„Mögest du in interessanten Zeiten leben“, lautet ein chinesischer Wunsch, den man auch als Verwünschung lesen kann: Denn interessant sind Zeiten, in denen sich etwas bewegt, die gewohnte Ordnung durcheinander gerät, manchmal krisenhaft, manchmal katastrophal. In denen sich ein Fenster öffnet, durch das der Wind bläst. Das kann kalt werden. Aber kann es nicht auch erfrischend sein?
So kann man das Jahr 2011 betrachten – mit gemischten Gefühlen also. Über das Wetter kann man sich dabei am wenigsten beklagen, wenn man vom verregneten Sommer absieht: Nach einem langen, harten Winter kam der Frühling mit Macht und Sonne, der Herbst hatte einen langen Abgang, strahlend und warm. Bei den deutschen Winzern gilt 2011 jetzt schon als ein Spitzenjahr.
Halten wir uns also an den Wein. Denn alles andere ist ungewiss: ob 2011 als Jahr der Demokratie in die Geschichte eingeht. Als Jahr Europas. Als Jahr der Energiewende. Hofft der Optimist. Oder als Jahr der engstirnigen Sorte des Islamismus, des Scheiterns Europas, der Krise von Politik und Demokratie. Fürchtet der Pessimist.
Denn schon der Blick auf das, was vom arabischen Frühling übriggeblieben ist, relativiert manche Hoffnung. Nach all den teils blutigen Aufständen gegen diktatorische Willkür in Tunesien, Ägypten, Libyen, wird dort nicht das Reich der Freiheit anbrechen, wie viele im Westen geglaubt haben. Die freien Wahlen in Ägypten haben islamistische Kräfte an die Macht gebracht, in Tunesien sieht es ähnlich aus. Und in Afghanistan kehren die Taliban zurück.
Immerhin leidet die Welt heute unter drei Diktatoren weniger. Sagt der Optimist.
Stimmt, seufzt sein Antipode, aber wir wissen nicht, was schlimmer ist. Ein Operettendiktator oder vorsintflutliche Fanatiker.
Vielleicht macht man sich hierzulande ja Illusionen über das, was andere Völker wünschen und wollen. Und vielleicht macht man sich ebenso viele Illusionen über die eigenen Wertvorstellungen. Denn auch Deutschland hat sich nicht gerade als Vorkämpfer für Demokratie und Menschenrechte profiliert. Während der Libyen-Intervention der Bündnispartner etwa war man mit der eigenen Befindlichkeit beschäftigt und nicht mit Wohl und Wehe der Demokratie andernorts. Wohl und Wehe anderer Völker und Länder waren uns vielmehr, um es deutlich zu sagen, ganz und gar schnuppe. Wir hatten Angst. German Angst. Vor einem havarierten Atommeiler in Japan.
Ja und, fragt der Optimist. Manchmal ist Angst ein guter Ratgeber. Und ohne die japanische Atomkatastrophe hätte die Energiewende noch ewig auf sich warten lassen, also ist doch was Gutes dabei herausgekommen?
Vielleicht, sagt der Pessimist. Wenn wir denn wüssten, wie das gehen soll, die Wende zu all den alternativen Energien, von denen wir längst nicht genug haben. Mal abgesehen von den Nebenwirkungen, über die wir nichts wissen. Und im übrigen, von wegen Angst als Ratgeber: wir beziehen Atomstrom heutzutage aus Tschechien und Frankreich. Wieso glauben wir eigentlich, dass die Reaktoren dort sicherer sind als unsere?
Das ist nur vorübergehend, sagt der Optimist, beschwichtigend. Wichtig ist doch, dass der erste Schritt getan ist, oder?
Angst macht egoistisch, sagt der Pessimist. Schließlich gab es in Japan keine Atomkatastrophe, also ein von Menschen verursachtes und verschuldetes Ereignis, sondern eine Naturkatastrophe. Es war ein furchtbares Erdbeben, dem Tausende von Menschen zum Opfer fielen. Und das Atomkraftwerk von Fukushima havarierte in Folge eines mächtigen Tsunami. Doch in Deutschland fürchtete man nicht etwa um Japan und die Japaner. Man bangte ausschließlich um die eigene Sicherheit.
Na und? Der Optimist. Angst macht vorsichtig. Und mit Sachen, die mit „Atom“ anfangen, haben wir keine guten Erfahrungen. Sicher, der Kalte Krieg ist seit zwanzig Jahren vorbei – aber wir erinnern uns noch daran, wie damals jeder kleine Funke den Weltenbrand hätte auslösen können. Der atomare Schlagabtausch hätte sich über unseren Köpfen abgespielt. Und das ist uns eingebrannt. Atomkraft, nein danke.
Gut, sagt der Pessimist. Jede Nation hat so ihre Traumata. Aber wo bleibt die Vernunft bei soviel Gefühl? War das wirklich nötig, dass die Bundeskanzlerin der öffentlichen Panik und dem gefühlten Volkswillen nachgab und ohne Rücksicht auf Gesetzeslage deutsche Atomkraftwerke abschalten ließ, als ob sie durch einen Tsunami in Japan weniger sicher geworden wären? Nur, weil Landtagswahlen in Baden-Württemberg anstanden, die uns im übrigen keinen Wahlsieg der CDU, sondern den ersten grünen Ministerpräsidenten beschert haben? War das wirklich späte Einsicht? Oder schlicht und ergreifend Opportunismus?
