Die Deutschen selbst wollen mit überwältigender Mehrheit keineswegs "führen". Aus historisch gespeister Empfindlichkeit dem Wort gegenüber. Aus Bescheidenheit. Vielleicht auch aus Faulheit. Und – weil man es nie gelernt hat. Bevor das Deutsche Reich Großmacht werden konnte, verlor es den Ersten Weltkrieg. Und seit dem Zweiten Weltkrieg ist "Führung" ein schmutziges Wort.
Diese Gründe für schuldbewusste Bedenken und bescheidene Zurückhaltung mögen zwar falsch und längst überholt sein, aber die Euro-Krise ist nicht gerade der geeignete Anlass, um mit dem Führen anzufangen. Nicht, weil dann wieder jemand Angela Merkels Bild mit Hitlerbart versehen könnte. Sondern weil die Situation nicht danach ist. Denn wie man es auch anstellt: Die Deutschen sitzen in der Falle.
Tut die Bundesregierung, was jeder normale Gläubiger tun würde, erwartet sie also von ihren Schuldnern, dass sie so schnell wie möglich dafür sorgen, dass sie die ihnen gewährte Hilfe auch zurückzahlen können, wird die Bundeskanzlerin von wütenden Demonstranten als Nazisse beschimpft, die ein deutsches "Diktat" ausüben wolle. Die Fotos auf den Titelseiten griechischer und portugiesischer Zeitungen sind uns noch lebhaft in Erinnerung.
Schnelle Schuldentilgung, heißt es neuerdings, sei im Übrigen ein unzumutbarer Eingriff in die Kultur südeuropäischer Länder, die ein anderes Arbeitsethos hätten als wir. In der Tat. Hilfe kann entmündigen. Sollte man da nicht zweimal nachdenken, bevor man Geld gibt?
Übrigens: Dass man hierzulande auf Kanzlerbeleidigungen, Nazi-Vergleiche und moralische Erpressung entspannt reagiert, mag manch einer souverän finden. Unsere nationalstolzeren Nachbarn dürften darin eher Schwäche erkennen.
Gibt die Kanzlerin wiederum umstandslos den Zahlmeister (was sie de facto tut), verstößt sie gegen den Verfassungsauftrag, riskiert ihren noch immer großen Rückhalt in der Bevölkerung und beginnt, die Kuh auszuhungern, die man doch weiterhin melken will.
Rational ist das nicht. Während die anderen Euro-Staaten längst wieder ihren ureigenen Interessen den Vorrang geben, ignoriert die Bundesregierung zudem das Haushaltsrecht des Bundestages – vorgeblich des auch moralisch höheren Ziels Europas wegen.
Doch mit der Forderung nach "mehr Europa" als Ausweg aus der Krise steht Deutschland längst allein. Es sind vor allem die Bündnisgenossen, die sich auf einen Souveränitätsverzicht nicht einzulassen wünschen. Dass ein Teil der deutschen Öffentlichkeit zu glauben scheint, Souveränitätseinbußen sei der Preis, den Deutschland der Vergangenheit wegen zu zahlen habe, ist nationaler Masochismus, den niemand honoriert.
Es sind nur noch die Deutschen, die ein sentimentales Interesse an diesem Europa haben. Historisch ist das nachvollziehbar: Für die Bundesrepublik bedeutete die Europäische Union nie ein Instrument der Machtausübung, das war die französische Agenda, wo man unter "Einbindung" gern Fesselung verstand. In der alten Bundesrepublik erhoffte man sich von der Selbstfesselung Akzeptanz.
Nun stellen die vereinigten Deutschen fest, dass sie, gleichgültig was sie tun, noch immer nicht geliebt werden. Vielleicht sollte man den Wunsch danach endlich aufgeben. Respektiert werden ist auch was Schönes.
Achtung hat sich das Land längst erworben. Selbst in Großbritannien, wo das "Kraut-Bashing" viele Jahrzehnte zu den Volkssportarten gehörte, mag man die Deutschen, weil und solange sie erfolgreich sind. Im Vereinten Königreich erkennt man auch keinen Grund für eine historisch begründete Bescheidenheit: Deutschland sei vorbildlich im Umgang mit vergangener Schuld. Also vorwärts!
Doch auch diese Ermunterung zur Leadership hat ihre Haken. Deutschlands Macht in Europa beruht auf seiner wirtschaftlichen Stärke. Wer hier Führung anmahnt, möchte meistens, dass die Bundeskanzlerin ihre "Merkelnomics" (Denis MacShane) aufgibt, ihren "Austeritätskurs", ihr "Spardiktat".
Stattdessen soll Deutschland mutig und risikofreudig "retten", also: Geld ausgeben. Dagegen spricht nicht nur ökonomische Weitsicht, sondern auch das Mandat der Kanzlerin, Schaden vom eigenen Volk abzuwenden. Schon jetzt vollzieht sich eine gewaltige Enteignung der Steuerzahler. Und das ist erst der Anfang.
Die entscheidende Frage lautet: Warum ist eigentlich immer nur von Deutschland die Rede, wenn es ums Führen in Europa geht? Wo sind die Partner? Wo ist französische Leadership zu erkennen, wo bleiben die Briten?
Euro-Europa droht an der Unfähigkeit der politischen und wirtschaftlichen Eliten seiner Mitgliedsländer zu scheitern, die Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein starker Währungsverbund braucht. Denn da ist das Grundproblem des Euro: Seine Einführung gründete in erster Linie auf Wunschdenken, nicht auf ökonomischer und politischer Vernunft.
Nach zwei Weltkriegen, nach 45 Jahren Teilung und eingeschränkter Souveränität ist Deutschland ein gefesselter Riese. Angela Merkel, die einst "durchregieren" wollte, hat, wie alle Regierungschefs vor ihr, schnell gemerkt, dass unser politisches System Führung nicht begünstigt. Es ist nicht aufs Entscheiden ausgelegt, sondern aufs Verhandeln, auf Kompromiss- und Konsensbildung – etwas, worin Angela Merkel stark ist.
Strategische Ziele aber geraten dabei aus dem Blickfeld. Religiös verbrämte Großziele wie "Klimaschutz" oder "Energiewende" mögen beim linksökologischen Wähler-Mainstream beliebt machen, wo man die Weltrettung nicht mehr Superman alleine überlassen will. Die wichtigeren Dinge aber spielen sich nun einmal unterhalb aller großen und letzten Dinge ab.
Deutschlands Rolle in Europa und der Welt zu definieren etwa ist durchaus anspruchsvoll – mag sein, dass sich manch einer im Außenministerium davon überfordert fühlt.
Doch auch darin könnte Führungsstärke liegen: Europa anders zu denken, auch so: Europa ohne den Euro zu denken. Hoffentlich macht sich schon jemand Gedanken darüber. Gut möglich, dass die Ruhe vor dem Sturm nur noch bis zum Tag nach der Bundestagswahl am 22. September währt.
Zuerst in: Die Welt.
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Ein kluger und fundierter Text. Wenn solche klugen Gedanken auch einmal unsere Politiker heimsuchten! Aber einmal im Amt, verlernt man offenbar das Denken, und es geht um ganz andere Dinge als das Wohl des deutschen Volkes.
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