Samstag, 3. November 2012
Das Gefühl sagt nein
74 Prozent der Deutschen sind dafür.
Was sollen sie auch sonst sein? Es gibt keine Argumente gegen eine Organspende. Keine vernünftigen, aufgeklärten jedenfalls. Nichts spricht dagegen, sich im Falle des eigenen Todes in seine Einzelteile zerlegen zu lassen und die brauchbaren Teile einem Menschen zur Verfügung zu stellen, der damit noch ein paar gute Jahre hätte, oder? Also! Wer zögert, entblößt sich als Egoist. Und wer will schon egoistisch sein, zumal im Land der Hilfsbereiten?
Doch wenn es darauf ankommt, kommen keine 74 % zustande. Spaßvögel bemühen die Ausrede, man könne seine Leber oder Lunge keinen Empfänger mehr zumuten, nachdem man sie jahrelang missbraucht hat. Darüber lacht der Spaßvogel spätestens dann nicht mehr, wenn der erste Talkshowgast öffentlich fordert, dass jeder Mensch unter 60 seine Organe für den Fall des Falles gesund und sauber zu halten hat.
Die Damen und Herren in der grünen Chirurgenschürze haben für derlei Ausflüchte eh nur ein müdes Lächeln übrig. Oder ein herzhaftes „Irgendwas Brauchbares findet sich immer!“ Organspender kann jeder werden, da muss man kein Führerscheinneuling oder Motorradfahrer mit Selbstüberschätzung sein. Nur im multimorbiden Zustand darf die Leiche intakt ins Grab sinken oder ins Feuer gehen. Ansonsten: Aufschneiden!
Das ist jetzt vielleicht ein bisschen brutal formuliert, aber mal ehrlich: So oder so ähnlich sehen die Phantasien aus, die niemand gern zugibt. Der Verstand sagt, dass (Hirn-)Tote keinen Schmerz kennen und keine Verlustangst haben. Nichts einfacher, als sich per Erklärung zu Lebzeiten von Dingen zu trennen, die man zwar mit in den Sarg nehmen kann, wo sie aber nur die Würmer füttern.
Warum aber sträuben sich auch Vernunftbegabte gegen diese scheinbar so geringfügige Zumutung? Woher die Scheu davor, sich zugunsten eines notleidenden Menschen von etwas zu trennen, das man nicht mehr braucht, und sei es nur die Augenhornhaut?
Warum, mit anderen Worten, sagt die Vernunft ja und das Gefühl nein? Wohl nicht, weil man fürchten müsste, die Sektion bewusst erleben zu müssen, weil ein Arzt sich bei der Feststellung des Hirntodes geirrt haben könnte. Die in vergangener Zeit verbreitete Angst davor, lebendig bestattet zu werden, hat sich mit der Entwicklung der ärztlichen Kunst ja auch gegeben. Nur wenige Menschen glauben an die eigene Wiederauferstehung. Oder daran, dass man dafür die intakte sterbliche Hülle benötigte.
Es geht womöglich auch gar nicht um das Verhältnis zum eigenen Tod, dass es vielen erschweren mag, sich bereits zu Lebzeiten mit etwas einverstanden zu erklären, was, im kalten Licht betrachtet, auf eine Verstümmelung des eigenen Körpers hinausläuft. Es geht um das Verhältnis zum Tod an sich.
Da ist etwas tief im Menschen verankert, etwas Archaisches, mit dem man rechnen sollte, damit es einen nicht hinterrücks und unerkannt überfällt und die Vernunft besiegt. In den meisten Kulturen soll der tote Leib, die weltliche Hülle, unversehrt bestattet werden, und wenn das nicht möglich ist, so sollen doch alle Teile mit ins Grab. Warum wohl hat Antigone alles daran gesetzt, den Leichnam ihres Bruders Polyneikes unter die Erde zu bringen, den König Kreon den wilden Tieren zum Fraß überlassen wollte? Den Feind entehrt man, indem man ihm die Bestattung verwehrt, und sei es auch nur die Beerdigung seines Hauptes, das, aufgespießt auf der Burgmauer, zum Fraß der Raben wird. Totenschändung gehört zum Dramatischsten, was die Menschheitserzählungen zu bieten haben.
Die ägyptischen Pharaonen wurden zwar, um sie konservieren zu können, ihrer Organe beraubt, doch auch die wurden bestattet. Die Österreicher haben ihren Herrschern das Herz entnommen und getrennt vom Leib aufbewahrt. Vielleicht wollte das Volk den Habsburgern die Wiederauferstehung erschweren. Aber sie haben sie ihnen nicht unmöglich gemacht. In Israel sorgen orthodoxe Juden nach Terroranschlägen dafür, dass alle, auch die kleinsten Leichenteile der Opfer geborgen werden. Ohne Leichensektion hätte sich die Medizin nicht fortentwickelt. Aber bis ins Mittelalter war sie verpönt.
Und heute? Viel spräche für kühle Rationalität. Die Erdbestattung braucht viel Platz, sie gerät mehr und mehr aus der Mode. Anonyme Urnenbestattungen nehmen zu. Und kommt es darauf an, dass sich in der Asche auch die sämtlicher Organe widerfindet? Überhaupt, angesichts des Trends zum Billigsarg, den Bestatter bereits vermelden: Was spräche dagegen, die Toten im Urzustand, vielleicht gerade noch von einem Tuch verhüllt, zur Asche werden zu lassen?
Unser Gefühl spricht dagegen. Ganz einfach.
„Organspende schenkt Leben.“ Wie wahr das ist. Und genau deshalb sollte man die heilige Scheu vor dem toten Leib nicht übersehen. Vielleicht braucht es ein neues Ritual, das beides würdigt: das geschenkte Leben ebenso wie das Opfer, das unsere Vorstellungen von Würde und Ehre der Toten dafür bringen.
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