Wahlkampf ist das Hochamt von Fake News, wie man ein altes Phänomen – Propaganda – neuerdings nennt. Er ist die blosse Simulation von Streit. Denn auf Plakate und in Parolen passen keine Meinungen und Standpunkte oder gar Interessen, nur warm gegen kalt, gut gegen böse. Das Böse aber hat bekanntlich keine Lobby. Damit ist der Streit ausgeschaltet, auch wenn es noch so laut zugeht.
Doch Demokratie lebt nur durch den Streit. Eine „Konsensdemokratie“, in der Alternativlosigkeit und eine Politik des Postfaktischen herrschen, wo Politiker glauben, die Gefühle „ihrer“ Menschen bedienen zu müssen, während die harten Entscheidungen Experten überlassen werden, denen man in ihren hochkomplexen Kram nicht reinreden darf, wäre ihr Ende.
Wenn alles alternativlos ist, dann hat Politik nur noch Überzeugungsarbeit zu leisten, denn was richtig ist, wurde ja bereits festgestellt. Das ähnelt verblüffend der Parole „die Partei hat immer recht“ im Sozialismus, wo man sich mit dem allgemeinen wissenschaftlich-technischen Fortschritt im objektiven Einklang wähnte. Über die „Wahrheit“ kann eben nicht abgestimmt werden.
In Wirklichkeit aber hat Politik immer mit harten Interessengegensätzen zu tun, und es kommt nicht darauf an, den Konflikt auszuschalten, sondern ihm eine Form zu geben, die das Gewebe der Gemeinschaft nicht zerstört.
Erste Abschweifung: Zu den alten Griechen
Die äusserste Form des Konflikts ist ein Kampf auf Leben und Tod. Lange vor einer Kodifizierung des Kriegsvölkerrechts gab es Regeln dafür, wurde der Rahmen der Kampfhandlungen im beiderseitigen Einvernehmen abgesteckt. In den ritualisierten Kampfformen des „pitched battle“, des Kampfes auf einem begrenzten Schlachtfeld, auch eingehegter Krieg genannt, wurden Konflikte zwar hart ausgetragen, um eine klare Entscheidung zu erzwingen, aber es ging nicht darum, den Gegner zu vernichten.
Beispiel: die Phalanx der freien Bauern, der Hopliten, Kriegsweise der Griechen im 7. bis 4. Jahrhundert vor Christus. Fest geschlossene Reihen von Kämpfern in Brustpanzern, Helmen und Beinschienen, vier bis acht, aber auch schon mal fünfundzwanzig Mann tief, marschieren auf, in der rechten Hand einen Speer, in der linken einen Schild. Dieser Schild schützt die linke Seite seines Trägers von den Knien bis zum Kinn sowie zugleich die rechte Seite seines Nebenmanns.
In dieser Formation auf einer dafür geeigneten Ebene laufen die Männer in glühender Hitze aufeinander zu, bis zum wuchtigen Aufprall. Nicht der Speer, sondern der Schild ist für den Kampf entscheidend. Die Schildträger der ersten Reihe werden durch die Säule der hinter ihnen Stehenden auf den Gegner gerammt und dann wird gedrückt, bis eine der Phalangen bricht. Damit ist die Schlacht entschieden und der Krieg vorbei.
Diese überaus brutale Sache dauerte vielleicht ein, zwei Stunden. Es kam dabei nicht darauf an, möglichst viele Gegner zu vernichten, es war eine kurze, rituelle Konfrontation, durch die Streitfragen entschieden wurden – schnell, eindeutig und, trotz nicht gerade geringer Todesraten, relativ „kostengünstig“. Sie verlief gemäss den „gemeinsamen Gebräuche der Griechen“, die unter anderem das Verbot unhoplitischer Waffen vorsahen. Natürlich durfte jede Seite ihre Toten bergen und begraben. Die Griechen, schreibt Platon, „kämpfen untereinander als solche, die sich wieder vertragen wollen.“ Sie waren Gegner, nicht Feinde. Das Agonale der Schlacht verhinderte den alles zerstörenden Antagonismus.
