Was für ein Moment: Ich sitze direkt hinter der Queen, nur drei schlanke Stühlchen entfernt. Die trägt ein schlichtes eierschalfarbenes Kleid, sitzt auf einem etwas weniger schmalen Stuhl und friert auch an diesem kühlen Juniabend im zugigen weißen VIP-Zelt offenbar kein bisschen. An ihrer Seite sitzen zwei kunstvoll verpackte Herren, mit denen sie sich glänzend zu unterhalten scheint. Der rechts von ihr, im blauen Rock, den Helm mit Schwanenfedern geschmückt, ist George Pemberton Ross Norton, (noch) der Kommandeur der Household Division. Die umfasst zwei Regimenter, die Life Guards und die Blues and Royals, deren Befehlshaberin übrigens Princess Anne ist.
Was sich auf dem Exerzierfeld vor uns und vor zahlreichen zahlenden Besuchern auf den Tribünen rechts und links abspielt, gehört zu den bei traditionsfreudigen Briten beliebtesten Events. Es nennt sich „Beating the Retreat“. Einmal im Jahr gibt sich die Household Division die Ehre und zeigt, gemeinsam mit den Musikkorps anderer Regimenter, zu welcher Pracht- und Talententfaltung Soldaten fähig sind.
"Trooping the colour"gibt es schon seit Karl dem II. und ist seit 1805 ein öffentliches Spektakel auf der Horse Guards Parade, dem größten offenen Platz in London. „Beating the retreat“ hat eine nicht ganz so lange Tradition wie der Geburtstagsgruß an die Königin – erst nach 1945 wurde aus dem schlichten Hornsignal zum Sammeln nach dem Ende der Schlacht ein wiederkehrendes Ereignis: Ein Signal an die vom Krieg erschöpfte Bevölkerung.
Wer im weißen VIP-Zelt sitzt, hat Tradition und Gegenwart auch im Rücken. Direkt hinter uns, im Gebäude der Horse-Guards, einem Bau im Palladium-Stil, befindet sich das Büro des Duke of Wellington, des Bezwingers Napoleons. Vor dem Spektakel gab es einen Empfang mit Fingerfood und Cocktail, jetzt sitzen dort die Gattinnen von Prince Charles und Prince William, um dem Geschehen unten vom Fenster im ersten Stock aus zuzusehen.
Das große Spektakel zu Pferde und zu Fuß, mit Pipes and Drums and Bugles, hat Züge eines aufwendigen Balletts, an dem sich das Publikum enthusiastisch beteiligt, wenn es nämlich aufstehen muss, weil die Queen vorfährt oder wegfährt, weil „Rule Britannia“ erklingt oder „God Save the Queen“. Nichts für Deutsche, die schon beim vergleichsweise bescheidenen „Großen Zapfenstreich“ Magenschmerzen bekommen. In Großbritannien hingegen feiert man völlig unbefangen eine große Tradition – und die Queen, die sie verkörpert, und die auch heute Abend nicht gelangweilt wirkt, obwohl sie in ihrer Amtszeit diese und andere Demonstrationen britischer Militärtradition schon mehr als hundertfach erlebt hat.
Beneidenswertes Britannien? Ja. Doch. Über den Respekt vor der Monarchin, dieser alten Dame da vorne, im Laufe der Jahrzehnte geschrumpft, erfährt die Nation Respekt vor sich selbst. Und für Soldaten, die ihr Leben riskieren, mag es einfacher sein, der Königin zu dienen – mit „Liebe“ und „Stolz“, wie General Norton versichert - als einer Versammlung von Politikern konkurrierender Parteien, in deren Urteil über Krieg oder Frieden militärisch gebotene Risikoabwägung selten an erster Stelle steht. Eine Königin kann man lieben, den Staat betrachtet ein echter Engländer eher sachlich.
