Dienstag, 12. Juni 2018

Männliche Kulturen der Selbstdisziplinierung



Frauen das friedliche, Männer das gewalttätige Geschlecht? Obwohl Frauen als Mörder und Totschläger statistisch weniger auffällig werden, ist die Sache weitaus komplexer.
Gewalt ist kein Charaktermerkmal ausschließlich von Männern, auch Frauen sind, auf je spezifische Weise, zu Grausamkeiten aller Art in der Lage. Auch waren und sind sie weder nur Opfer noch Unbeteiligte. Zu allen Zeiten und in allen Kulturen applaudierten Frauen männlicher Gewalt, forderten Männer und Söhne dazu auf, in die Schlacht zu ziehen, zur Verteidigung von Clan, Stamm oder Vaterland. Oder sie amüsierten sich in den Arenen bei blutigen Schaukämpfen.
Sie waren, als diejenigen, die für den Erhalt der Gattung zuständig waren, begehrte Beute und kostbare Ressource. Sie waren Anstifterinnen, Ursachen, Ziele und Opfer zugleich. Und nicht nur Jeanne d’Arc war aktiv beteiligt am Krieg, wie eine Ausstellung im Militärhistorischen Museum in Dresden zeigt.
Sie spielten ihre Rolle im Tross, als Prostituierte und Marketenderinnen, sie versorgten als Krankenschwestern Verwundete, sie leisteten Dienste hinter der Front, sie waren ausschlaggebend in der Kriegsproduktion.
Sie waren mitnichten vor allem Opfer. Bis ins 20. Jahrhundert stellen Männer die meisten Opfer des Krieges, so wie vor allem Männer Opfer von männlicher Gewalt sind. Selbst sexualisierte Gewalt gegen Frauen wird von Männern oft als Demütigung anderer Männer verstanden und eingesetzt – das gilt für Massenvergewaltigungen durch die Sieger im Krieg ebenso wie für sexuelle Übergriffe von Männern aus stark paternalistisch geprägten Kulturen, wie man sie zu Silvester 2015 in Köln und anderswo erlebt hat. Männer demütigen andere Männer, indem sie ihnen handgreiflich demonstrieren, dass sie nicht in der Lage sind, ihre Frauen, Schwestern und Töchter zu beschützen.
Ohne Männer gäbe es keinen Krieg? Sicher. Dasselbe lässt sich von den Frauen sagen.

