Sonntag, 30. September 2012
Ein bisschen Liebe
Es gibt Leute, bei denen hat das Volk immer recht, auch wenn es sich lediglich um einen gewalttätigen Mob handelt. Und es gibt Menschen, die sich wie eine schwindsüchtige Jungfrau aufführen, die schon bei einem groben Wort in Ohnmacht fällt. Jedenfalls wenn es um verletzte Gefühle geht. Um verletzte religiöse Gefühle. Allerdings nicht um die eigenen.
Nur, wenn es den Islam betrifft, werden hierzulande angezündete Gebäude, tote und verletzte Menschen als Petitessen hingenommen, wenn nicht gar verständnisvoll abgenickt: man muss das verstehen, da wurden Gläubige unerträglich provoziert, da entstehen Zorn und Wut, da geht schon mal was daneben. Und wenn es ein amerikanischer Botschafter ist, der danebengeht? Auf das verklausulierte „Geschieht ihm recht“ irgendeines sensiblen und wohlmeinenden Zeitgenossen muss man selten lange warten. Irgendwie sind immer die USA und/oder Israel schuld, das ist schon gute Tradition hierzulande. Da vergisst man schnell, dass wir im Moment einen Machtkampf unter Muslimen erleben, nicht den gerechten Befreiungskrieg vom amerikanischen Imperialismus. Westliche Selbstbezogenheit zeigt sich noch im Impuls, sich verständnisvoll über fremde Kulturen zu beugen und auf die eigene Seite als die eigentlich Schuldigen zu deuten.
Aber reden wir mal nicht über die vorhersehbaren antiamerikanischen und antisemitischen Reflexe. Sondern über den Stellenwert, den Gefühle einnehmen, und zwar nicht bei den zornigen jungen Männern dort, sondern hier, bei uns. Lange vorbei die Zeiten, als man Männer auffordern musste, Gefühle zu zeigen, sofern sie überhaupt welche hatten. Heute haben sie welche, und wie. Doch richtige Männer weinen nicht nur – sie schlagen auch zurück. Da drängt sich glatt ein anderes Gefühl auf: Ist es womöglich das, was den Islam hierzulande attraktiv macht? Möchte man endlich wieder einen starken Glauben haben, ja womöglich gar einen hochmotivierten Fanatismus, mit dem man so schön die Sau rauslassen kann? Wir hatten das ja mal. Ist lange her.
Ja, es gibt viele Gründe, die allgemeine Gefühlsduselei verdächtig zu finden. Einen hat jüngst Eren Güvercin benannt, als er in der FAZ schrieb, dass nicht die Gewaltexzesse das „Interessante“ seien, sondern das, was dahinter stecke: nämlich die Liebe der Muslime zu ihrem Propheten. Das aber fehle den westlich-säkularen Menschen, Liebe, dieses „durchaus sympathische Korrektiv (...) in einer Welt, die von kalten Systemen geprägt ist.“
Güvercin rennt mit seiner These weit offene Türen ein. Denn die Sehnsucht nach Liebe, Gefühl und Wellenschlag gehört hierzulande zum politischen Standardrepertoire. Unsere Salbungsvollen bemühen sich täglich darum, „soziale Wärme“ in die angeblich so frostige Moderne zu bringen. Dass wir in „kalten Systemen“ lebten, ist Allgemeingut, dass die Menschen nichts so sehr brauchten als wärmende Umarmung, ebenfalls. Die Störenfriede sind jene freiheitlichen Geister, die Türen und Fenster weit aufreißen, damit frische Luft unter die Stubenhocker fährt und den Mief hinausträgt.
Denn „ein bisschen Liebe“ ist mitnichten nur „ein sympathisches Korrektiv“. Man muss nicht erst an die Liebe zum Führer (oder an Stasichef Erich Mielke) denken, um beim Gedanken an die Macht der Liebe Schüttelfrost zu kriegen. Liebe ist kein Ruhekissen, sie hat vereinnahmende, fanatische, einengende Züge. Im übrigen schaut auch die Liebe zum Propheten nicht gerade gemütlich aus.
Das Schöne an der offenen Gesellschaft ist ja gerade, dass man nicht lieben muss, mit wem man sich ohne Konflikt ins Benehmen setzen will. Diesem Zweck dienen all die „Regelwerke“, die aus gutem Grund „kalt“ und äußerlich sind. Sie fordern niemandem ab, ein guter Mensch mit anständiger Moral zu sein. Sie fordern lediglich, dass man sich ohne weitere Begründung an die Regeln hält, an jene Hilfsmittel des Zusammenlebens, die es erträglich machen. Wer die Zwänge von Familie und Clangesellschaft kennt, wird gerade das Äußerliche, die „Kälte“ der Systeme zu schätzen wissen. Sie erlaubt uns, Individuum zu sein.
Dass Freiheit und Individuierung einsam machten, ist ein zählebiges Gerücht. Die Sehnsucht nach vormoderner Wärme gibt sich nachdenklich, ist aber selten durchdacht. Es stimmt ja: die modernen sozialstaatlichen Sicherungssysteme haben alte Bindungen gelockert. Für Status und Bürgerrechte ist das Gründen einer Familie nicht mehr erforderlich. Die Alten sind nicht mehr vom Wohlwollen der Jungen abhängig, wenn sie „in Rente“ statt aufs Altenteil gehen. Das Verhältnis der Geschlechter und der Generationen ist vom Zwang befreit, lockerer, unverbindlicher, aber damit keineswegs ohne Belang geworden. Womöglich gedeiht die Liebe weit besser, wenn sie frei sein darf.
Doch als ob der Staat eine sehnsüchtig erwartete Vater- oder Mutterrolle einzunehmen habe, beschwören Politiker und andere Hofprediger immer wieder das Bild kuscheliger Wärmezonen. Das heißt dann schon so: „Betreuungsgeld“ etwa oder „Solidarrente“. All diesen Wohltaten ist gemein, dass sie ans Gefühl appellieren. Nur durchgerechnet sind sie nicht. Das wäre ja kleinlich.
Warum dominieren in unserer säkularen Gesellschaft die Gefühle? Warum scheint es manchmal, als ob sie das einzige sind, was überhaupt noch Wert oder Aussagekraft besitzt? Warum spricht jeder bessere Wetteronkel von „gefühlten“ Temperaturen, warum empfinden wir Zahlen und Statistiken als „kalt“, warum werden persönliche Evidenzen ernster genommen als verallgemeinerbare Aussagen? Im Alltagsbewusstsein ist man hierzulande gar nicht so weit entfernt von Gesellschaften, die von der Aufklärung nichts wissen wollen. Und mögen auch die Kirchen in Deutschland an Einfluss eingebüßt haben – es finden sich jede Menge weltlicher Religionsstifter, denen man hinterherlaufen kann, die sich, wie einige unter den „Klimarettern“, an priesterlicher Strenge von einem Mullah kaum übertreffen lassen.
Das paternalistische Modell, wonach die Familie alles, der Einzelne nichts ist, hat den Gesellschaften, die es pflegen, weder Wohlstand noch Freiheit gebracht. Und gemütlich schaut das auch nicht aus.
Was beklagen unsere Wärmeapostel, wonach sehnen sie sich? Nach Führung, aber mit Gefühl? Weil Freiheit Mühe macht?
Die Welt, 25. 9. 2012
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