Ein Hauch von Frühling wehte durch die Novemberrepublik,
denn plötzlich war alles wieder offen. Es kam nicht zusammen, was nicht
zusammenpasst: die FDP und die Grünen – weil in viel zu vielen Punkten auch nach
wochenlangem Ringen keine Einigung erzielt worden war.
Christian Lindner und die Seinen haben den Wählerauftrag
ganz offenbar anders verstanden als die Kanzlerin oder gar die Grünen: der FDP
zufolge ist ein „Weiter so“ insbesondere in der Migrationsfrage, der Europapolitik
und der Energie“wende“ ebenso abgewählt wie das warme Federbett einer Großen
Koalition, unter dem alle strittigen Punkte seit Jahren vor sich hin dampfen.
Kommt also ins Offene! Endlich kann gestritten werden, ohne
stets nach dem Konsens zu gieren. Eine Minderheitenregierung könnte keine
Alternativlosigkeit mehr behaupten und müsste um jeden Punkt ringen. Was für
eine Chance für ein Parlament, das sich in den letzten Jahren viel zu oft vor
seiner Aufgabe gedrückt hat, nämlich im Interesse der Wähler, der Freiheit und
einer aufgeklärten Öffentlichkeit zu streiten. Es ist weder in Sachen EU- und
Eurorettung gefragt worden, die sein vornehmstes Recht, nämlich das
Budgetrecht, berühren – noch etwa, was die sogenannte „Flüchtlingspolitik“
betrifft. Gut möglich, dass die FDP eines aus dem Wahldebakel von 2013 gelernt
hat: dass sich Unterordnung unter das Verdikt der Alternativlosigkeit nicht
auszahlt.
Aber ach: Die Bedenkenträger standen schon kurz nach der
Erklärung Christian Lindners Spalier. Allenthalben wurde die FDP zu
„staatspolitischer Verantwortung“ zum Wohle des Landes aufgerufen, als ob es
eine patriotische Pflicht gäbe, auch eine Politik mitzutragen, zu der man nicht
steht. Und erst die SPD, die sich doch gerade noch eine Erholung von der
Vereinnahmung durch Kanzlerin Merkel verordnet hatte! Weimarer Republik, raunte
da manch einer, und wir wissen doch, was daraus geworden ist. Also: wieder rein
in die Groko – mit dem sicheren Untergang bei der nächsten Wahl vor Augen.
Ja, hierzulande scheinen viele zu glauben, das Land sei ohne
„stabile Regierung“ dem Chaos ausgeliefert, Deutschland, das starke Rückgrat
Europas!
Das kann man mit heiterer Gelassenheit bezweifeln. Wir haben
Nachbarn, die es ziemlich lange ohne „stabile Regierung“ aushielten, ohne dass ihr
Land Schaden genommen hätte. In den Niederlanden brauchte man jüngst sieben
Monate, bis man sich auf eine Koalitionsregierung geeinigt hatte.
Willkommen, Deutschland, in der Wirklichkeit: auch bei uns
verlieren die Volksparteien, was die Regierungsbildung erschwert, auch hier
geht ein Graben durchs Land, der nicht einfach zugeschüttet werden kann.
Wer auf die Stimmung an der Börse etwas gibt, wird
feststellen, dass das Scheitern einer Jamaika-Koalition ihr keineswegs
geschadet hat, im Gegenteil. Überhaupt brummt die Wirtschaft, nicht weil,
sondern obwohl ihr sowohl die hohen Strompreise als auch die Debatte um den
Ausstieg aus Kohle und Individualverkehr eher Fesseln anlegen. Hier wäre
weniger Regierungshandeln geradezu segensreich gewesen, schaut man auf die
Krise bei Siemens. Denn die staatliche Subventionierung von Windkraft und
Sonnenenergie hat nicht nur andere Energieformen aus dem Rennen geworfen,
sondern auch die Erforschung alternativer Weisen der Energiegewinnung effektiv
gekillt.
Im übrigen: kann man während der zwölf Jahre unter Merkel
wirklich von einer „stabilen Regierung“ sprechen? Nicht nur im Fall des
Ausstiegs aus der Atomkraft, sondern auch, was spontane humanitäre Gesten mit
unabsehbaren Folgen betrifft, erwies sie sich als außerordentlich volatil, um
nicht zu sagen: unkalkulierbar – als Quelle von Uneinigkeit und als Belastung
für die europäischen Nachbarn.
Ich für mein Teil wäre schließlich keineswegs unfroh, wenn
ich eine Weile verschont bliebe von dem unerbittlichen Willen zur Gestaltung,
der insbesondere grüne Politiker umzutreiben scheint. Denn nein, der Staat hat
im Leben der Bürger nicht mehr, sondern weniger zu suchen. Er hat die
Rahmenbedingungen zu schaffen, innerhalb derer sich die Tatkraft der Bürger
entfalten kann, nicht mehr, aber vor allem nicht weniger. Der wahre Boden von
Freiheit und Demokratie ist das Funktionieren rechtsstaatlicher Institutionen.
Und deshalb erschreckt mich die Vorstellung, eine Zeitlang
ohne „stabile Regierung“ zu leben, weit weniger als der Gedanke daran, dass diese
Basis in Gefahr ist. Die Berichte von einer völlig überlasteten Justiz sind
ebenso alarmierend wie die über fehlende Sicherheit im öffentlichen Raum –
Folgen des Kontrollverlusts nach der Grenzöffnung im Jahr 2015.
Merke: Auch eine stabile Regierung kann durch ihre
Entscheidungen Destabilisierung bewirken.
NDR-Info, Die Meinung vom 26. 11. 2017
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