So analysiert es der kalifornische Militärhistoriker und Gräzist Victor Davis Hanson. Seine These zum Demokratieverständnis der Griechen weicht gewiss beträchtlich ab von allem, was sich manch idealistischer Verehrer der Hellenen womöglich vorstellt: nämlich dass man sich innerhalb der Mauern der Polis erging und auf der Agora in gesittetem Austausch zu Kompromiss und Konsens fand. Hanson erblickt die Wurzel der Demokratie nicht im Gespräch, sondern im Kampf freier Bauern weitab von Feldern und Siedlungen und ohne das zivile Leben zu tangieren. Es bedurfte dazu zwar einer mit Kosten verbundenen Rüstung, aber ansonsten keiner besonderen Fähigkeit oder Körperkraft, deshalb konnten Männer zwischen 18 und 60 mitmachen. Es ging nur um eines: die Phalanx musste halten, niemand durfte ausbrechen; Heldenmut hatte ebenso tödliche Folgen wie Feigheit.
Die Entscheidung in der Schlacht war, meint Hanson, so einfach und klar wie der Mehrheitsentscheid einer Volksversammlung. Sie war in einem Verfahren nach Regeln zustande gekommen, in dem Ausbildung, besondere Fertigkeiten, physische Merkmale, Charakter und Moral der Kontrahenten keine Rolle spielten. Das ist, mit Friedrich August von Hayek, „Regelgerechtigkeit“; es geht um das Verfahren, nicht um dessen Ergebnis, also etwa darum, dass „das Gute“ siegt.
Wer die Regeln bricht, weil er meint, nur so „das Gute“ durchsetzen zu können, verzichtet auf die Zähmung des Menschen durch selbstauferlegte Verfahrensweisen. Sie aber ist die Grundlage von Zivilisation.
Abschweifung, zweiter Teil
Was spricht gegen die Ächtung des Krieges? Nichts, möchte man meinen, zumal nach zwei verheerenden Weltkriegen. Doch der Krieg hält sich nicht daran, dass er verboten ist, er sucht sich andere Wege und taucht als Guerillabewegung oder militärische Friedensmission wieder auf. Vor allem gibt es da, wo der Krieg selbst schon das Verbrechen ist, keinen Sinn mehr, von Kriegsverbrechen zu reden: dieser Begriff setzt ja den Krieg voraus und vor allem, dass er (begrenzenden) Regeln folgt. Ächtung des Krieges heißt, dass jeder, der ihn dennoch führt, seinen Gegner zum absoluten Feind erklären muss. Nur das zutiefst Böse rechtfertigt, das Verbotene zu tun.
Das ist die Crux. Gut möglich, dass Demokratien im Prinzip wenig kriegerisch sind. Doch wenn eine gewählte Regierung zum Krieg ruft, muss sie dessen Notwendigkeit umso unerbittlicher begründen, weil ja der Wahlbevölkerung nicht befohlen werden kann. Der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer etwa glaubte 1999 seiner pazifistisch gesonnenen grünen Partei und der ebenso friedliebenden Bevölkerung eine Intervention im Kosovo nur dadurch vermitteln zu können, dass er sich auf eines der höchsten moralischen Güter in Deutschland berief, nämlich auf die Notwendigkeit, ein neues Auschwitz zu verhindern. Damit war über die Sache nicht mehr zu diskutieren. Moral schlägt jedes Argument.
Die Propagandaschlachten des Ersten Weltkriegs zeigen, wie zweischneidig eine Moralisierung des Krieges ist. In den europäischen Staatenkriegen zuvor gab es die Schuldfrage nicht, jeder war berechtigt, seine Interessen auch unter Gewaltanwendung zu vertreten. Großbritannien aber hatte 1914 keine Interessen im Spiel, jedenfalls keine, die man seiner Bevölkerung hätte plausibel machen können, also auch keinen legitimen Grund, in die Kampfhandlungen einzugreifen. Erst der deutsche Marsch durch das neutrale Belgien mit seinen Übergriffen auf die Zivilbevölkerung bot die Gelegenheit, eine englische Intervention zu legitimieren. Weil die Deutschen „Barbaren“ waren? Doch das benannte keineswegs nur die Tatsache, dass sich die Deutschen übel verhielten, sondern es bedeutete, ihnen die Anerkennung als justus hostis zu entziehen, sie also als Barbaren zu behandeln. Damit fiel die Notwendigkeit weg, das eigene Eingreifen mit verletzten Interessen zu legitimieren, man kämpfte nun für das Gute gegen das Böse.
