Facebook ist was für jugendliche Partygänger, Massenkulturverwahrloste und einsame Greise? Und eigentlich nur erfunden, um alle auszuspionieren – als Mensch, potentieller Arbeitnehmer und, vor allem, als Konsument? Mag sein. Muss aber nicht. Niemand wird dazu gezwungen, die Wahrheit über alkoholische Erleuchtung und wilde Disconächte zu offenbaren, das Recht am eigenen Bild gilt auch für Facebook und gegen die phantasievolle Weiterverwendung seiner Daten kann man etwas tun. Also.
Natürlich darf jeder Facebook für albern und völlig unnötig halten. Dem Rest der Welt macht Facebook Spaß, altersunabhängig. Mir auch. Facebook ist wie der sprichwörtliche Beton, als er in den 60er Jahren Mode wurde – auf den ersten Blick irgendwie daneben. Aber es kommt eben ganz drauf an, was man draus macht.
Die erste Regel: man suche sich die richtigen Freunde. Und schon wird man jeden Morgen mit Fundstücken aus der internationalen Presse versorgt, hat Teil am erlesenen Musikgeschmack der Befreundeten und an ihren Fotokünsten und Reisezielen. Sehr empfehlenswert: Freischaffende Literaten, die sich gern ablenken lassen vom mühseligen Schreibgeschäft durch kleine Fingerübungen unter Freunden.
Woraus die zweite Regel folgt: wer unterhaltsam ist, findet Gleichgesinnte. Lustige Tierfilme posten allein genügt nicht, denn Facebook ist nichts für Menschen mit Schreib- und Leseschwäche. Nur Kunstfertigkeit beim Verfassen treffender Sottisen gefällt. Es gibt Menschen, die machen daraus eine Literaturgattung.
Die dritte Regel: Okay. Es muss nicht immer Literatur sein. Wer sich beliebt machen will, postet eben Katzenbilder.
Das hilft natürlich alles nicht gänzlich gegen die Zumutungen, die Facebook bietet. Schlimmer als die Selbstentblößung durch Party-Fotos ist höchstens der Blödsinn, den auch sonst ganz nette Menschen absondern, wenn sie nichts besseres zu tun haben. Doch wer Facebook den Abschied gibt, um statt dessen endlich wieder konzentriert an Buch, Essay oder Kurzgeschichte arbeiten zu können, verliert einen stets solidarischen Freundeskreis, der auf ein gepostetes „gähnt“ mit „ich finde mich auch langweilig“ antwortet. Verliert den Draht zu den lustigen Tierfilmen. Den neuesten Musikvideos. Den Ferienfotos ansonsten wildfremder iPhone-Träger. Bekommt nicht mehr mit, welche tollen Rezensionen Kollege X für seinen Thriller Y auf der Literaturplattform XY eingeheimst hat. Verpasst die vielen mitleiderregenden Fotos ausgesetzter Straßenhunde, die um ein neues Zuhause betteln.
Vor allem aber verspielt er die Chance, ungeahnte Einblicke in die menschliche Psyche zu nehmen. Facebook ist die ideale Sitzlandschaft für soziologische Studien. Es ist schließlich ein „Social Network“, und insbesondere in Deutschland versteht man darunter eher das Soziale als das Gesellige. Facebookies kümmern sich nicht nur um herrenlose Straßenhunde, sondern auch um Obdachlose, die sich in kalten Nächten verkühlen könnten, sofern nicht einer aus der Facebook-Community nach dem Wärmebus telefoniert. Facebook-Friends unterschreiben Aufrufe fürs Gute und gegen das Schlechte, fordern Spenden für Bedürftige ein, kämpfen gegen das Elend der Welt. Nie vergesse ich ein besonders eindrückliches Posting. Man sieht: ein fast verhungertes schwarzes Kind in einer Blechschüssel. Darüber die Sprechblase: „Wer ist Whitney Houston?“
Geschmacklos? Nicht, wenn man glaubt, dass dieses herzzerreißende Bild einen potentiellen CD-Käufer zu Spenden fürs hungrige Afrika bewegen kann. Freunde glauben an die Macht von Facebook wie an den Wunderheiler.
Zu recht: auch auf Facebook ist der Mensch ein Herdentier. Und so verbreiten sich mitnichten nur fromme Botschaften in Windeseile. Auch Meinungen werden schon mal für bare Münze genommen – seien es Vorverurteilungen noch nicht erschienener Bücher (von Sarrazin bis Vahrenholt) oder die flockig dahingeschriebene Vermutung, Christian Kracht habe sich mit seinem neuen Buch endgültig als rechts enttarnt. Wer als Journalist nachprüfen will, welches Echo eine vielleicht unbewiesene, aber umso vehementer vorgetragene Meinung haben kann, besuche Facebook. Man kann nur hoffen, dass er oder sie danach nicht – nun erst recht! - dem Affen Zunder gibt, sondern sich, im Gegenteil, aufs Berufsethos besinnt und fürderhin Demut und Zurückhaltung übt. Denn auf manch süffig geschriebenen Verriss reagiert auch der literate Zeitgenosse reflexhaft statt reflektiert.
Da hält unsereins sich lieber an die Bizarren, etwa an den deutschen Sektenleiter eines gewissen Sheng Fui, der bei einem Tässchen laktosefreien Basmati-Tee „ein erfülltes Leben dank fernöstlicher Leere“ verspricht und es mit Lebensweisheiten wie „Wer immer nur in sich geht, soll sich nicht wundern, wenn er nur schwer aus sich herausgeht“ 2630 Freunde gewonnen hat. Oder an andere Gestalten, die schon mal die Umrisse eines Trolls annehmen, auch wenn ihr Profilbild eine ausgemergelte Katze zeigt: Wulfgäng Meyn etwa nennt sich ein Kätzchen mit überaus scharfen Krallen, das schon manchen unschuldigen Freund in die schiere Verzweiflung getrieben hat.
Den Schriftstellerkollegen ist Hausmeister Lutz ans Herz gewachsen, ein Mann, der noch in der Hausordnung lyrische Schätze findet und daraus eine Benefizlesenacht dreier Hausmeister zimmert, die es, was Gutmenschlichkeit betrifft, mit jeder Krimiautorin aufnehmen können. Lutz schreibt mittlerweile erotische Kurzgeschichten mit drallen Schornsteinfegerinnen, während seine fast 700 Namen starke Freundesliste noch immer auf den schon vor einiger Zeit angekündigten Bildband über Teppichklopfstangen in ausgesuchten Berliner Wohnanlagen wartet. Immerhin rezensiert er für seinen interessierten Leserkreis ausgewählte Exemplare aus seiner Pümpelsammlung. Ein schwacher Trost.
So oder auch anders ist Facebook. Kommt eben ganz drauf an, was man draus macht.
Literarische Welt, 31. März 2012
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