Wenigstens auf einem Schiff ist der Mann noch Mann – dachten wir, bis zum unseligen Kapitän der Costa Concordia, diesem Milchgesicht, eine Landratte, wie sie im Buche steht. Ratte? Naja - es sollen ja die Ratten sein, die das sinkende Schiff als erste verlassen. Und der Kapitän, der als letzter geht. Alles eine Frage der Ehre, des Seerechts und, früher jedenfalls, des Eigeninteresses an der Sicherung der Ladung.
Tempi passati. Francesco Schettino, der Kapitän des havarierten Kreuzfahrtschiffes, nicht gerade die Inkarnation eines Seebären, hatte weder mit der Ehre noch mit seiner Ladung viel am Hut und flüchtete, statt standzuhalten. Als Kapitän der Herzen hätte er vielleicht noch getaugt – immerhin hat der Mann Gefühl gezeigt! – , aber nicht als Exemplar jener stolzen Lenker, die auf stürmischer See Ruhe bewahren und die Stellung halten, um die ihnen Anvertrauten sicher in den nächsten Hafen zu leiten.
Der Mann hat seinen Beruf verfehlt. Oder findet vielleicht der Beruf keine Männer mehr? Schaut man sich die derzeit frisch aufgeflammte Geschlechterdebatte an, so scheint Schettino alles zu verkörpern, was Frauen am neuen Mann bemängeln. Der riecht nicht mehr nach Tang und See, was ja seine Vorzüge hat; ist statt dessen reinlich und sieht nett aus. Doch hinter der ansprechenden Fassade lauert der Schluffi, der ziellose und entscheidungsunfähige, sich selbstquälerisch immer nur hinterfragende Weichspüler, der Mädchenmusik hört und „ich möchte lieber nicht“ sagt, wenn’s zum Schwure kommt. Der für nichts und niemanden Verantwortung übernimmt, noch nicht einmal für sich selbst. Weil er eine unglückliche Kindheit hatte und schlechte Erfahrungen gemacht hat. Mit so jemandem ist man nicht gern auf hoher See. Oder in einer Lebensbindung.
Mal abgesehen von der interessanten Frage, ob die Frauen daran womöglich mit schuld sind: War das tatsächlich mal anders? Zumal angesichts der Tatsache, dass Kindheit früher schrecklicher war, als wir es uns heute vorstellen können?
Muss wohl. Die Legende jedenfalls sagt ja. Die Legende behauptet sogar, es sei die Seefahrt, die den Mann zum Manne gemacht habe. Angesichts der ewig webenden Penelope fragt man sich zwar, ob das nicht auch eine Art von Beziehungsflucht war. Und von Odysseus’ Weggefährten wissen wir schließlich, dass nicht die Seefahrt, sondern Circe sie optimierte – als sie die Männer in Schweine verwandelte. Jedenfalls sollen sie nach diesem Abenteuer schöner und schlauer gewesen sein als zuvor. Doch wo Circe nicht zur Verfügung stand, half in der Tat ein Schiff, um die Männer zu verbessern. Und wenn es nur ein schlichtes Langboot war, auf dem 20 oder 30 Männer Platz hatten. Die Wikinger bewiesen vor tausend Jahren, dass man mit solchen Nussschalen die Welt erobern konnte.
Die Wikinger, Nordmänner aus Schweden, Dänemark, oder Norwegen, die zu Zeiten lebten, als die Geburtenrate hoch und Grönland grün war, hatten ein Problem, das ganz Europa plagte: junge Männer bzw. zu viele davon. Was an jungen Männern störte? Dass sie nichts zu tun hatten, sofern sie weder erben, heiraten oder zum Klerus gehen konnten, und aus lauter Frustration marodierend durch die Lande zogen.
Im fränkischen Mittelalter kanalisierte man die überschießende Kraft der „Überflüssigen“ in den Ritterheeren, eine zivilisatorische Großtat sondergleichen, übrigens. Die komplizierten Manöver, die man bei Reiterturnieren vorführte, erforderten unermüdliche Übung, was der Gesellschaft die üblen Folgen überschüssiger Energie ersparte, schufen Gruppengefühl, boten den besonders Geschickten Lebensunterhalt und waren die ökonomische Basis für einen ansehnlichen Tross, von Gauklern bis zu Marktfrauen.
