Ich fürchte den Herbst oder jedenfalls den Zeitpunkt, an dem wir überschüttet werden mit Büchern à la „Mein Leben mit Corona“. Jedenfalls die, in denen Autoren die Freuden des einfachen Lebens entdecken: Wie schön es ist, abends nicht ausgehen zu müssen! Wie wohl es tut, stattdessen ein gutes Buch zu lesen! Und wieder kochen zu lernen! Selbstgenügsam zu sein, sich wieder auf sich und die kleinen Dinge zu besinnen! Das neue Normal! Will man soetwas wirklich lesen? Ich nicht.
Die Zeit des angeordneten Stillstandes lehrt doch womöglich etwas ganz Anderes: dass sich unter der vielfältigbuntdiversen Oberfläche die ganze Zeit das alte Normal versteckt hielt. Das, was man zu Zeiten, als man sich noch nicht aussuchen konnte, welches Geschlecht man hat, die „Natur des Menschen“ nannte. Und die zeigt Züge in der Krise, die man sympathisch finden kann oder auch nicht, die aber tief verwurzelt zu sein scheinen.
Angesichts einer Gefahr schließen Menschen sich zusammen, die einander die Nächsten sind. Familien, funktionierende Nachbarschaften. Sie ziehen die Brücken hoch und schließen die Tore. Sie schotten sich ab gegen die Gefahr, die da von außen und, ja, wie so ein Virus: durch andere Menschen droht. Sie tun das, was vor Jahrzehnten noch völlig üblich war, als sich keine Supermärkte in der Nähe befanden, die von morgens bis abends offen hatten: sie legen Vorräte an und bemühen sich ansonsten um Selbstversorgung. Der Welthandel wird im Übrigen nicht zum Erliegen kommen, wenn auch Unternehmen wieder lernen, Vorrat zu halten, statt allein auf Lieferketten zu setzen.
Nicht, dass ich das Horten von Klopapier verstünde, aber man sollte nicht Hamstern nennen, was einer ursprünglichen Vernunft entspricht. Die Welt schrumpft wieder auf ein überschaubares Maß, und siehe da: Nicht nur nationale Grenzen erscheinen wieder erstrebenswert, auch regional wird ausgegrenzt: Selbst in so gering besiedelten Landstrichen wie in Vorpommern nahe der polnischen Grenze verwehrte man Menschen mit Zweitwohnsitz den Aufenthalt.
Die feindliche Umwelt
Kann sein, dass es manch einen demütig macht, zu erfahren, dass all das Große, was man sich vorgenommen und angemaßt hat, nichts bedeutet vor dem Angriff eines Feindes, der es aufs Leben abgesehen zu haben scheint, ohne dass der Mensch eine Waffe zur Gegenwehr besitzt.
Wir retten das Klima, wir schützen die Natur? Welch Hybris. In Gestalt eines Virus erscheint die Natur als das, was sie immer schon war: als feindliche Umwelt, derer sich der nackte Mensch zu erwehren versucht. An die Güte der Natur kann nur glauben, wem es, wie die westliche Zivilisation, gelungen ist, sich seit Jahrhunderten erfolgreich gegen sie zu verbarrikadieren, wer Feuersbrünste und Überschwemmungen zu verhindern und zu bekämpfen gelernt hat und wer fernab aktiver Vulkane lebt. Doch die Natur hat keine Moral, sie denkt nicht daran, gut oder böse zu sein und würde – könnte sie es – all jene belächeln, die so größenwahnsinnig sind, zu glauben, dass sie die Macht hätten, sie zu schützen oder gar zu retten.
Also doch eine Lehre aus der Krise, die man ziehen könnte? Ach, ich habe keine pädagogischen Absichten, ich denke nur, dass es sinnvoll ist, sich ab und an mal klarzumachen, dass wir im Ernstfall weder das Klima noch die Welt retten können und womöglich noch nicht einmal uns selbst. Und dass es im Übrigen viele Menschen gibt, die kein neues Normal brauchen, weil sie im alten Normal leben. In der Krise wird sichtbar, wen und was wir wirklich brauchen: eher keine Gendersternchen oder heiße Debatten um Toiletten für ein drittes Geschlecht, keine politisch korrekte Sprachsäuberung oder Kampagnen gegen alte weiße Männer, sondern Handwerker und Landwirte, Postboten und LKW-Fahrer, Verkäuferinnen, Apotheker, Ärzte und Pfleger. Normale Menschen, eben.
Romane über „Mein Leben mit Corona“ werde ich ganz bestimmt nicht lesen.
Zuerst auf NDR Info, 3. Mai 2020
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