Immer wieder verblüffend anzuschauen, wie sich die meinungshabende
Klasse in eine zutiefst beleidigte Kaste verwandelt, wenn es einmal nicht so
läuft, wie sie es für richtig hält. Viele öffentliche Reaktionen auf das
Brexit-Votum der Briten waren, um es höflich zu sagen, verblüffend. Da hieß es,
die Dummen und Minderbemittelten, die noch nicht ausreichend Belehrten hätten
für den Auszug Großbritanniens aus der EU gestimmt, blöde Landeier, dumpfe Alte,
verhockte Asoziale. Da wurde daran gezweifelt, dass Demokratie eine gute Idee sei,
über ein Wahlverbot für Ältere nachgedacht oder die Notwendigkeit von
Abstimmungen über wichtige Angelegenheiten grundsätzlich infragegestellt.
Man
fühlte sich glatt ins 18. Jahrhundert versetzt, als manch kluger Kopf mit
ähnlichen Argumenten fürs Dreiklassenwahlrecht optierte.
Menschen, die sich normalerweise hingebungsvoll gegen Diskriminierung
und Generalverdacht stemmen, finden nichts dabei, alte weiße Männer (und Frauen)
zu diffamieren und ganze Generationen jenseits der 50 mit einem Generalverdacht
zu belegen: dass sie nämlich, den Sarg im altersschwachen Auge, nicht mehr an
die Zukunft dächten, sondern ihr letzten Erdentage nach dem Motto „nach mir die
Sintflut“ verbrächten.
Lassen wir mal beiseite, dass solche Argumente auch von
weißen alten Männern geäußert werden, die sich in den letzten Jahren die
allergrößte Mühe gegeben haben, künftigen Generationen einen gewaltigen
Schuldenberg zu hinterlassen. Nicht etwa im Sinne von Zukunftsinvestitionen,
sondern durchaus wegen recht gegenwärtiger Interessen: um eine Landtagswahl zu
gewinnen (Energie“wende“) oder überhaupt wiedergewählt zu werden (kostspielige Wahlgeschenke).
Sie dürfen im übrigen darauf setzen, für gegenwärtige Fehlentscheidungen nicht
geradestehen zu müssen, aus jenem Grund, den sie den anderen vorhalten: wenn
sich die Folgen bemerkbar machen, dürften sie schon ins Grab gesunken sein. Dass
ausgerechnet diejenigen sich über die Zukunft der Jungen grämen, denen durchaus
nicht daran gelegen, dass Eltern höchstpersönlich für die Zukunft ihrer Kinder
und Kindeskinder vorsorgen, ist besonders grotesk. Kaum etwas ist bei der
„Gerechtigkeit dank Umverteilung“-Lobby verpönter als das Erben und Vererben.
Zeugt die Schwärmerei für die „weltoffene“ Jugend womöglich gar
von altersspezifischer Vergesslichkeit derjenigen, die sie zur allfälligenRebellion gegen „die Alten“ auffordern? Wir
wollen ihnen nicht unterstellen müssen, dass sie an die Neuauflage der
chinesischen Kulturrevolution denken, diesmal in Europa, also: Schlagt sie tot,
die Alten, die nicht an die von oben verordnete Zukunft glauben.
Klar, es gibt junge Leute, die sich schon auf der Schule ausrechnen,
wie sie einmal eine gute Altersversorgung erzielen. Eine erkleckliche Zahl
Wohlstandsverwöhnter aber denkt nicht daran, sich um ihre Zukunft (oder gar die
anderer) Sorgen zu machen, sie glauben in der Gegenwart besseres zu tun zu
haben als zu Abstimmungen über den Brexit zu gehen. Ihre „Weltoffenheit“ beruht
überdies nicht selten auf einem Mangel an schlechten Erfahrungen – oder,
freundlicher gesagt, auf einer hinreißenden, lebensfrohen Naivität, die man
leider mit dem Älterwerden verliert.
Was das politische Urteilsvermögen von Menschen unter 30 und
insbesondere unter 20 betrifft, so hat die Geschichte ein paar unangenehme
Lehren parat. Gerade den alten 68ern sollte noch präsent sein, wie sie als
junge Weltoffene Mao und Ho-Tschi-Minh, Stalin und Pol Pot huldigten. Überall
auf der Welt, zu allen Zeiten und Kulturen, sind es junge Männer, die eine
Gesellschaft braucht, um blutige Kriege und Bürgerkriege zu führen. Eine älter
werdende Gesellschaft ist schon deshalb eine friedlichere und, wer weiß,
womöglich sogar dank Erfahrung eine weisere.
Nun glaube ich allerdings keineswegs, dass direkte Demokratie
das Maß aller Dinge ist. Die Idee der Repräsentation ist eine gute Sache,
derzufolge Politiker als Stellvertreter die individuellen Interessen ihrer
Wähler mit dem Allgemeinwohl abgleichen. Die deutsche Parteiendemokratie mit
ihrem Listenwahlrecht, das dafür sorgt, dass Abgeordnete vor allem ihrer Partei
und nicht ihren Wählern folgen, ist indes nicht im Sinne des Erfinders. Man
denke an die Abstimmung über den Eurorettungsschirm 2011, als man per
Fraktionsdisziplin Stellungnahmen Abtrünniger unterdrücken wollte. Das war das
Ende der FDP und die Geburtsstunde der AfD.
Die Grünen waren übrigens nur so lange für Plebiszite, solange
sie glaubten, damit die in ordnungsgemäßen Wahlen nicht erreichte Legitimation
sozusagen durch die Hintertür nachholen zu können. Heute, wo sich das Volk
derart widerspenstig zeigt, nimmt man schon mal von seinen basisdemokratischen
Prinzipien Abstand.
Überhaupt, die alten Parolen und „Prinzipien“: viele, die
früher Widerstand für Pflicht hielten und der Staatsmacht zutiefst misstrauen,
möchten heute Kritik an der Regierung am liebsten verbieten lassen. Und wo man früher
„Small is beautiful“ gerufen hat, preist man heute das Großprojekt EU (gern mit
Europa in eins gesetzt) als zukunftsträchtig und misstraut dem Nationalstaat, der
doch immerhin eine überschaubare Größe ist. Warum? Weil die EU Frieden
garantiere, während der Nationalstaat blutigen
Nationalismus erzeuge?
Der Kalte Krieg hat Europa nach 1945 Frieden beschert, nicht
die EU. Als diese eiserne Klammer fiel, kämpften die vom Kommunismus befreiten
Völker - wofür? Für die kleinste, die nationale Einheit, die mehr demokratische
Kontrolle verspricht als sie in der EU verwirklicht ist.
Eins überrascht mich ganz besonders. Dass Deutschland sich
verändere – etwa durch Zuwanderung – wird ja oft applaudierend begrüßt bei den Progressiven
und Weltoffenen an der deutschen Meinungsfront. Von der Chance, die das
Brexit-Votum der Briten bietet, ist dort jedoch kaum die Rede: es ist die
Chance, Europa zu neuen Ufern zu führen, die weder EU noch Eurozone heißen,
jene am Reißbrett entworfenen Konstrukte, die längst gescheitert sind.
Der Brexit könnte ein heilsamer Anstoß sein. Dafür hat das
Volk der Dummen, Unbelehrten, Alten und Verhockten gesorgt.
Ins Offene, liebe Europafreunde! Es muss ja nicht immer gleich das Weltoffene
sein.
Zuerst bei wiwo online, 5. 7. 2016
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