Hier sollen keine alten Schlachten geschlagen werden. Es geht nur um den einen wichtigen Punkt – dass nämlich Moralisierung und Ächtung des Krieges heißt: Wer Krieg beginnt, kann ihn nur mit der Unmenschlichkeit des Feindes begründen. Ein Gegner, der das Böse verkörpert, muss vernichtet werden. Das ist, im Unterschied zum rituellen Kampf der Hopliten, entgrenzend.
Auf die zivile Gesellschaft übertragen heißt das: wer Streit vermeiden will, indem er ausgrenzt, erntet Antagonismus, nicht Frieden.
Der kalte Krieg aber hat die Europäer etwas anderes gelehrt. Unter der Drohung der atomaren Vernichtung galt es, Streit auszuschalten, zur Not auch gewaltsam, weil schon der kleinste Konflikt zur Vernichtung führen könne. Es empfahl sich also Stillehalten - weshalb man übrigens nicht nur in Deutschland das Freiheitsbegehren der polnische Solidarnosc kalt lächelnd egoistisch nannte.
Sich nicht rühren, weil das gefährlich sein könnte: das sitzt noch immer fest.
Was folgt nun aus alledem für den zivilen Streit? Wir werden nicht erleben, dass Volksvertreter in Hoplitenmanier miteinander ringen, doch es wäre viel gewonnen, man lernte von den alten Griechen den Respekt vor dem Gegner, dessen Ansichten andere sein mögen, aber deshalb nicht falsch sind. Es geht nicht darum, Konflikte zu unterdrücken, sondern ihnen einen legitimen Ausdruck zu geben.
Doch gerade viele, die von einer konfliktfreien, multikulturellen one world träumen, grenzen alles sie Störende rabiat aus. Mit kindlichen Wutausbrüchen werden unbequeme Menschen und Meinungen bekämpft, die in die Wohlfühlzone einbrechen könnten. Wie einst in den 70er Jahren werden an den Universitäten Veranstaltungen blockiert und Versammlungen des politischen Feindes gewaltsam verhindert. Und nicht nur dort: Man schreibt auch schon mal „Danke, liebe Antifa“ in einer Qualitätszeitung, freut sich im Netz über den Tod eines „rechtspopulistischen“ Journalisten, verweigert dem politischen Gegner Tagungsorte und wünscht bei Twitter die Ermordung des neuen amerikanischen Präsidenten. Auffallend, dass der Hass all derjenigen, die Frieden und Konsens anstreben, ihnen selbst gar nicht mehr auffällt. Warum nicht? Nun: es ist ja der Hass der Guten auf das Böse, und gegen das Böse sind alle Mittel erlaubt.
Doch das Agonale zu vermeiden dient nicht dem Frieden. Wenn es keine legitimen „agonistischen Artikulationsmöglichkeiten“ für widerstreitende Stimmen gibt, argumentiert die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe, „tendiert der Dissens zu gewaltsamen Formen – sowohl in der nationalen als auch in der internationalen Politik“.
Streiten wir uns also lieber, bevor wir uns die Köpfe einschlagen.
Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt am Main 2007
Cora Stephan, Das Handwerk des Krieges, Edel Books 2013
Zuerst in: NZZ, 24. Februar 2017
Liebe Cora Stephan!
AntwortenLöschenIch möchte Sie bei dieser Gelegenheit auf eine Kurzgeschichte von Migul de Unamono hinweisen: Berganza und Zapiron
Darin führen ein Straßenhund und eine Hauskatze en philosophisches Streitgespräch miteinander, nachdem sie sich zunächst gegenseitig das Fell gegerbt haben.
Die Moral von der G'schischt:
Liebe Menschen! Vielleicht solltet ihr es "uns Tieren" gleichtun und euch erst hauen, um danach - ermüdet - in den Dialog zu treten! ;-)