Samstag, 21. Juli 2012
Digitale Einsiedler
Es ist also wahr: Deutschland schafft sich ab! Die Deutschen leben mehr und mehr allein, lese ich, vor allem in den Städten. Die Internetnutzung aber hat zugenommen: gut 75 Prozent tun es täglich, ja: andauernd. Das muss zusammenhängen. Was also hat die Wissenschaft herausgefunden? Das, was sie schon im 19. Jahrhundert wusste, als die Seuche des Romanelesens die Frauen erfasste: Das kann nicht gutgehen!
Nach neuesten Erkenntnissen macht nicht nur das Fernsehen, sondern auch die Nutzung digitaler Medien wenn nicht gleich dick, dumm und gewalttätig, aber ganz bestimmt süchtig. Was daraus folgt, ist klar: Die Deutschen sterben aus – an den Risikofaktoren Einsamkeit, Virtualität und Übergewicht. Deutschland – eine Hölle sozialer Kälte, besiedelt von lauter Couchpotatos, die nur bei Fußballspielen unter die Leute gehen, sofern diese vor einem Großbildfernseher stehen. Und Sex? Wenn überhaupt, dann nur noch virtuell.
Steile Thesen, die zeigen, das wenigstens eins noch funktioniert: Arbeitsbeschaffung für das Kommentariat. Für den Kulturkritiker, der Gelegenheit hat, die Krise zu segnen, die uns wieder zusammenrücken lasse. Für den Ökoklimabioaktivisten, der kommende Not auf uns herabwünscht, die alle in die Vorgärten schickt, Gemüse pflanzen. Und für die Architekten, die schon lange über neuen Wohnkästen grübeln, die uns das Monadische mit mehr als nur sanftem Druck austreiben sollen. Insbesondere Politiker mögen solche Thesen. Da kann man wieder von menschlicher Wärme schwärmen und Wähler in den Arm nehmen, um sie abzuholen, wo sie stehen, auch wenn sie lieber dort bleiben möchten. Digitale Verwahrlosung? Nicht mit uns!
Wir Digitaleinsiedler lassen sie reden. Nicht jeder Mief, der sich menschliche Wärme nennt, ist angenehm. Und soviel Sex gibt es gar nicht, den wir nicht verpassen möchten. Wir leben zwar allein, sind aber nicht einsam, denn uns steht die Welt offen. Das Netz der Wunder erspart soziale Kontakte der unerfreulichen Sorte und eröffnet das Tor zu ungeahnt neuen. Allein und digital. Und über uns der Sternenhimmel.
Schon, als das Online-Banking begann, war ich dafür: Es hat mir noch nie Spaß gemacht, in meiner knappen Freizeit vor einem Schalter anzustehen und mir von einem gelangweilten Bankbeamten den mühselig per Hand ausgefüllten Überweisungsschein abstempeln zu lassen. Der prompt zurückkam: wegen der Handschrift. Unleserlich.
Das heißt natürlich nicht, dass man seine „Bank-Geschäfte“ nun gleich blöde lächelnd mit dem Notebook vom Strand aus erledigen muss, wie es die Banken für werbewirksam halten. Am Strand hat man anderes zu tun. Viel schöner ist, dass vor dem Strand heute nicht mehr das Anstehen liegt: vor Check-in-Schaltern auf Flughäfen oder vor den Tickettheken der Deutschen Bahn. Noch besser: man kann das Reisen gleich ganz lassen. Ein Besuch bei Google World hilft Krampfadern und tückische Flugzeugkeime meiden.
Erzählt mir nichts! Menschliche Kommunikation ist selten ein Quell der Geselligkeit oder der Freude, häufiger eine Quelle von Missverständnissen und Flugzeugabstürzen. Wir digitalen Einsiedler halten es deshalb prima allein zu Hause aus. Gewiss, man muss mal raus, Essen beschaffen. Aber ich freue mich schon auf die flächendeckende Einführung von Kundenscannerkassen. Womit warb noch ein bekannter Supermarkt? „Niemand bedient Sie so gut wie Sie selbst.“ So ist es.
Sein Erfinder muss den Vorzug reduzierten menschlichen Kontakts begriffen haben: der erste Supermarkt der Welt, der Bon Marché, den Aristide Boucicault 1852 in Paris eröffnete, erlaubte es, die Waren zu studieren, ohne mit jemanden in eine Verhandlung über ihre Preiswürdigkeit eintreten zu müssen. Das hob den Umsatz.
Es ist eine moderne Unart, das „Soziale“ zu romantisieren. Für unsere Vorfahren war die soziale Wärme, die aus Not entsteht, gewiss nicht erstrebenswert. Höchstens im Winter, wenn sich dichtgedrängte Leiber nachts aneinander wärmten, war die gemeinsame Schlafstatt nützlich. Und das Leben unter einem Dach mit Ziegen, Schafen, Schweinen und Kühen stählte zwar die Immunabwehr, aber mehrte nicht den Wohnkomfort. „Ein Zimmer für sich allein“, kurz: Privatleben ist eine Errungenschaft der Neuzeit, ein Privileg, ein Luxus, kein Mangel. Es kommt darauf an, was man draus macht. Die virtuelle Welt steckt voller Angebote.
Wir digitalen Einsiedler jedenfalls genießen die Freuden der Selbstbestimmung, ziehen uns wie Montaigne in unseren Turm zurück, auch wenn der zu klein sein mag für die 1000 Bücher, die Montaigne um sich versammelt haben soll. Doch die brauchen wir ja gar nicht mehr. Der Turmhocker von heute gebietet über viel, viel mehr, sitzt hinter seinen Mauern oder davor, lässt Rosen duften und öffnet die Pforte zur großen weiten Welt. Fliegt hinaus, ins Netz, in dem sich viele weitere Türen öffnen, hinter denen es Musik gibt, Bilder, Filme. Bücher. Wissen. Unzählige Geheimnisse, die auf ihre Entdeckung warten, die wir uns aus dem Datenstrom fischen und heimholen können. Nur 1000 Bücher? Monsieur Montaigne! Da geht noch mehr, viel mehr.
Asozial? Unsozial? Antisozial? Mitnichten. Die Nichte in Australien: wir begegnen uns täglich auf Facebook. Der Neffe in Frankreich stellt regelmäßig Bilder von klein Hugo und der noch kleineren Ambre ins Netz, das hält bis zum nächsten Besuch. Und gar nicht so weit entfernt sind die virtuellen Bekannten, mit denen man sich manchmal intensiver austauscht als mit den alten Freunden zu Zeiten der snailmail.
Ob wir denn niemals einer Menschenseele begegnen, wir digitalen Einsiedler? Oh doch. Oh ja! Aber das gehört nicht hierher. Das ist privat.
In: Literarische Welt, 21. Juli 2012
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