Mittwoch, 3. Juli 2013

Schlesischer Wein. Alles fließt, oder: come together

Das durchdringende Geheul der Jerichotrompeten, mit denen 87 Stuka in den Morgenstunden des 1. Septembers 1939 die polnische Stadt Wielun heimsuchten, hat Zbigniew Czarnuch noch heute im Ohr. Damals war er neun Jahre alt und lebte ganz in der Nähe. Er sah die Menschen flüchten, erlebte, wie der Vater in den Untergrund ging, und empfand dennoch, wie er breit lächelnd erzählt, als großen Vorzug der deutschen Besatzung, dass er nicht mehr zur Schule gehen musste. Der Junge wurde Herr über 100 Schafe und lernte statt grauer Theorie ein lebendes Dorf kennen, in dem jede Kreuzung und jede Brücke ihre Geschichte hat. Seither ist er der Meinung, dass menschliche Ansiedlungen sprechen.
Der 82jährige, ein kleiner Mann mit weißem Schnurrbart, vollem Haar und handfestem Charme , empfängt in einer mit Büchern und Zeitungen vollgestopften Dreizimmerwohnung, serviert Tee und alkoholgesättigten Kuchen und bietet Wodka an, wonach den Besuchern um 15 Uhr noch nicht ist. Außerdem glaubt man dem Lehrer und Heimatforscher auch ohne Alkohol, dass die Steine zu ihm sprechen – jede Brücke eine Legende, jede Straße eine Story, jedes Haus ein vielstimmiger Gesang. Czarnuch hat ein feines Gehör – auch für Menschen.
In Witnica (Vietz), wo er seit 1945 lebt, weil der Vater einen Posten in der neu aufzubauenden Verwaltung bekam, blieben die Steine lange Zeit stumm. Es gab ja keine Alteingesessenen mehr, die Deutschen waren geflüchtet oder vertrieben, und die jetzt dort gelandet und gestrandet waren, waren ebenfalls nicht freiwillig gekommen. Die kommunistische Führung erzählte zwar gern, sie würden nun in „wiedererlangten Gebieten“ siedeln. Vietz gehörte 1250 zu den Gütern des Templer-Ordens. Die polnischen Piasten hatten ihren Einfluss längst verloren.
Der junge Czarnuch wollte keine deutschen Stimmen hören, als überzeugter Kommunist befreite er Vietz mit dem Hammer von deutschen Symbolen und Emblemen und übermalte deutsche Schilder und Aufschriften. Als er Jahre später die Geschichte von Witnica schreiben wollte, merkte er, dass der Ort nicht zu ihm sprach. Erst der Kontakt zu den einst vertriebenen Deutschen, zunächst aus der DDR, nach 1989 auch aus dem Westen, öffnete Türen und Ohren. Ein Ort lebt nur, wenn alle Stimmen gehört werden, sagt Czarnuch. Also auch die der vertriebenen Deutschen, späte Besucher, die ihn berührt und gerührt haben.
Czarnuch hat keine Geschichten zu erzählen von anmaßenden Deutschen, die nach Schlesien kommen, um den Verlust ihres Eigentums zu beklagen. Er hat sie offenbar nie getroffen. Im übrigen sei nicht zu bestreiten, dass es bei der Vertreibung der Deutschen, die ihren sämtlichen Besitz zurücklassen mussten, alles andere als korrekt zugegangen war. Für seine Verdienste um die Verständigung zwischen Polen und Deutschen wurde er 2009 mit dem Georg-Dehio-Kulturpreis ausgezeichnet. Es gehöre Mut dazu, meint er, zuerst Mensch zu sein, bevor man sich als Pole empfindet.
Damit machte man sich nicht nur im kommunistischen Polen unbeliebt. Das hören auch heute dort viele nicht gern. Aber vielleicht fällt dieser Mut in Schlesien leichter als anderswo in Polen?
