Montag, 4. November 2013

Die Provinz leuchtet

Was sich geändert hat? Es riecht jetzt anders. Und es klingt anders, dort, wo ich lebe, in der oberhessischen Provinz, am Rande des Vulkans.
Am Anfang war der Schrei: ein langgezogenes „Aaaa-uf!“, mit dem die Nachbarin ihre Milchkühe angetrieben hat, begleitet vom Klatschen des dicken Stocks aus Buchenholz auf den Hintern der trödelnden Tiere. Dazu das Geräusch, das Kuhfladen machen, wenn sie auf Asphalt treffen: so ein kurzer, saftiger Platsch, wie ein zerberstender Apfel. Morgens und abends das gleiche Schauspiel, früh auf die Weide, später zurück zum Melken in den Stall. Das ordnete meinen Tag, wie die Kirchenglocken im Nachbarort.
Den meiner Nachbarin auch: Eine Kuh macht Muh, viele Kühe machen Mühe. Irgendwann trennte sie sich schweren Herzens vom Milchvieh. Statt dessen zogen Schweine in den Stall, der Duft nach Milch und verdautem Gras wich dem scharfen, strengen Gestank von Ammoniak. Und anstelle des satten Rülpsers einer zufrieden mampfenden Milchkuh hört man seither nebenan das empörte Schreien eingesperrter Fleischreserven.
Ja, das Dorf klingt anders, auch, weil Hermann fehlt. Der Hahn, der jeden Morgen bereits um vier verschnupft losgurgelte, ist tot. Ich vermisse ihn. Mehr noch die geschäftigen Hennen, hübsche Zwergwyandotten und prächtige Legehühner, die beste Eier gaben. Erst hat der Nachbar die Kaninchenzucht aufgegeben, danach wurden die Hühner abgeschafft. Und nun mussten auch noch die jubilierenden Kanarienvögel weichen – Hubert hat’s am Knie und ist sowieso nicht mehr der Jüngste.
Frei lebende Singvögel machen sich hier schon lange rar, das verdanken wir den hässlich schnarrenden Elstern. Wenigstens die Greifvögel von der nahen Flussaue rufen noch ab und an kreisend über dem Dorf. Kein Trost sind nächtliche Katergefechte.
Ja, es wird leiser im Dorf. Wenn man die Rasenmäher nicht zählt. Ebenfalls verzichtbar ist das Theater beim frühmorgendliche Abtransport der Schlachtschweine, ein schreckliches Schreien und Trommeln, das den Vegetarier in mir weckt. Doch auch das ist bald vorbei. Dann hört man morgens wahrscheinlich nur noch ein Flugzeug, das Warteschleife fliegt, weil der Frankfurter Flughafen überlastet ist. Oder den Bäckerwagen, der sein Kommen durch lautes Hupen ankündigt, was immer noch erträglicher ist als das fröhliche „Hier kommt der Eiermann“, das erschallt, wenn der Mann mit Wurst und Käse heranbraust. Aber ihm sei verziehen: die Nachbarin, um die neunzig, die jeden Tag wie um die siebzig mit dem Hund durch die Flussaue läuft, kauft lieber bei ihm als im Supermarkt, der ist zwei Dörfer entfernt. Überhaupt, die Alten, von denen es in meinem Dorf übrigens weniger gibt als Kinder: sie werden steinalt hier. Woran das liegt?
Bald hat es hier mehr Pferde als Rinder. Die Gemüsegärten mit den bunten Blumen und Stauden werden weniger. Die Maisfelder nehmen zu. Und nachts sind die Sterne ferner gerückt, seit sie am Horizont wie Weihnachtsbäume stehen und leuchten und leuchten: Windkrafträder, die Feinde der dunklen Nächte. Und des roten Milans und der Zugvögel. Sie sind so bekömmlich für die Natur und die karge Schönheit des Vogelsbergs wie die Monokulturen der Maisfelder.
Und dann ist auch noch Herbst. Äpfel fallen, Nebel wallen. Zeit fürs Kaminfeuer und eine gute Dosis Melancholie mit Hilfe von Schnaps und Statistik: Lasst uns leben hinterm Mond, solange das noch geht. Das Dorf stirbt. Der Untergang ist nah. Aber wir können sagen, wir sind dabei gewesen.
Die Provinz leuchtet nicht, sie lichtet sich, sagen die Zahlen. Erst starben die Dorfkneipen, dann die Tante-Emma-Läden, jetzt sind die erst ein paar Jahrzehnte alten Kläranlagen zu groß für die kleiner werdenden Haushalte, in denen Menschen leben, denen man das Wassersparen beigebracht hat. Das war in unserer Region immer schon unnötig, mittlerweile zerstört es die Kanalisation. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, die alte Hausgrube aufzugeben, um statt dessen die Fäkalien und Abwässer in den Kanal zu leiten? Doch wir mussten, die Ideologie der „Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen“ wollte es so – gleiche Standards für alle, egal, wie unterschiedlich die Lebenslagen sind. Kläranlagen aber verursachen den Kommunen die höchsten Energiekosten.
Ja, die Situation ist da, besonders spürbar in den „neuen“ Bundesländern: die Infrastruktur ist zu groß für die schwindende Bevölkerung; die Kosten bleiben gleich, verteilen sich jedoch auf weniger Nutzer. Das Leben in der Provinz wird teuer. Häuser stehen leer und verfallen, die noch bewohnt sind, verlieren an Wert. Erst recht die in der Nähe von Wind“parks“ und Starkstromleitungen. Wir Letzten vom Land leben in einer Abwärtsspirale. Abreißen oder Umziehen, empfehlen Studien für die besonders betroffenen Regionen.
Also weg mit den Dörfern und dem Landleben? Der freien Wildbahn eine Chance? Irrtum: Die Tierwelt macht es den Menschen nach und zieht in die Stadt. In Berlin stromern Füchse durch die Schrebergärten, in den Parkanlagen von Frankfurt am Main fühlen sich Singvögel wohler als in den agrarischen Monokulturen, die Kaninchen wissen das schon längst und vermehren sich entsprechend.
Die Provinz aber soll zur Stellfläche für Windräder und Biogasanlagen werden, meinen manche, weil das ja gut für die Natur sei, wenn auch nun nicht gerade für jene Schrumpfnatur, die sie umgibt. Der Bauer als Verpächter seiner sauren Wiesen hat es prima damit, von der Pacht lässt sich gut leben und das Schweinefleisch kommt eh billiger aus Dänemark. Das Land überlebt in den nach ihm benannten Zeitschriften, die man vor allem in der Stadt liest, wo viele statt Wetter nur noch klimageregelte Zonen kennen.
Wie in den Science Fiction-Romanen der 70er Jahre wird sich die Provinz irgendwann zum feindlichen Draußen wandeln, zur hässlichen Versorgungswüste für den Energiebedarf der Städte. Aber ganz wie im Roman werden auch sie irgendwann kommen, die Unpassenden, die Freaks, die Stadtflüchtlinge, die sich in den Nischen der Zivilisation ihr eigenes Paradies suchen. Es hat sie immer gegeben.
Kein Trend ist unumkehrbar. Immer wieder gab es Gegenbewegungen zum Zug in die Metropolen, suchen Städter Ruhe und geräumige Fachwerkscheunen und entdecken die Kunst des Gartenbaus neu. Stets wird irgendwann der Wert des Alten wiederentdeckt, weil es Charakter hat und beständiger ist als die Wegwerfarchitektur der Lebensabschnittshülsen in den Wohnstädten.
Wir werden ja sehen. Wir Letzten.

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