Mittwoch, 4. November 2015

Deutschland - vom Ende her gedacht

Was will Angela Merkel? Wo ist ihr Grand Design, wo der Entwurf einer Außenpolitik, die diesen Namen verdient? Was sind ihre Ziele – bei der Griechenlandrettung oder angesichts der Migranten, die nach Deutschland strömen? Hat sie welche? Weiß sie, was sie tut? Oder gibt es übergeordnete Gesichtspunkte, die das dumme Volk nicht versteht?

Die Kanzlerin war und ist ein Rätsel und beschäftigt ihre Interpreten, die sich nicht ganz so wortkarg geben wie die Kanzlerin selbst, die gern in der ganz einfachen Sprache zu ihrem Volk spricht. Eine Antwort lautet: sie will Europa retten.

Was könnte edler sein?

Europa, im ewigen Frieden, war ein schöner Traum. War es nicht die Lehre aus dem selbstzerstörerischen Blutvergießen im 20. Jahrhundert? Und müssen nicht gerade wir Deutschen, angesichts der Vergangenheit, bornierte nationale Interessen dafür opfern?

Dieser Glaube, den Politiker und Meinungsmacher jahrelang gepredigt haben, ist vielen Deutschen mittlerweile gründlich vergangen. Die Evidenzen sprechen gegen den Traum. Die Eurokrise hat gezeigt, dass die gemeinsame Währung Europa nicht geeint, sondern entzweit hat. Und angesichts der Migrantenströme, die Europa durchkreuzen, wird vollends deutlich, dass Europa trotz EU und Euro bleibt, was es war: eine Ansammlung dickköpfiger Völker, die an den Eigenheiten ihrer jeweiligen Vaterländer und an ihren nationalen Interessen eisern festhalten wollen.
Wer will da noch Europa retten?

Genau deshalb könnte man auf die Idee kommen, dass an dieser Interpretation des Rätsels Merkel etwas dran ist. Schließlich verstanden insbesondere die Franzosen unter Europapolitik stets alles, was Deutschlands Macht einzudämmen in der Lage war. Sofern man das unter friedensstiftenden Maßnahmen versteht, waren EU und Euro gewiss der richtige Weg – man nahm den Deutschen mit der DM ihre Atombombe aus der Hand, wie Mitterands Berater Jacques Attali einst sagte. Auch die deutsche Griechenland“rettung“ könnte so verstanden werden, denn was immer die Kanzlerin anderen Ländern im Sinne einer „Austeritätspolitik“ empfahl: am Ende zahlen die Deutschen, wie Griechenlands ehemaliger Finanzminister Jannis Varoufakis einst hellsichtig bemerkte. (Über der Migrationsdebatte sollten wir nicht vergessen, dass das griechische Dilemma mitnichten aus der Welt ist.)

Ist die große Geste Angela Merkels, die Grenzen für Hunderttausende von Menschen zu öffnen, von denen man in unzähligen Fällen noch nicht einmal weiß, woher sie kommen, also womöglich ein weiterer Beleg für die These, dass Deutschland sich für Europa opfert? Keines der anderen europäischen Länder ist bereit, die eigenen nationalen Grenzen und Interessen in gleichem Maß zu riskieren, und wenn es jemals einen deutschen Sonderweg gegeben hat, dann ist er hier für alle klar erkennbar: unter Kanzlerin Merkel ist Deutschland ein moralischer Riese. Das Land hat eine Bürde auf sich genommen, die niemand sonst tragen möchte.

Doch damit zeigt sich zugleich, dass unser Land ein Problem bleibt – was immer es ist oder tut.

Militärisch ist Deutschland ein Zwerg, doch ökonomisch noch immer, wenn auch womöglich nicht mehr lange, das Zugpferd Europas. Die Masse der Migranten könnte das womöglich ändern. Denn es kommen nicht die syrischen Ärzte – die in Syrien im übrigen dringender gebraucht werden als bei uns – sondern, soweit wir wissen, überwiegend unqualifizierte junge Männer, viele von ihnen sind Analphabeten. Sie werden den Sozialstaat brauchen, ohne ihm auf lange Sicht zu nützen. Auch hier zeigt sich, wie wenig Europa schon Wirklichkeit ist: ein soziales System wie das der Bundesrepublik funktioniert nur in nationalstaatlichen Grenzen und nur, solange die ökonomische Maschine auf Hochtouren läuft. Deutsche Wirtschaftsmanager aber haben längst aufgehört, dem Ansturm arbeitsfähiger junger Männer zu applaudieren, es gibt hierzulande kaum noch einen Markt für unqualifizierte Arbeit, nicht nur, aber auch wegen der unsinnigen Verpflichtung auf einen Mindestlohn.

Schafft Deutschland sich ab? Hat Thilo Sarrazin recht behalten, der das vor fünf Jahren prognostiziert hat? Und hätte das, so sehr man es bedauern möchte, womöglich friedensstiftende Wirkung?

Oder ist damit nicht eher die Befürchtung des ehemaligen polnischen Außenministers Sikorski eingetreten, der 2011 sagte: „Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit“?

Angela Merkels Verzicht auf nationalstaatliche Souveränität – nichts anderes bedeutet ja ihre These, dass Deutschland seine Grenzen nicht schützen könne – steht der Trend in unseren Nachbarstaaten entgegen, die eigene nationale Identität zu bewahren. Sollte Angela Merkel tatsächlich deutsche Interessen für Europa opfern wollen, so wird es ihr jedenfalls nicht gedankt.

Was soll man also hoffen? Dass unsere Merkel-Interpreten nicht recht haben, dass kein Plan und kein Sinn hinter den großen Gesten der Kanzlerin stehen, erst recht nicht die Rettung Europas?

Ich bin mir nicht mehr sicher, was schlimmer wäre.


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