Der Optimist findet, der Zweck habe in diesem Fall die Mittel geheiligt.
Der Pessimist fürchtet um Rechts- und Vertragssicherheit, um Regel- und Verfahrenstreue, um die Geschäftsgrundlage auch der wirtschaftlichen Stärke des Landes. Das unterscheidet uns von Ländern, in denen korrupte Eliten das Sagen haben. Das macht uns stark.
Sowas Seelenloses, sowas Staubtrockenes wie Regeln?
Genau das.
2011 war das Jahr der einsamen Entscheidungen einer Kanzlerin, die es mit Recht und Ordnung nicht ganz so genau zu nehmen schien. Dem Ansehen von Politik und Politikern hat das nicht gut getan, wie die Affäre um Verteidigungsminister zu Guttenberg zeigte. Als ob Plagiat, also Betrug, ein Kavaliersdelikt sei, dekretierte die Kanzlerin, sie habe ihn als Minister, nicht als Doktoranden eingestellt. Auf die Ehrlichkeit eines Regierungsmitglieds kommt es also nicht an? Eine erstaunliche Botschaft.
Was ist das für ein Land, in dem die Kanzlerin einsame Entscheidungen für „alternativlos“ erklärt? In einer Demokratie gibt es das nicht, für alles findet sich eine Alternative, womit nichts über die Weisheit dieses oder jenes Entschlusses gesagt ist. Zu Recht ist „alternativlos“ das Unwort des Jahres 2011 geworden - in einer Demokratie kann nicht par ordre de Mutti regiert werden.
Der Pessimist erklärt deshalb 2011 nicht zum Jahr der Demokratie, sondern zum Jahr ihrer Krise. Der Kampf um den Euro und die Debatte über Europa lassen postdemokratische Zustände aufscheinen.
Das ist doch übertrieben. Der Optimist.
Das ist längst eingetreten. Der Pessimist. Wir sind in Deutschland dabei, die Souveränität des Parlaments und der Nation preiszugeben. Nicht, um sie einem höheren und edleren Zweck zum Opfer zu bringen, nennen wir ihn Europa. Sondern aus Notstand, der Entscheidungsdruck erzeugt.
Und? Muss nicht wirklich endlich was geschehen? Hat die Kanzlerin nicht eh schon zu lange gezögert? Der Optimist sieht Angela Merkel schon mal als Euroretterin fürs Geschichtsbuch vor.
Gemach, sagt der Pessimist. Das Budgetrecht ist das Herzstück der Demokratie. Die Bürger haben es in die Hände frei gewählter Abgeordneter gelegt, darüber zu entscheiden, was mit ihren Steuern passiert, sie haben einen Anspruch darauf, dass mit diesem Geld auch pfleglich umgegangen wird. Sie haben das Parlament nicht dazu legitimiert, diese Entscheidungshoheit aus der Hand zu geben. Das aber geschieht im Zuge der Maßnahmen zur Rettung fallierender Staaten, erst schleichend, dann zum Galopp ansetzend. Und wird womöglich noch nicht einmal helfen.
Aber Europa! Ruft der Optimist. Wir müssen Europa retten! Die Kanzlerin vorneweg! Mit Geld und Schuldenbremse!
Ach, Europa, seufzt der Pessimist. Europa ist nicht das Problem.
Das Problem ist, dass nicht nur in Griechenland Geld ausgegeben wurde, das nicht da war. In Deutschland sieht es nicht anders aus. Trotz üppiger Steuereinnahmen hat sich das Land von Jahr zu Jahr mehr Geld geliehen, heute sitzen wir auf gut 2 Billionen Euro Staatsschulden. Auch hierzulande wurde den Bürgern ein Paradies vorgegaukelt, das auf Pump finanziert war. Wenn Deutschland sich an das hielte, was Kanzlerin Merkel von anderen europäischen Ländern verlangt, gäbe es auch bei uns Heulen und Zähneklappern.
Die Staatsschuldenkrise hat manche soziale Errungenschaft als Kulisse entlarvt. Gefühlte Notstände haben demokratische Institutionen geschwächt. Dafür sind der Klimawandel und andere Katastrophen ausgeblieben.
Der Optimist schweigt.
Hast du gehört? Fragt der Pessimist.
Der Klimawandel bleibt aus? Der Optimist, ungläubig.
Naja, nicht, wenn man alle Naselang klimaschädliche Klimakonferenzen veranstaltet, die weder Klarheit noch Entscheidungen bringen.
Also was denn nun?
Die Wahrheit ist: wir wissen es nicht. Vielleicht gibt es einen – vielleicht auch nicht. Vielleicht ist er menschengemacht – vielleicht auch nicht. Vielleicht kann man was gegen ihn tun – aber es sieht nicht danach aus. Es bleibt wie das Wetter: uneindeutig.
Und das soll eine gute Botschaft sein?
Es ist jedenfalls keine schlechte. Nur: Angela Merkel wird nicht als Klimaretterin ins Geschichtsbuch eingehen, solange nicht klar ist, was genau und wie gerettet werden soll.
Als was denn dann?
Das wird das Jahr 2012 zeigen.
Gut. Und wo bleibt nun das Positive?
Ganz einfach: Nur, wer Krisen als das Ende und nicht als einen Anfang begreift, wird 2011 für ein schlechtes Jahr halten. Aber das war es nicht. Nein: Es war interessant.
Gedanken zur Zeit, NDR, 18. Dezember 2011
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