Seit unter regierungstreuen Journalisten Kritik als Hetze gilt, muss sich der Kritiker gefallen lassen, zum hasserfüllten Aggressor erklärt zu werden. Vor allem, wenn er Thilo Sarrazin heißt und ein alter weißer Mann ist.
Was war schon anderes zu erwarten als ein Verriss des neuen Buchs „Wunschdenken“, dass dieser Tage erschienen ist? Beim „Spiegel“ wird der Autor als Hassprediger vorgestellt, der aus persönlicher Frustration der Regierungspolitik der Kanzlerin auf Deubel komm raus nicht zustimmen mag: „Erfolglos versucht Thilo Sarrazin in seinem neuen Buch, seiner Aggression gegen die Welt einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben.“ (Nils Minkmar, 23. April 2016)
Erfolglos? Vergebens, ist offenbar gemeint. Denn Erfolg hat das neue Buch des Autors eines Millionensellers wie „Deutschland schafft sich ab“ schon vor dem Tag seines Erscheinens, und Polemiken dieser Art sind es, die den Verkaufserfolg des Buchs noch befeuern werden. Denn das ist man, wenn es gegen Sarrazin geht, ja nachgerade gewohnt: Wer keine Argumente hat, arbeitet sich am Menschen ab. Merke: das verfängt nicht mehr.
Und tatsächlich erwartet seine Leser etwas ganz anderes, als im einstigen Intelligenzblatt Spiegel behauptet wird.
Wer nicht als Allererstes in den immerhin 571 Seiten nach Stellen sucht, um den Autor zu überführen (den Gegner „stellen“, heißt das ja pikanterweise neuerdings), sondern das Buch von Anfang an liest, trifft weder auf Hass noch auf Aggression, höchstens auf Melancholie. Es handelt sich um eine etwas spröde Liebeserklärung an ein gut funktionierendes Gemeinwesen, das vernünftig regiert wird. An so etwas wie Deutschland vor der Eurorettung, der „Energiewende“ und der „Flüchtlingskrise“.
Der geneigte Leser braucht allerdings Langmut. Denn Sarrazin breitet in einer oft etwas pedantischen Art und mit nicht selten erhobenem Zeigefinger ein ansehnliches Wissen aus, mit Ausflügen zu Platon und Augustinus, zu Thomas Morus und Karl Marx. Er vertritt dabei ein Politikverständnis, das so altertümlich ist, dass man direkt Sehnsucht danach bekommt. Ironie off: an das man in der moralinsatten Welt der Nebelwerfer und Falschtöner gern wieder erinnert wird.
Da geht es um Politiker, die Interessen vertreten, statt andere mit ihren Gefühlen („Menschen umarmen“) oder Liebesaffären zu belästigen oder gar über die Gefühlslagen des Volks zu spekulieren („Kälte und Hass in den Herzen“). Um Politiker, die nicht den Anspruch haben, die Welt zu retten, sondern die Interessen des Gemeinwesens zu vertreten – eine Aufgabe, für die sie gewählt wurden. Die Recht und Gesetz achten, das Vertrauenskapital einer Gesellschaft, und sich mit dem Sichern von Rahmenbedingungen bescheiden, statt die Tugendwächter der Bürger zu spielen. Und die sich nicht anmaßen, das Wahlvolk als „Mob“ und „Pöbel“ zu beschimpfen, wenn es anders tickt als die politische und Meinungselite.
Das alles dekliniert Sarrazin lehrbuchmäßig durch, angefangen mit der menschlichen Entwicklung über gesellschaftliche Utopien bis zu „Prinzipien guten Regierens“ und Fallstudien aus der deutschen Politik.
Da muss man schon durch. Das schadet ja auch niemanden, vor allem denen nicht, die das alles zu wissen glauben.
Sarrazin untermauert seine Thesen im übrigen gründlich; dass er wissenschaftliche Erkenntnisse missbrauche, ja, dass er lediglich „kalter Aggression“ „einen sehr dünnen wissenschaftlichen Anstrich“ verpasse, ist ein unredlicher Anwurf. Menschlich verständlich vielleicht, wenn sich jemand seine Illusionen nicht rauben lassen, etwa die von der Gleichheit (anstelle der Gleichwertigkeit) von Menschen. Der Wahrheitsfindung aber dient das nicht.
