Dienstag, 18. September 2012

Wenn die Nebelkerzen blühen

Die Nebelkerzen rauchen. Die Sicht wird schlecht. Es regnet Worthülsen. Dabei ist noch gar nicht Wahlkampf. Wir haben bloß Krise. Euro-Krise. Und schwierige Lagen laden offenbar besonders zu Schönfärberei und Wortwolken ein, nicht etwa zur fälligen Aufklärung. Und so werden Begriffe besetzt und Themen zugespitzt, man streitet um höchste Werte, bis endlich durch all die heiße Luft jene menschliche Wärme entstanden ist, die man der sozialen Kälte entgegensetzen kann und das Wesentliche in Vergessenheit geraten ist. Man nennt das Ablenkung. Gewiss: Politiker neigen von Haus aus nicht zur ungeschminkten Wahrheit. Aber mitten in der Krise wird ganz besonders dick aufgetragen. Schließlich gilt es, ihren Ursprung möglichst geschickt zu verbergen. Schuld ist also nicht der Geburtsfehler der EU, nämlich die wirtschaftliche Einheit ohne die politische vollzogen zu haben. Schuld ist auch nicht jene Fehleinschätzung einer rotgrünen Regierung, Griechenland für europafähig zu halten. Schuld sind die Märkte, das Finanzkapital, die Gier, der Neoliberalismus, kurzum: alle anderen. Nur nicht die Fehlentscheidungen der politischen Elite. Die kontert jede Kritik oder gar das Einfordern überfälliger Korrekturen mit dem Appell an die besseren Seiten der Steuerzahler: es gehe schließlich um Solidarität, ja um Gerechtigkeit, um Hilfe, um den Frieden, also um alles, was uns lieb ist und teuer sein soll. Leere Worte? Nicht doch, sagen die Politiker, die Menschen wollen es nicht anders. Sie wollen beschwichtigt, beruhigt, mit anderen Worten: belogen werden. Wer ihnen mit einer realistischen Sicht auf die Wirklichkeit oder gar mit Reformen kommt, verliert. Das hat die SPD mit der verdienstvollen Agenda 2010 erlebt. Und das hat Angela Merkel traumatisiert, die beinahe keine Bundeskanzlerin geworden wäre, weil ihr ebenso verdienstvolles Reformprojekt nicht genug menschelte. „Soziale Kälte“ hat ihr der formidable Wahlkämpfer Gerhard Schröder damals, im Jahre 2005, vorgeworfen, als sie mit den Steuerplänen Paul Kirchhofs kam, jenes „Professors aus Heidelberg“, wie man ihn süffisant intellektuellenfeindlich titulierte. Fast wäre sie daran gescheitert. Seither ist Ruhe im Kasten. Denn in der Politik geht es nicht um die Wirklichkeit oder um realexistierende Probleme, sondern gerade mal darum, eine Mehrheit zu finden, für was, ist weitgehend egal. Und deshalb gilt es, die eigene Partei möglichst innig mit all jenen Vokabeln zu verbinden, die hierzulande für das Gute, Wahre und Warme stehen. Die SPD steht für „Gerechtigkeit“, ebenso die Grünen oder die Linke. Doch auch die CDU ist die Partei der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Rettung – des Euros, der Umwelt, des Klimas, des Planeten, alles Dinge also, die den Herzen der Menschen nahe sind. Den Herzen, nicht den Köpfen. Längst regiert George Orwells 1984, der Neusprech, jener verlogene Sprachgebrauch, der aus Industrieanlagen einen „Park“ macht und „Sparen“ nennt, wenn sich der Staat mal ein bisschen weniger verschuldet. Und der als Beitrag zu Gerechtigkeit und Menschlichkeit verkauft, was schnöde Wählerbestechung ist. Ob es um das „Betreuungsgeld“ oder die „Solidarrente“ geht – unübersehbar steckt hinter den vielen Steuergeldern, die hier „in die Hand genommen“, wie es im Politjargon heißt, der Wunsch, jene Stimmen zu sammeln, die man zum Machterhalt brauchen wird. Ganz egal, wie hoch der Schuldenberg ist, den man jetzt schon vor sich herschiebt. Wurscht, was uns die sogenannte „Eurorettung“ kosten wird – auch so ein Nebelwort – , die sich bereits jetzt in Dimensionen abspielt, die kaum jemand noch ermessen kann. Die Beruhigungsvokabeln haben Erpressungscharakter. Soziale Wärme und Solidarität und Toleranz und Gerechtigkeit – das sind Werte, die man mit Angela Merkel alternativlos nennen muss, denen also keiner widersprechen kann. Denn wer ist schon für Ungerechtigkeit? Wer will als Egoist durchs Leben gehen? Und wer würde gern von sich behaupten, aus der Geschichte nichts gelernt zu haben? All solche Vorwürfe treffen uns hierzulande ins Mark, und sie haben in der Debatte um den Euro ihre Funktion bislang erfüllt. Unschön, aber wahr: hinter all den schmuseweichen Vokabeln von Solidarität und Gerechtigkeit lauert Erpressung. Wer etwas haben will, kommt uns am besten moralisch. Der Appell an Moral und Hilfsbereitschaft funktioniert schließlich immer, er zieht einen Schleier der Milde vor die harte Realität, erzeugt überschwappende Gefühle, in denen der Verstand baden geht. „Soziale Wärme“ heißt: lasst uns besser nicht über die nackten, kalten Fakten reden. Und Solidarität bedeutet, dass man sich nicht mit Kleinigkeiten aufhalten sollte wie mit der Frage, ob die Hilfe, die sie uns abverlangt, wirklich und vor allem den Richtigen hilft. In Deutschland, wo „Interesse“ als schmutziges Wort gilt, verfängt das. Wer uns an unserer Moral packt, kann von uns alles haben. In der Politik geht es um