Donnerstag, 28. Februar 2013

Zettels Tod. Nachruf auf einen der produktivsten deutschen Blogger.

Er nannte sich "Zettel". Irgendwann begannen wir, einander zu schreiben, per Mail, mal intensiv, mal weniger häufig. Daraus wurde Seelenfreundschaft.

Persönlich kennengelernt haben wir uns nicht, seinen "bürgerlichen" Namen hätte ich erfahren dürfen, aber das wollte ich irgendwann gar nicht mehr. Wir kannten uns ja, intim genug, auf einer anderen Ebene, die in vieler Hinsicht Übereinstimmung hieß. Nun ist er tot und er fehlt.

Wie schreibt Kallias, einer seiner Mitstreiter, in einem Nachruf ? "Es ist erstaunlich, wie nahe einem ein Mensch kommen kann, den man nur in Form von Buchstaben auf dem Bildschirm kennt, und wie sehr sein Los einen dann trifft."

Er und ich sind nicht die einzigen, mit denen Zettel korrespondierte - und erst recht nicht die einzigen, die sich verlassen fühlen, weil sie seine Worte wie das täglich Brot vermissen.

Daraus hätte er vielleicht eine seiner heiter-weisen Marginalien gemacht: wie man aus der Trauer um einen nur virtuell Bekannten schließen könne, dass menschlicher Kontakt keineswegs auf personale Anwesenheit angewiesen ist, wie Intimität offenbar gerade in der digitalen Welt gedeihen kann, und dass Anonymität mitnichten zur allgemeinen Verrohung und Entfremdung beitragen muss. Aber natürlich hätte er das alles weit eleganter formuliert.

"Zettels Raum" gab es nicht ganz sieben Jahre lang. Im Juni 2006 begann der Mann, der sich Zettel nannte, mit großen Essays: über das "Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz" und über Robert Gernhardt, über die Fußballweltmeisterschaft und über Meinungsumfragen, über Vergleiche und ihre Zulässigkeit, über Nationalhymnen und über Tugend.

Fast jeden Tag bloggte der emeritierte Professor, Naturwissenschaftler, soweit bekannt, über alles Erdenkliche. Von Lotto zum Klima, von Olympia nach Arabien: "Alles interessant für mich; und hoffentlich auch für den Leser." (aus dem Interview in der Welt). Er verteidigte den Verstand gegen das Gefühl, das freie Wort gegen die ängstliche Korrektheit. Ideologisieren und Moralisieren waren ihm unangenehm, und wenn wieder mal irgendwo aufgeschrien wurde, fand man bei Zettel kluge Argumente statt Hysterie.

Insbesondere im Frühjahr 2011, als man in Deutschland nicht die Opfer des Erdbebens in Japan beklagte, sondern mit Blick auf den havarierten Reaktor in Fukushima die eigenen Ängste pflegte, war "Zettels Raum" eine Oase der Vernunft. Mit der Distanz des Naturwissenschaftlers und unter akribischer Analyse internationaler Quellen gab er der medialen Aufregung ein Gegengewicht der Aufklärung. Als ob er geahnt hätte, dass der überstürzte "Ausstieg" eine folgenreiche Wende für Deutschland einleiten würde - nicht übrigens für die Energie, die man bekanntlich nicht wenden kann.

Sein Sachverstand fehlt nun, schon jetzt schmerzhaft spürbar. Kurz noch hat er über die Wahlen in Italien spekuliert und Bundespräsident Gaucks Vorschlag unterstützt, Englisch zur europäischen lingua franca zu machen. Über die Weltmacht USA hat er geschrieben, über den Fall Gysi, über Mali - und eben über jene "Energiewende", die er "kollektive Besoffenheit" nannte.

"Man wollte den deutschen Sonderweg", schrieb er am 21. Februar, "wieder einmal mit sehr deutscher Überheblichkeit. Dieser Sonderweg, auf dem niemand sonst unterwegs ist, wird unweigerlich in die Wüste führen, nämlich in die Armut. Keine Volkswirtschaft kann Kosten von Tausend Milliarden Euro tragen, ohne dass der Wohlstand sinkt."

Kurz danach erhielt ich eine Mail von ihm, die mich irritierte: "Ich denke über eine Initiative für die FDP nach. Etwas in der Art des Wahlkontors von Günter Grass für die SPD (...) Man muss der FDP in den Hintern treten. Als Partei gegen die 'Energiewende' käme sie vermutlich locker über die fünf Prozent."