Bei den Nordmännern ging es schlichter zu. Die überschüssigen Jungmänner bestiegen ein Boot, das, selbst wenn es mit einem Drachenkopf geschmückt war, überaus primitiv war. Ein Langboot verlangte seinen Insassen ein Höchstmaß an Entbehrungen und unendlich viel Disziplin ab: Zusammenarbeit, Durchhaltevermögen und ein Gefühl der Verantwortung fürs Ganze, was schon mit dem gleichmäßigen Ruderschlag beginnt. Wer das nicht nur überleben wollte, um an fernen Gestanden ausgehungert zu plündern, sondern, wie es den Nordmännern gelang, um Stützpunkte zu errichten und Handel zu treiben, brauchte mehr als reine Kraft und schiere Abenteuerlust. Zum organisierten und schlagkräftigen Verband wurde die Männerhorde auf hoher See.
Den Rest kennt jeder, der die Romane um Horatio Hornblower gelesen hat. Die christliche Seefahrt vereinte gnadenlosen Drill und unfassbare Brutalität mit hocheffizienter Organisation und absoluter Verlässlichkeit. Der Schauergeschichten gibt es in der christlichen Seefahrt genug: erbarmungslose Offiziere, entmenschte Mannschaft. Unterdrückung hier, Meuterei dort. Klar: Abstimmen und Ausdiskutieren geht nicht in existentieller Lage. Doch Befehl und Gehorsam setzen nicht nur Unterdrückung, sondern auch Verantwortung und Vertrauen voraus. Und wenn es um die Existenz ging, waren eine klare Befehlslage und eingeübte Routine gefragt.
Und deshalb geht der Kapitän als letzter von Bord – nicht nur der Ehre oder einer kostbaren Ladung wegen. Sondern weil er ohne das Vertrauen seiner Mannschaft nicht überlebt. Und das muss er sich verdienen.
Die Nutzanwendung für heute? Tja. Da stocken wir schon. Im Zeitalter von Einparkhilfen und Navigation für jedermann kommt einem das seemännisch-militärische Getue an Bord eher seltsam vor. Was brauch ich Vertrauen in einen weißgekleideten Tressenträger, der dem Captain’s Dinner vorsteht, wenn so ein riesiger Pott nur noch von feinster Technik abhängt, statt von Segeln, Wind, Wetter und dem lieben Gott? Umgekehrt gefragt: gibt es keinen Bedarf mehr, was den disziplinierten und verantwortungsvollen Mann betrifft (außer vielleicht beim Militär)?
Männer sind, rein zahlenmäßig, selten geworden, man behält sie also lieber im sicheren Zuhause. Doch nicht nur deshalb ist die Zeit der Helden vorbei. Wir leben in der friedlichsten aller Welten. Alles um uns herum ist auf Risikovermeidung optimiert. Entscheidungen existentieller Art sind nur noch selten nötig. Krieg und gefährliche Tiere leben weit weg. Kurz: der Mensch verlernt, was er nicht beständig übt. Soll man das bedauern?
Eigentlich nicht. Manchmal schon. Der havarierte Atommeiler von Fukushima zeigt, dass auch ausgefeilte Technik nicht vor Verwundbarkeit den Elementen gegenüber schützt. Und so einen riesigen Pott wie die Costa Concordia kriegt ein bloßer Felsbrocken in Küstennähe klein. Es gibt noch wirkliche Gefahren in dieser Welt. Und Menschen, die Verantwortung übernehmen, werden noch immer gebraucht. Es müssen ja nicht nur Männer darunter sein.
Die Welt, 2. 2. 2012
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AntwortenLöschendanke für Ihren Hinweis auf Hornblower! Der sollte in keinem Kinderzimmer fehlen, ha - hm!
Herzliche Grüße, Burkhart Berthold