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Ob Schlesien nicht die geeignete Landschaft wäre für den sanften Übergang von Deutschland zu Polen, für ein langsames Verschmelzen in naher Zukunft? Piotr Firfas, unser Fremdenführer durch Zielona Gora, das ehemalige Grünberg, stimmt mit leuchtenden Augen zu, wenn man ihn das fragt. Er hat in Gießen und Germersheim studiert und spricht ein hervorragendes Deutsch. Natürlich gehören hier Polen und Deutschland zusammen, das Deutsche ist schließlich an allen Ecken und Enden präsent, Häuser und Straßen sprechen beide Sprachen, und die Fiktion von der Stunde Null im Jahr 1945 wird längst nicht mehr gepflegt. Im Gegenteil: In Grünberg hat man erkannt, dass es dem Fremdenverkehr förderlich ist, wenn man Geschichte vorweisen kann.
Die Geschichte, etwa, der Weinbauregion um Grünberg herum. Im Weinmuseum kann man alten Fässern und deutschen Namen begegnen. Bereits 1250 sollen Mönche vom heute opulent barock restaurierten Kloster Paradies mit dem Weinbau begonnen haben. Mit 200 ha liegt hier, auf 51° 56` nördlicher Breite und 15° 31` östlicher Länge, das nördlichste geschlossene Weinbaugebiet der Welt.
Die jahrhundertealte Weinbautradition wurde mit der Vertreibung der Deutschen beendet. Es gab 1945 niemanden, der sie hätte fortführen können. Vom kollektivierten Weinanbau im kommunistischen Polen gibt es nichts zu berichten, das Experiment endete 1960. Doch schon 1990 begannen Pioniere, die Weinberge am Hang der Oder wiederzubeleben. Und sie erkannten die Vorteile, die es bringt, an einen alten Ruf anzuknüpfen.
Mit Grempler & Co entstand 1826 in Grünberg die erste deutsche Sektkellerei, die jährlich bis zu 800 000 Flaschen Sekt weltweit auslieferte. Was nicht Sekt wurde, machte man zu Cognac: Albert Buchholz gründete hier „die größte Cognac-Brennerei Deutschlands nach reichsamtlicher Statistik“. Die Vorfahren zweier Spitzenwinzer im australischen Barossa Valley, Peter Lehmann und Johann Christian Henschke, stammen aus der Grünberger Gegend.
Heute gibt es auf gut 100 Hektar etwa hundert Winzer. Mit 6 Ha das größte Weingut dürfte Stara Winna Góra sein, aufgebaut von Marek Krojzig, der sein Geld mit Schaumstoff verdiente, bevor er auf seinem Grundstück bei Cigacice (Tschicherzig) alte Reben entdeckte und sich für den Weinanbau begeisterte. In Weingut und Hotelanlage ist viel investiert worden, allerdings nicht nur Geschmack, und die Häuser mit Walmdach und viel Holz spiegeln Tradition vor, die es nicht gibt. Hier trinken die gehobenen Kreise Polens ihren Riesling oder Regent. Den Wein kann man nur auf dem Gut kaufen, und im Verhältnis zur Qualität ist er teuer.
Das Gegenstück zum Prestigeobjekt Stara Winna Gora ist Roman Grads Weinberg Julia, der gerade mal 0,1 Hektar hat. Expertise und Reben kommen hier wie dort nicht selten aus Geisenheim.
Obwohl Polen seit 2005 als Weinland anerkannt ist, sind die Grünberger Weine nicht im freien Handel zu haben. Die bürokratischen Hürden sind hoch, sie zu überwinden ist teuer. Für Touristen ist das nicht ohne Vorteil: die Karte der Lebuser Wein- und Honigstraße verzeichnet 26 Winzer, bei denen man einkehren und probieren kann. Die eine oder andere Rebe wächst zudem im Park eines alten Herrenhauses.
Die Weinmacher sind eine internationale Community. Wer Winzer ist, hat viele Freunde – nicht zuletzt in Deutschland, wo Weltklasseweine gedeihen. Wein verbindet. Auch so wächst etwas zusammen.