Natürlich gibt es kulturelle und kognitive Faktoren, die Menschen unterscheiden, und nicht all diese Unterschiede sind per „Inklusion“ oder „Integration“ einzuebnen. Auch fällt es schwer, nationale Differenzen zu leugnen, selbst unter Demokratien: Demokratie verträgt sich durchaus, wie in Griechenland, mit Klientelismus oder, wie in Haiti oder Nigeria, mit kleptokratischen Eliten. Dass es Deutschland nach zwei verlorenen Weltkriegen wieder geschafft hat, der wirtschaftliche Motor Europas zu sein, hat mit seinen institutionellen Traditionen ebenso zu tun wie mit dem Einfluss des Protestantismus, dem Humboldtschen Bildungsideal und der kreativen Konkurrenz aus der Zeit der Kleinstaaterei.
Das zu verstehen wäre hilfreich, wenn man schon über die Verbesserung der Welt nachdenkt. Es ist eben nicht egal, wo jemand herkommt, was er glaubt, was er gelernt oder nicht gelernt hat. Das mag traurig stimmen. Trauriger aber ist, Realität zu missachten, denn das macht unglücklich.
Dass Sarrazin der Einwanderungspolitik Angela Merkel keine Sympathie entgegenbringt, war zu erwarten. Wer hier nach „Stellen“ sucht, wird reich belohnt. Merkel habe „das größte Sozialexperiment Europas seit der Russischen Revolution“ gestartet, heißt es da, sie führe die Deutschen „in ein neues Abenteuer der Entgrenzung“, womit sie nicht nur den eigenen Nationalstaat, sondern auch Europa gefährde. Solchen Sätzen werden seine Anhänger applaudieren: „Wer“, schreibt Sarrazin, „schützt eigentlich ein Land, wenn seiner Regierung die Urteilskraft abhandengekommen ist? Die untergegangenen DDR wurde immerhin von der westdeutschen Bundesrepublik aufgefangen. Wer aber fängt dereinst die Bundesrepublik auf?“
Das mag jemandem, der beständig ein „wir schaffen das“ auf den Lippen trägt, tatsächlich „finster“ vorkommen. Anderen dürfte es als wenig übertriebene Schilderung der Lage erscheinen.
Sarrazins Hauptthese zielt auf die große Lebenslüge, die die Willkommensgarde von Rotgrünschwarz vor sich her trägt: man brauche Einwanderung (man bekommt ja „Menschen geschenkt“, so unübertroffen Katrin Göring-Eckard), schon aus Eigeninteresse, um nämlich die Schrumpfung der deutschen Bevölkerung aufzuhalten und damit den Wohlstand Deutschlands zu sichern.
Doch es hat sich längst herumgesprochen, dass Einwanderung kein „Geschenk“ ist, solange sie völlig unkontrolliert vonstatten geht. (Verschenken kann man im übrigen höchstens Sklaven.) Einwanderer mit Aussicht auf ein erfolgreiches und gutes Leben in Deutschland, das auf Eigeninitiative und Arbeit beruht, müssen Qualifikationen mitbringen, die hierzulande gebraucht werden. (Von Menschen, die hier vorübergehend Schutz suchen, kann und darf das natürlich nicht erwartet werden.) Auf die schiere Menge kommt es nicht an, sondern auf das „kognitive Kapital“, das sie mitbringen. Nicht die Arbeitsmenge ist das Entscheidende, sondern die Arbeitsproduktivität, die sich auf Sozialisation, Intelligenz und Bildung stützt. Das kognitive Kapital aber, und da steht Sarrazin auf der Seite seriöser Bildungsforscher, ist nicht dort am höchsten, woher derzeit die meisten Zuwanderer kommen – im arabischen Raum.
Sarrazin war und ist auch in diesem Buch Politiker. Seine Polemik gehört im Grunde in den Bundestag, wo ja durchaus mit scharfen Geschützen operiert wird. Doch im Bundestag sitzt eben keine Opposition, die den Namen verdient. Und Sarrazins Partei, die SPD, wird auf ihn nicht hören. Sie sollte es einmal damit versuchen.
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