Gefühle, nicht um Sachen. Jede mittlere Talkshow zeigt: Wer heute im Kampf um die Definitionshoheit siegen will, kommt gänzlich ohne Argumente aus, im Gegenteil: von ihrem Einsatz ist dringend abzuraten. Ist nicht ein logisches Argument per se irgendwie kalt und also unmenschlich? Na bitte. Auch verallgemeinernde Schlüsse kann man auf diese Weise kontern. Was soll mir eine Statistik oder eine Durchschnittsgröße, wenn ich persönlich die Realität doch ganz anders wahrnehme? Fühlen und Glauben, das bringt Szenenapplaus. „Ich glaube“ und „ich fühle“ sind die vergifteten Pfeile aus dem Hinterhalt, die das Argument erledigen, bevor es auch nur zu Ende formuliert wurde. „Gefühlt“ wird hierzulande Jahr um Jahr am Sozialetat herumgekürzt, da hilft kein Hinweis darauf, dass das Sozialbudget noch immer der größte Posten im Haushalt ist – und Jahr um Jahr steigt. Nein, es geht wahrlich kein Ruck durchs Land, es schwappt ein unbestimmtes Gefühl hindurch, ein Schrei nach Wärme & Menschlichkeit, dem man offenbar mit keiner „kalten“ Analyse beikommen kann. Intellektuelles Bemühen hat keine gute Presse. Argumente sind unbeliebt. Harte Fakten, kalte Zahlen, „Statistiken, die den Menschen zur Nummer machen“, zählen spätestens seit der Sarrazin-Debatte nachgerade zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Schon, wer sich seines Verstandes bedient und die Betroffenheitslyrik nicht mitsummt, ist demnach verdächtig. Heute wird „liberal“ nicht mehr mit den Freiheitsrechten des Individuums, sondern mit schrankenlosem, „entfesseltem“ Egoismus assoziiert, wobei der „Raubtierkapitalismus“ bereits um die Ecke lugt. Gewiss: Das geisterte immer schon durch deutsche Debatten, die Angst vor der Freiheit, die man von ihrem möglichen Missbrauch her diskutiert. Was sich hingegen „sozial“, „gerecht“ und „menschlich“ nennt, gerät in diesen Verdacht erst gar nicht. Dabei empfinden viele Menschen als „sozial“ nur das, was ihnen nützt, auch wenn es auf Kosten anderer geht. Und manches Sicherheitsverlangen kann man auch risikoscheu und mutlos nennen. Doch der Orwellsche Neusprech ist als Gefühlssprech in den Alltag eingekehrt, es gibt keine politische Öffentlichkeit mehr, die des Kaisers neue Kleider benennt: dass nichts hinter den Vokabeln der sozialen Wärme steckt außer heißer Luft. Nun, dass Wahlkampf die Wähler schlauer macht, erwartet natürlich niemand. Doch er ist längst nicht mehr jener Ausnahmezustand, wie man ihn vor zwanzig, dreißig Jahren noch erleben konnte: und zwischendrin wird ordentlich regiert. Mittlerweile wird der Nebelwerfer gar nicht erst ausgeschaltet. Wird sich aber die Realität auf Dauer ausblenden lassen? Angesichts der stattlichen Verschuldung Deutschlands in Höhe von mehr als 2 Billionen Euro und der Aussicht darauf, im Zuge der Eurokrise noch in ungeahnter Größenordnung weiter zur Kasse gebeten zu werden, sind die Debatten um Betreuungsgeld oder Rentenaufstockung unwürdig. Gewiss: noch hat der Staat in Deutschland kein Einnahmeproblem, wir sind bislang glimpflich durch die Krise gekommen, die Steuerquellen sprudeln und man weiß gar nicht wohin mit den Überschüssen, etwa in der Krankenversicherung. Doch die aufgehäuften und zu erwartenden Verbindlichkeiten sprengen jeden Rahmen. Wer da von „Sparpolitik“ redet, betreibt Augenwischerei. Von Sparen kann keine Rede sein. Und noch nicht einmal weniger Schulden machen wird gelingen: denn wer das will, muss weniger ausgeben. Doch wo die Moral regiert, versagen die Rechenkünste. Die sogenannte „Energiewende“ ist ein schönes Beispiel dafür. Allein das Wort hat Orwellsches Kaliber: Energie kann man nicht wenden. Und sollte sich das Wort „Wende“ auf die Revolution von 1989 bezieht, wäre es erst recht vermessen: von einem Aufbruch in die Freiheit kann hier nicht die Rede sein, eher von einem aus einer moralischen Entscheidung im Wahlkampf geborenen Chaos. Denn auch hier hat es niemand für nötig befunden, einmal nachzurechnen. Wer es tut, findet schnell heraus, dass sich die Photovoltaik auf deutschen Dächern ohne Subventionen schon längst erledigt hätte. Und ob Windkraftanlagen rentierlich arbeiten, weiß man erst, wenn auch diese Technik nicht mehr staatlich gepäppelt wird – also in frühestens 15 Jahren. Und ganz nebenbei: ausgerechnet das Land, in dem Politiker von Europa reden, als wär’s der heilige Gral, verstößt nicht nur mit seinem Etat, sondern auch mit seiner Energiepolitik gegen die Interessen seiner Nachbarn und damit gegen das große Ziel. Nur fiskalpolitisch sind wir demnächst vereint. Deutschland – ein Land im Nebel? Und in den Köpfen nichts als Watte? Sind wir das nicht langsam leid? Brauchen wir nicht endlich wieder Streit mit offenem Visier und klaren Worten? Ach... Wer nicht auswandern kann, sollte Türen und Fenster geschlossen halten und die Ohren gegen die Sirenentöne und Schalmeien von draußen versiegeln. Es ist Krise. Die Nebelkerzen rauchen. Die Sicht wird schlecht. Also Augen zu und durch. Gedanken zur Zeit, 16. September 2012