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Wer sich in Christel Fockens Obhut begibt, sollte aufpassen: die starke Frau mit den kräftigen Händen hat in einem ihrer vielen früheren Leben eine Szenebar in Berlin betrieben. Heute ist sie Vorsitzende des von ihr gegründeten Bundesvereins Privater Historiker. Seit fünfzehn Jahren erkundet sie einen Teil des „Ostwalls“, den 35 Kilometer langen Mittelabschnitt der östlichen Frontlinie, der eigentlich „Festungsfront Oder-Warthe-Bogen“ heißt. Ihre Instruktionen für die Führung sind militärisch knapp: keine Protzautos. Keine Stöckelschuhe. Kein Schnaps. Übeltäter werden von der Führung ausgeschlossen. Warnung: „Sie bringen sich sonst um interessante Erlebnisse!“ Was muss die Frau bei ihren Führungen wohl alles schon erlebt haben? Leichtbekleidete Damen? Betrunkene Heil-Hitler-Gröler?
Am Tag unserer Führung regnet es in Strömen. Vor dem Eingang in den Bunker stehen Männer und Frauen in überaus korrekter Kleidung, in Tarnanzügen und Regencapes, als ginge es in eine Tropfsteinhöhle. Nicht für jeden ist der Besuch ein Abstieg in die Vergangenheit, der Untergrund ist auch bei Radfahrern und Paintball-Spielern beliebt. Im Treppenhaus seilen sich Todesmutige ab. Wir benutzen die völlig intakten Stufen.
In den langen Gängen selbst ist es gleichmäßig kühl temperiert und trocken. Das einzig Martialische sind die Graffiti an den Wänden. Nazi-Grusel ist nicht das Spannende an der gigantischen Anlage aus Bunkern, Panzerwerken und raffinierten Brückenanlagen. Sie ist ein Wahrzeichen deutscher Ingenieurskunst und so kriegsbedeutend wie die französische Maginot-Linie. Also gar nicht. Denn der imponierende Bau hat seine Feuertaufe nie erlebt.
1934 begann man mit dem Bau, 1939 verfügte Hitler den Baustopp. Er hielt den Festungsbau im Westen für dringlicher. Vor allem aber habe man keinen Bedarf für Festungen, „die nur zur Konservierung von zahlreichen Nichtkämpfern dienen“. Als man die Anlage gegen die vorrückenden Russen hätte gebrauchen können, war sie nicht mehr funktionstüchtig, man hatte sie weitgehend ausgeschlachtet. Auch fehlten Soldaten, um sie auf die Schnelle in Betrieb zu nehmen. Die Rote Armee überrollte sie.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde der Ostwall zunächst von den Russen und später von der Polnischen Armee genutzt. 1957 war es damit vorbei, der Ostwall war vergessen. Heute ist er eine Attraktion, um die sich Christel Focken verdient gemacht hat. Der Bürgermeister von Meseritz (Międzyrzecz ) hat sie zur „Ehrenbotschafterin“ der Anlage ernannt.
Bunkertourismus also. Und warum nicht? Was soll man auch sonst mit der Anlage machen? Sie ist ein deutsches Erbe, das fest mit der Landschaft verbunden ist, man kann es ihr nicht mehr entreißen. Am besten arrangiert man sich damit.
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Das Bier ist gut, der Wodka ebenfalls, das Essen schmeckt und der Wein kommt aus Australien, weil der Grünberger ja nicht ausgeschenkt werden darf. Zum Frühstück gibt es Tütentee und Nescafé, gefüllte Eier, nahrhafte Salate, schwere Kuchen. Wir übernachten in einer alten Johanniterburg und in einem prächtigen Herrenhaus, beide trächtig mit deutsch-polnischer Geschichte. Im Herrenhaus wird passenderweise eine deutsch-polnische Hochzeit gefeiert. Niemand jammert über Deutschland, und es ist auch keine Angela Merkel mit Hitlerbärtchen zu sehen. Weil Polen keinen Euro hat? Das hat für Touristen einen unschätzbaren Vorteil: Noch kann man sich die Preise dort leisten.
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Polen ist einer unserer engsten Nachbarn. Kaum ein Land hat bessere Voraussetzungen, um die Drehscheibe zwischen Ost und West werden. Junge Polen, die erkannt haben, dass ihr Land zum Mittler taugt, sprechen russisch, deutsch und englisch. Während der Euro Nord- und Südeuropa entzweit, verbindet sich hier im Grenzgebiet zwischen Polen und Deutschland ganz allmählich etwas, zaghaft, uneingestanden, schüchtern. Das, was einst Schlesien war, ist die denkbar schönste Brücke.


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