Wahlkampf für die FDP? Zettel schrieb mir einmal, er sei einst ein braver Sozialdemokrat gewesen, ein Willy-Wähler. Aber ich wüsste nicht, dass er unterdessen zum Parteigänger der FDP geworden wäre. Als liberaler Geist findet man in keiner Partei ein Zuhause. Und gerade der FDP hat er oft genug übel genommen, dass sie es an just dem liberalen Geist vermissen ließ. Warum nun das? Weil es um die Wurscht geht, schrieb er. Für die FDP gewiss: es ist ja ganz und gar nicht ausgeschlossen, dass sie im September aus dem Bundestag verschwindet.

Doch ginge auch die liberale Idee mit ihr unter?

Einerseits nein. Diese Idee hat es ja schon jetzt schwer genug. Im deutschen Alltagsbewusstsein scheint es längst nur noch rechts oder links zu geben, oder vielmehr: was nicht links ist, gilt als rechts. Liberal wird mit konservativ verwechselt, konservativ als rechts denunziert - zurück bleibt eine Art linker Mainstream ohne profilierte Alternative. Daran ist die FDP alles andere als unschuldig, wo man sich nur noch ums schiere Überleben zu kümmern scheint, aber nicht um die Substanz.

Dabei geht es wirklich um die Wurscht, nicht nur für die FDP, sondern fürs ganze Land. Der am Vorabend einer Landtagswahl von der Kanzlerin überraschend verkündete und mit Fukushima begründete Schnellausstieg aus der Atomenergie hat, absehbar, nichts als Chaos produziert.

Nicht eine einzige Rahmenbedingung für den Übergang zur Nutzung "alternativer" Energien stand und steht. Das einzige, was funktioniert, ist die Politik der falschen Anreize: Für den, der es sich leisten kann, den Eigenheimbesitzer, lohnt es sich, in wenig energieeffiziente Solarpaneele zu investieren, das nützt zwar nicht der Allgemeinheit, aber, dank üppiger und langfristig garantierter Subventionen, ihm selbst.

Und soll man es den Bauern verübeln, wenn sie ihre Äcker für gutes Geld an all die Windmacher verpachtet, die in Goldgräberstimmung einen Goliath nach dem anderen in die Landschaft stellen? Absahnen, solange es noch geht, lautet offenbar die Devise. Nach uns die Sintflut.

Der Wind aber weht, wie er will, die Sonne scheint, wann es ihr passt, und die paradoxen Folgen haben unsere Nachbarn zu tragen: sie sollen uns den Strom abnehmen, wenn wir zuviel davon haben, und aushelfen, wenn wir zu wenig produzieren. Deutschland, dessen Politiker gemeinhin Europa über alles stellen, befindet sich energiepolitisch im Alleingang.

Wenn selbst der zuständige Minister mit Folgekosten von einer Billion Euro rechnet, kann man sicher sein, dass der Preis im Endeffekt höher liegen wird. Man muss vielleicht nicht gleich die Deindustrialisierung Deutschlands fürchten, aber es fragt sich in der Tat, wie ein mit bereits zwei Billionen Staatsschulden belastetes Land, das sich überdies "Solidarität" für die fallierenden Staaten in seiner Nachbarschaft abverlangt, auch diese Last noch tragen will. Ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Geld der Bürger sieht anders aus.

Die sogenannte Energiewende ist ein Musterbeispiel für all das, was schiefgehen kann, wenn sich der Staat Lenkungsfunktionen anmaßt. Wenn es ein Thema für eine liberale Partei gibt, dann dieses hier.

Wird die FDP den Mut haben, sich dieses Themas anzunehmen, auch wenn es der dahinsiechenden Regierungskoalition den Rest geben dürfte? Ja, hat man dort überhaupt schon begriffen, dass es um die Wurscht geht?

Und hätte Zettel, wie weiland Grass, genug Mitstreiter gefunden, die mit geballter Meinungsmacht dafür sorgen, dass die FDP den Schritt nach vorne tut, den ihr offenbar nur ein Tritt in den Hintern vermitteln kann?

Ich bin dabei, habe ich ihm nach einigem Zögern geschrieben. Eine Antwort erhielt ich nicht mehr.

Zuerst in Die Welt, 27. 2.2013

1 Kommentar:

  1. Wolfgang Schäfer4. März 2013 um 08:08

    Zettel gab mir jeden Tag die Hoffnung, daß die Vernunft doch noch nicht ausgestorben ist. Obwohl er sich selbst nicht als Journalist sah, war er ein Qualitätsjournalist! Und was für einer. Es ist einfach nur tieftraurig.

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