Das macht die Frage müßig, ob das denn sein müsse und dem Ernst der Lage gerecht wird, diese Zurschaustellung prächtiger Schlachtrösser, unbequemer Uniformen und antiker Waffen. Hier feiert die Nation ihre Tradition, ganz einfach. Gleich nebenan, im Museum der Horse Guards, kann man ja nachprüfen, wie Soldaten gekleidet sind, die heute im Kampfeinsatz stehen. Denn die Regimenter der Household Division sind nicht allein zum Pläsier der Königin da, sie bestehen aus kämpfenden Truppen. Und ironischerweise ist ein Teil der zeremoniellen Aufgaben keine schlechte Schulung für Soldaten, die beim Einsatz in fernen Ländern Geduld und ein dickes Fell haben müssen: Angehörige der Horse Guards sitzen stundenlang auf ihren geduldigen Pferden, ohne sich von lästigen Touristen aus der Ruhe bringen zu lassen, die rücksichtslos auf Tuchfühlung gehen für das Foto, das sie zu Hause vorzeigen können.
Und nicht zuletzt dient der Aufmarsch unter Pauken und Trompeten der Sichtbarkeit: die Nation muss ihre Soldaten nicht verstecken, die sie nach Afghanistan oder sonstwohin schickt. Das hat man in Großbritannien im übrigen lange Zeit getan: geschuldet dem irischen Konflikt. Seit Ende der sechziger Jahre haben Armeeangehörige darauf verzichtet, in der Öffentlichkeit Uniform zu tragen. Das änderte sich mit der Olympiade, bei der die Armee Sicherheitsaufgaben übernahm. Nun stellte man fest, dass die Briten ihre Soldaten schätzen.
Die Bundeswehr hat keine vergleichbare Tradition (und im übrigen auch nicht annähernd so farbenprächtige Uniformen), obzwar die Geschichte deutscher Armeen nicht bei Hitler mündet und mit ihm endet. Dabei erinnert eine hübsche Szene des Militärspektakels an einen Kampf, der auch auf deutschem Ruhmesblatt steht: Zu Beethovens „Wellingtons Sieg“ rücken siegesgewisse britische Soldaten gegen ein paar armselige französischen Landser vor, an ihrer Seite eine zerrupfte Marianne, die, obzwar sie ihre Gewehre hektisch stopfen, hoffnungslos unterlegen sind. Man wüsste gern, wie ein französischer Beobachter die Szene empfindet. Nett ist die Erinnerung an die siegreiche Schlacht gegen französische Truppen bei Vitorio am 21. Juni 1813 nicht, die zwei Jahre vor Napoleons Waterloo stattfand – eine Niederlage, die ihm auch die Preußen zugefügt haben.
Glückliches Britannien, das stolz auf eine ungebrochene Tradition sein darf? Ja und nein. Der erste Weltkrieg, in den das Land sehenden Auges hineingeschlittert ist, hat das Empire gekostet und kein Problem gelöst, sondern viele neue geschaffen, nicht zuletzt im Nahen Osten. Auch der Mythos Churchill wankt. Viele in Großbritannien mögen die Deutschen dafür bewundern, dass sie sich ihrer Vergangenheit stellen, mit einer nirgendwo sonst zu findenden Radikalität. Doch das bedeutet nicht, dass man sich Ähnliches anzutun gedenkt: man fühlt sich in Großbritannien, ähnlich wie in Frankreich, noch immer als Großmacht. Dabei sind es insbesondere britische Historiker, die mit den eigenen nationalen Mythen hart ins Gericht gehen. Wenn es um das Gedenken an den Ersten Weltkrieg geht, auf das man sich für die Jahre 2014 bis 2018 vorbereitet, wird man sich auf das gute alte Spiel des Hun-Bashings nicht verlassen können.
Der Rolls Royce fährt vor. Die Queen steigt ein und fährt davon. Doch wer weiß: Vielleicht kommt der nächste König im Mercedes. Man mag deutsche Autos auf den Inseln.
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