umarmen kommt man ihnen ja besonders nahe. Es wäre indes auch nicht schlecht, sich vorher seiner selbst zu vergewissern. Dabei hilft der historische Vergleich – manchmal. Und manchmal überhaupt nicht.
Nicht selten verdeckt Erinnerung die Wirklichkeit. Und mindestens so oft dienen historische Analogien der geschichtspolitischen Absicherung politischer Positionen. Hillary Clinton hat Putins Griff nach der Krim mit Hitlers Anspruch auf das Sudetenland 1938 verglichen. Und wir wissen doch, was darauf folgte, oder?
Sicher, die Begründungen ähneln sich, mit denen Hitler Anspruch aufs Sudetenland erhob und Putin nach der Krim greift. Hier wie dort gibt es einen nicht unerheblichen Bevölkerungsanteil, der den Anschluss ans „Vaterland“ wünscht, was zur völkerrechtswidrigen Revision von Staatsgrenzen geradezu einlädt. Und in beiden Fällen liegen wesentliche Ursachen in den unbewältigten Folgen des ersten Weltkriegs und eines Friedensschlusses, der Frieden verhinderte.
Folgt daraus nun die Lehre, man müsse dem Weltmachtaspiranten Putin rechtzeitig militärisch in den Arm fallen, um Schlimmeres zu verhüten, was man 1938 bei Hitler versäumt habe? Selbst Chamberlains Politik des Appeasement war nicht ganz so blauäugig, wie man heute, in Kenntnis des Holocaust, glaubt. Auch Chamberlain hatte aus der Geschichte gelernt: nie wieder Krieg. Nachdem man es in der Julikrise 1914 versäumt hatte, die Eskalation zu verhindern, wollte man 20 Jahre nach dem Ende der großen Katastrophe einen solchen Fehler nicht wiederholen. Das ist nicht ehrenrührig. Und: hinterher ist man immer schlauer.
Das mahnende „Wehret den Anfängen“ eignet sich prächtig zur Erpressung, wie Joschka Fischer wusste, der als Außenminister der rotgrünen Bundesregierung den Deutschen 1999 die Zustimmung zum Eingreifen im Kosovo mit dem Argument abverlangte, man müsse dort ein neues Auschwitz verhindern. Das ist so ziemlich das schärfste Schwert, das man hierzulande zur Verfügung hat, wenn es darum geht, Gefolgschaft zu sichern. Man sollte es auch mal stecken lassen.
Fehlt noch die Frage, wo die Friedensbewegung bleibt. Die Frage ist die Antwort: man darf dort blauäugige Russophilie und ideologischen Antiamerikanismus vermuten. Die Friedensbewegung der 80er Jahre war nunmal moskautreu – und in nicht geringem Maße vom Realsozialismus infiltriert und bezahlt. Aber es spielte auch eine seit dem Dreißigjährigen Krieg tief verwurzelte Urangst mit, die Stillhalten empfahl angesichts eines Szenarios, das Deutschland als den Austragungsort eines atomaren Schlagabtauschs sah. Noch 1991, als es darum ging, Saddam Hussein an der Annexion Kuweits zu hindern, fürchteten viele in Deutschland den Beginn eines Dritten Weltkriegs. Man hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass das Ende des Kalten Kriegs auch ein Ende jenes Friedens bedeutete, der für Westdeutsche bequem war, für die Menschen im Ostblocks allerdings Friedhofsruhe hieß. Mit dem Ende der Sowjetunion wurden begrenzte Konflikte wieder möglich.
Außenminister Steinmeier hat gewiss recht, wenn er die derzeitige Krimkrise als die tiefste Krise seit 1989 bezeichnet. Der Kalte Krieg wirkte wie eine große Käseglocke, unter der die ungelösten Konflikte weiter schwärten. Nicht die EU, das Gleichgewicht des Schreckens verschaffte Europa Frieden. Seither ist die Welt unruhiger geworden, ohne dass es zur finalen Katastrophe kommt, aber die Geschichtsbilder überdauern, die Stillhalten nahelegen.
Und womöglich spielen ja nicht nur Russophilie und Antiamerikanismus ihre Rolle, sondern auch die schlichte Tatsache, dass Russland uns rein räumlich näher liegt als die USA. Deutschland ist zwar lange schon im Westen angekommen, hat aber sehr wohl Interessen, die eher östlich liegen, nicht nur, was die Energieversorgung betrifft. Es ist natürlich von besonderer Pikanterie, dass Deutschlands Sonderweg in Sachen Energiepolitik es stärker an die russischen Gaslieferungen bindet als uns lieb sein kann.
Auch die neuerliche Debatte über die Rolle der Großmächte im Ersten Weltkrieg und die Abkehr von der einseitigen Verurteilung Deutschlands lässt sich geschichtspolitisch vereinnahmen. Einem Deutschland, das sich noch immer als schuldig nicht nur am Zweiten, sondern auch am Ersten Weltkrieg sieht, ist schwer einzureden, dass es nun wieder machtpolitisch Verantwortung übernehmen soll. Schließlich haben wir doch gesehen, wohin Weltmachtambitionen führen, oder?
Dieses Argument, von einigen Verbündeten bereits seit längerem als „Drückebergerei“ kritisiert, soll für das große und wirtschaftlich mächtige Deutschland nun nicht mehr gelten. Doch es wird nicht einfach sein, die Deutschen davon zu überzeugen. Deutschland war nie Weltmacht, und bevor es sich in diese Rolle einüben konnte, war es mit seinen Ambitionen bereits gescheitert. In zwei verlorenen Weltkriegen hat man hierzulande auf machtpolitisches (oder gar geostrategisches) Denken verzichten gelernt. So einfach wird es sich nicht wieder einüben lassen.
Wer mit den Rebellen auf dem Maidanplatz gefiebert hat, wird sich mit dem vorsichtigen Lavieren von EU und USA nicht anfreunden können. Doch was ist die Alternative? Man muss Putin entgegentreten? Ihn hindern? Die Instrumente zeigen? Vielleicht. Wenn man kann. Und solange man nicht seinerseits Geschichtspolitik betreibt.
Warum nicht abwarten, wie sich die Dinge in der Ukraine selbst entwickeln? Die Aufteilung des Landes nach dem Vorbild der Tschechoslowakei ist keine völlig abwegige Option. Und: auch moralisch oder menschenrechtlich begründeteter Interventionismus kann machtpolitisch missbraucht werden. Wo Moral vernebelt, sind Interessen durchschaubar. Weshalb die immer wiederkehrende missbilligende Frage, warum die USA hier, aber nicht auch dort interveniert haben, müssig ist: natürlich muss sich jedes militärische Eingreifen einbinden lassen in das mäßigende Gerüst von Interessenspolitik. Auch „die Guten“ greifen nur dort ein, wo es ihnen nützt. Und manchmal sind sie noch nicht einmal „gut“.
Was tun? Im Unterschied zu vielen gelehrten Ratgebern weiß ich es nicht. Außer: Nerven bewahren und alle Geschichtsbilder bannen, die sich allzusehr in den Vordergrund drängen.
Die Welt, 10. März 2014
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