An den westdeutschen Universitäten wurde lange Jahre gelehrt, Deutschlands zwölf dreckige Jahre verdankten sich einem „deutschen Sonderweg“, der es vom „Westen“ ab- und in die falsche Richtung geführt habe. Erst durch zwei militärische Niederlagen, also nur mit Gewalt, sei das Land auf den richtigen Weg gezwungen worden – in Richtung westlicher Demokratie.
Gegen diese These kann und konnte man viel einwenden. Das Deutsche Reich unter Wilhelm II. war natürlich keine Demokratie, hatte aber einen überaus lebhaften Parlamentarismus mit einer starken sozialdemokratischen Fraktion, die auch über ihre Presse ein wirksamer Öffentlichkeitsfaktor war. Überhaupt: was wäre denn der „normale Weg“ gewesen, von dem Deutschland abgewichen wäre? Frankreich in und nach der französischen Revolution? Oder gar Frankreich unter dem Blitzkrieger Napoleon?
Wäre demgegenüber nicht der britische Weg vorzuziehen gewesen, der Weg beständiger Eindämmung von Herrscherwillkür durch Eigentumssicherung, persönliche Freiheit und Gewaltenteilung? Es muss nicht immer Revolution sein.
Egal: heute ist Deutschland im Westen angekommen. Oder? Denn erst jetzt oder jetzt erst recht beschreitet es Sonderwege: in der Energiepolitik, der Eurostrategie und in der Frage nationalstaatlicher Grenzen, an denen nicht nur die EU-Staaten festhalten wollen – bis auf Kanzlerin Merkel, deren Toleranz bis zur Aufgabe der staatlichen Souveränität zu gehen scheint.
Was aber bedeutet Toleranz? Alles hinnehmen? Und was ist der Westen, was seine „Werte“? Der Publizist Alexander Kissler analysiert in seinem klugen neuen Buch „Keine Toleranz den Intoleranten“ die Wurzeln dessen, was er für verteidigenswert hält: die Freiheit des Individuums anstelle von Klientelismus und Paternalismus liegt am Grund von Europas Stärke, Wettbewerb hat uns für gut 500 Jahre zur Lokomotive von Wachstum und Fortschritt gemacht, die Trennung zwischen göttlichem und weltlichem Gesetz liegt an der Basis unserer religiösen Toleranz. Das alles unterscheidet den Westen von Kulturen mit islamischer Prägung, dort ist das Individuum nichts, die Umma alles und das göttliche Gesetz steht über allem – auch, für viele der hier lebenden Muslime, über dem Grundgesetz.
Üben wir Toleranz bis zur Selbstaufgabe?
Oder üben wir sie den Falschen gegenüber?
Eines der erhellendsten Kapitel in Kisslers Buch über die Werte des Westens und wo man sie verteidigen muss ist von aktueller Brisanz. Es geht um das gestörte Verhältnis vieler Deutscher zu Israel und den eklatanten Antisemitismus vieler Muslime. Das ist ein Thema, das in der aktuellen Berichterstattung ebenso zu kurz kommt wie in der Analyse der mit der massenhaften Migration verbundenen Probleme. Eine große Mehrheit der Zuwanderer dürfte muslimisch zu sein. Viele bringen den Judenhass mit, mit dem sie aufgewachsen sind.
Schon im letzten Sommer waren die Zeichen zu lesen. Auf deutschen Straßen wurde von muslimischen Demonstranten „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“ skandiert (in Gelsenkirchen), „Kindermörder Israel“ (Frankfurt am Main) oder „Jude, Jude, feiges Schwein“ und „Scheiß-Juden, wir kriegen euch“ (Berlin). Die Polizei schaute zu oder reichte sogar hilfreich die Flüstertüte.
Muslimischer Antisemitismus, steht zu befürchten, könnte sich hierzulande mit einer Ablehnung Israels verbünden, die nicht nur im linken Milieu fest verankert ist, sondern bis weit in die bürgerliche Mitte reicht. Was derzeit in Israel geschieht, diesem winzigen Land, der einzigen Demokratie im Nahen Osten, ja: dem Bollwerk des Westens inmitten arabischer Feinde, ist den meisten Medien nur eine Randnotiz wert. Dabei ziehen seit zwei Wochen Palästinenser und israelische Araber durch die Straßen Jerusalems oder Tel Avivs, bewaffnet mit Messern und Äxten, Sprengstoff und Autos.
Doch von Judenhassern überfahrene, erstochene oder verletzte Israelis tauchen in den Schlagzeilen selten auf, lieber prangert man die „maßlose“ israelische Gegenwehr an. Überhaupt wird gern von einer „Welle der Gewalt“ oder von einer „Gewaltspirale“ gesprochen, als ob beide Seiten gleichermaßen dafür verantwortlich seien. Die Täter mutieren treu der palästinensischen Propaganda zu den eigentlichen Opfern, denen man „Verzweiflung“ zugutehält. Die Israelis hingegen – Kindermörder, die jüngst zwei minderjährige Palästinenser mutwillig erschossen haben. Das stimmt natürlich nicht, einer der beiden, ein Dreizehnjähriger, der mit seinem fünfzehnjährigen Cousin zwei Israelis mit Messerstichen verletzt hat, lebt und wird in einem israelischen Krankenhaus versorgt.
Auf welcher Seite, fragt sich da, stehen wir also jetzt und in Zukunft? Was ist die Erinnerung an den Holocaust wert, fragt Kissler, auf die man die Migranten und Neubürger wohl schwerlich verpflichten kann? Und wie steht es, frage ich, um die Solidarität mit Israel als westlich geprägter Demokratie, und zwar ganz abgesehen von der deutschen Vergangenheit? Anders herum: wie viel Toleranz muss man eigentlich seinen erklärten Feinden entgegenbringen?
Alexander Kissler zeigt mit Cicero und John Locke, der Bibel und Voltaire, wo Selbstvergewisserung zu finden wäre: „Wir Menschen des Westens müssen unsere gemeinsame Geschichte wieder erzählen können. Wir müssen wieder wissen, woher wir stammen, wie wir wurden, was wir sind, und diese Geschichte weitertragen – unverzagt, gelassen, nimmermüde. Wir müssen, um die Toleranz zu ihrer wahren Größe zu befreien, erkennen, dass sie nicht Ignoranz meint und nicht Desinteresse.“
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