3 Kommentare:

  1. Das mit dem Neusprech versteh ich nicht. Seit wann isses denn neu?
    Ich habe eigentlich nie was anderes erlebt als Verlogenheit und Wahlkampf.

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  2. Liebe Frau Stephan,
    durch Zufall konnte ich Ihren Kommentar in NDR-Kultur hören, und ich habe sofort die Ohren gespitzt. Sie haben in allem, was Sie sagen, so Recht, und Sie sagen es auch noch so deutlich und treffend, ich bin begeistert ! Ich habe mich mit diesen Themen auch schon lange auseinander gesetzt und auch manche Texte dazu verfasst (zum Teil als Leserbrief, wird dann meistens nicht veröffentlicht). Auch was Sie zur "Energiewende" sagen, ist so zutreffend, das sehe ich vom Beruf her als technischer Physiker besonders deutlich. Es ist ja nicht nur das Wort "Wende" falsch, auch das Wort "Energie", denn elektrischer Strom ist Energie, aber Energie ist nicht elektrischer Strom ! Warum ? Der Bedarf an Energie ist zuerst einmal die Hausheizung, dann der Energiebedarf für Verkehr, und erst an dritter Stelle der an Elektrizität. Was wollen die nun eigentlich, "Energiewende" oder "Elektrizitätswende" ? Sie wissen es selbst nicht, man soll auch nicht nachfragen, es werden einfach nur diffuse Begriffe in den Nebel gequatscht, die Öko-Spinner sagen hurrah, es darf noch mehr sein ! Letzte Anmerkung, ich möchte nicht auswandern, man sollte aber mal nach den Ursachen dieser Entwicklung fragen (das ist kein Vorwurf an Sie, denn in einem Kommentar kann man nicht zu allem Stellung nehmen). Diese Entwicklung begann ja nicht erst bei Brandt, der wollte schon "mehr Demokratie wagen", allerdings, die 5%-Hürde auf 4,9% herabzusetzen und damit 0,1% mehr Demokratie zu wagen, dazu konnte er sich dann doch nicht entschließen, es blieb eben alles nur bei Sprüchen, und davon wurden es immer mehr. Die Ursachen, dazu würde ich gern mehr sagen und Ihnen einiges dazu direkt übermitteln, wenn ich eine Adresse finde.
    Mit Anerkennung,
    Peter Würdig

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  3. Sehr geehrte Frau Stephan,
    seit ich Ihr Merkel-Buch gelesen habe, warte ich immer sehnsüchtig auf Ihre Artikel. Ich möchte mich für Ihre auf den Punkt gebrachten Kommentare bedanken und bin froh, dass es noch Leute der schreibenden Zunft mit gesundem Meschenverstand gibt. Leider kann man die in der öffentlichen Presse mit der Lupe suchen.
    Bitte melden Sie sich weiterhin zu Wort.
    Renate Brodowski

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