100 Tage Große Koalition sind eigentlich keine Bilanz wert. Schließlich ist bislang alles so verlaufen, wie man es sich hat denken können. Die Kanzlerin hält auf bewährte Weise still, Sigmar Gabriel macht geübt den starken Mann und Andrea Nahles arbeitet an ihrer Unsterblichkeit. Mindestlohn, Rente mit 63, Energiewende: alles wie beschlossen und verkündet. Bedenken und andere störende Vorbehalte verfliegen im warmen Wind der Zustimmung, die der Regierung aus dem Volke zuströmt: was sozial aussieht, finden alle gut. Auch wenn es sozial nicht ist.
Angesichts dessen kommt sich furchtbar altmodisch vor, wer da noch an den Sinn der repräsentativen Demokratie erinnert, in der es nämlich nicht darauf ankommt, den Willen des Volkes zu exekutieren, sondern ihn sozusagen zu veredeln im Sinne des Interesses der Allgemeinheit. Doch von solchen Ideen ist die lobby- und klientelorientierte Parteiendemokratie so weit entfernt wie nie.
Die Rente mit 63 betrifft zwar nur eine Minderheit, aber das Signal ist gegeben: die sanfte Erhöhung des Renteneintrittsalters steht wieder zur Disposition, als ob nicht alle Welt wüsste, dass zunehmendes Lebensalter und abnehmende Geburtenzahl die deutsche Rentenformel längst obsolet gemacht haben. Und als ob nicht gerade erst eine Untersuchung bestätigt hat, dass der von lebenslanger harter Arbeit entkräftete Frührentner eine Ausnahmeerscheinung ist unter all den bis in die 80er energiegeladenen Senioren.
Auch die Einführung eines Mindestlohns ist nicht das, was sie zu sein behauptet: sozial. Zur Freude der besitzstandswahrenden Gewerkschaften drängt er die Jungen und die Unterqualifizierten aus dem Markt. Das ist den westdeutschen Arbeitervertretern ja bereits damals nach der Wende prima gelungen: gleicher Lohn für alle hat den Aufbruchswilligen im Osten die einzige Chance genommen, die sie hatten: sich mit niedrigen Löhnen einen Startvorteil zu verschaffen. Wie das geht, kann man in Polen sehen. Stattdessen legte man die neuen Bundesländer an den staatlichen Tropf.
Im Griff mächtiger Lobbies ist auch Sigmar Gabriel eingeknickt, der sich zunächst kühn ans Heiligtum der Energiewende wagte. In der Tat ist das Gesetz zur Förderung der erneuerbaren Energien, da man es leider nicht ersatzlos streichen kann, reformbedürftig. Es hat sich zu einem klassischen Fall für alle entwickelt, die die negativen Folgen staatlicher Subventionen studieren wollen: falsche Anreize führen mittlerweile zu einer gigantischen Geldvernichtung, während die versprochene Energiewende selbst ausbleibt. Energie wird weder sicherer noch erschwinglicher. Das EEG begünstigt Eigenheimbesitzer und Parzelleneigentümer. Man kann das auch Umverteilung von unten nach oben nennen.
Dem energiebedürftigen Industriestandort Deutschland schadet das. Und damit auch der alten Kernklientel der SPD, die übrigens erheblich unter der sogenannten kalten Progression leidet, einer außergesetzlichen Bereicherung des Staates auf Kosten der unteren Mittelschicht, wo jede Lohn- oder Gehaltserhöhung durch Aufrücken in der Steuerprogressionsleiter verloren geht. Das trifft gerade die Facharbeiter.
Die SPD scheint bemüht, alles abzuwickeln, was man ihr bislang zugutehielt. Nein, die Agenda 2010 ist nicht die alleinige Mutter des deutschen Wirtschaftswunders. Aber sie war ein wichtiger Teil, von dem nicht mehr viel übriggeblieben ist. Und so macht sich selbst bei Zynikern die Sehnsucht nach alten Haudegen wie Gerhard Schröder und Franz Müntefering breit, die das in jedem Interview selbstzufrieden auskosten.
Gibt es also nichts Positives zu berichten? Doch! Man muss sich nur ein wenig Mühe geben.
Da ist zum ersten die erfreuliche Tatsache, dass die Kanzlerin wieder ohne Krücken gehen kann. Und zum zweiten: dass Deutschland endlich wieder einen Außenminister hat, der diesen Namen verdient. Und über die Fallstricke des Gesetzes über erneuerbare Energien darf wenigstens geredet werden. Insofern gibt es Hoffnung: dass die SPD wieder ihre Kernklientel entdeckt – jene Arbeiterschaft, der daran liegt, dass Deutschland ein Industriestandort bleibt. Und wo man unter Solidarität nicht versteht, dass dieses Land sich dem Wirtschaftsniveau Griechenlands annähert, sondern dass es, im Gegenteil, stark genug bleibt, um die Hilfe auch leisten zu können, die es anderen so gern anbietet.
23. März 2014, NDR Info, Die Meinung
Sonntag, 23. März 2014
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