Teilen wir uns also den Schaden, möchte man denken. Im Verteidigungsfall müssen eben beide Geschlechter ins Gefecht ziehen. Noch nie waren die Bedingungen dafür so günstig wie heute. Gewaltausübung im Kriegsfall bedarf keiner besonderen Befähigung oder eines aufwendigen Trainings mehr, jedenfalls nicht mehr so wie einst, als das Kriegshandwerk ein Monopol derjenigen war, die körperliche Kraft besaßen und die nicht, etwa durch Schwangerschaften, am beständigen Üben gehindert waren. Menschliche Kulturen haben über tausende von Jahren das Waffenmonopol einer Kriegerkaste gekannt, in Japan mit den Samurai sogar bis ins 19. Jahrhundert hinein.
Warum? Schwertkampf will ebenso geübt sein wie Reiten und Bogenschießen. Das ist das eine. Das andere: Gewaltausübung und Krieg durch Stellvertreter entlastet die Gemeinschaft, die sich ja auch noch um anderes kümmern muss, etwa um Behausung und Lebensmittel. Und nicht zuletzt beschäftigte das Kriegshandwerk all die jungen Männer, die als dritte, vierte, fünfte Söhne weder erben noch heiraten durften und frustriert in hellen Scharen durchs Land marodierten, ein Problem, das an der Wiege des mittelalterlichen Rittertums stand.
Das ist heute anders. Moderne Waffen sind im Wortsinn kinderleicht zu bedienen. Ihre Handhabung ist also nicht mehr auf jene beschränkt, die das mühevoll lernen mussten – man denke an so anspruchsvolle Waffen wie das Schwert, den Bogen oder die Muskete. Die modernen Massenkriege des 19. und 20. Jahrhunderts wurden ermöglicht durch einfach zu bedienende und in Massen produzierte Waffen.
Ein Heckler & Koch verallgemeinert Krieg. Weder Waffenkunst noch Tradition stehen Frauen also heute noch im Weg. Ein Sieg der Gleichberechtigung ist das weniger als vielmehr der Mangel an männlichem „Menschenmaterial“. Unser „Kriegsindex“ ist historisch niedrig. Eine im Schnitt ältere Gesellschaft ist schon deshalb eine friedfertigere.
Es gibt immer weniger wehrtaugliche junge Männer, während junge Frauen nicht mehr dazu verurteilt sind, ihre Tage schwanger oder im Kindbett zu verbringen. Nichts scheint also dagegen zu sprechen, die Armee für Männer wie Frauen zu öffnen, zumal es auch hinter der Front reichlich zu tun gibt. Und nichts spräche gegen eine allgemeine Wehrpflicht auch für Frauen. Darüber aber ist im Gleichstellungsdiskurs merkwürdigerweise selten die Rede.
Der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld erkennt im Zustrom von Frauen zum Militär allerdings keinen Sieg für die Frauen, sondern hält das für ein Zeichen dafür, dass die entwickelten Länder keine Kriege sui generis mehr führten. Dort, wo das noch der Fall sei, in Gesellschaften mit vielen jungen Männern, gäbe es in den Streitkräften so gut wie keine Frauen.
Die israelische Armee wäre als Gegenbeispiel zu nennen. Andererseits signalisiert dort die Beteiligung der Frauen, wie sehr sich das Land im permanenten Verteidigungszustand befindet. Eine ganze Gesellschaft unter Waffen ist kein wünschenswerter Zustand, höchstens eine bittere Notwendigkeit. Und in Zeiten sogenannter „Volkskriege“ erscheinen männliche Stellvertreterkriege erst recht als nachgerade zivilisatorische Errungenschaften.
Deshalb sei hier eine Lanze für die Männer gebrochen - eine Lanze für eine männliche Kultur des Krieges.
Kultur des Krieges – genau. Männliche Gewalt hat ihre dunkle und ihre helle Seite. Denn es ist Männern, nicht Frauen, gelungen, der Kriegsgewalt eine Form zu geben, die sie bremst, die sie einhegt, die sie beschränkt und die dazu beigetragen hat, dass die Menschheit sich noch nicht ausgerottet hat, was geschehen wäre, wenn es in Kriegen immer schon und generell um die möglichst gründliche Vernichtung des Gegners ginge.
Tatsächlich gab es kriegerische Kulturen, denen es weit vor der kriegsvölkerrechtlichen Kodifizierung im 19. Jahrhundert gelang, einen stellvertretenden Krieg nach Regeln zu führen, der das Gewebe der jeweiligen Gesellschaften nicht zerstörte.
So verabredeten sich die freien Bauern im Griechenland des 7. bis 4. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung im Streitfall zum Kampf auf einem abgelegenen Schlachtfeld. Eine Hopliten-Phalanx umfasste vielleicht 100 Mann in einer Reihe, 4 bis 25 Mann tief, in Brustpanzer, Helm und Beinschienen, in der Linken den Schild, mit dem zugleich die rechte Seite des Nebenmannes geschützt wurde, in der Rechten den Speer. Jeder Mann zwischen, sagen wir: 16 und 60 konnte sich in diese Phalanx einreihen, es gab keine Hierarchie und erst recht kein individuelles Heldentum, Alleingänge hätten die Phalanx gesprengt und alle in Todesgefahr gebracht.
Man muss sich die Sache äußerst brutal vorstellen: Unter sengender Sonne rannten die gerüsteten Männer aufeinander zu. Nach dem Zusammenprall begannen sie in fest geschlossenen Reihen mit aller Kraft zu drücken, um die Phalanx des Gegners zu sprengen. Wenn eine Phalanx brach, war die Schlacht vorbei – eine Entscheidung, so einfach und so klar wie ein demokratischer Mehrheitsentscheid. Darin lag ihr Vorteil: die Schlacht kostete nicht viel Zeit, man brauchte keine besondere Ausbildung dafür, also gab es kein Spezialistentum und damit auch keine Kriegerkaste, deren Unterhalt kostspielig gewesen wäre.
Auch die mittelalterlichen Ritter stehen für den erfolgreichen Versuch, Krieg und Gewalt einzuhegen. Sie sind vielleicht das beste Beispiel für die Selbstdisziplinierung gewalttätiger Männer – nämlich genau jener „überflüssigen“ Söhne, die im frühen Mittelalter weder das Erbe antreten noch zum Klerus gehen konnten, statt dessen auf Raubzüge gingen und zu einer Landplage wurden. Ritterturniere holten die jungen Männer von der Straße, das Reiterspiel galt nicht nur der Ausbildung gepanzerter Reiter, es bot auch den Erfolgreichen unter den Rittern eine legale Einnahmequelle. Man kämpfte dabei nach strengen Regeln und um die Gunst der Damen, Vorteilsnahme und Distanzwaffen galten als unritterlich, da sie, man staune, „tödlich“ seien. Denn der Sinn der Schlacht lag nicht im möglichst effizienten Töten des Gegners, sondern in der Herbeiführung einer Entscheidung, die den Charakter eines Rechtsverfahrens hatte.
Die offene Feldschlacht ersparte überdies der Bevölkerung die kriegerische Aktion, sie erfüllte das Diktum Friedrichs des Großen, wonach der Bürger nicht merken solle, wenn der König seine Bataillen schlägt.
Seinen Höhepunkt erlebte der eingehegte Krieg in den sogenannten Kabinettskriegen der Zeit nach dem verheerenden 30jährigen Krieg. Man ersetzte im späten 17. Jahrhundert die undiszipinierten Söldnerscharen durch wohlausgebildete Soldaten stehender Heere und fragte sich, ob man dieses herrliche Spielzeug der Könige wirklich in etwas so blutigem wie einer Schlacht aufs Spiel setzen sollte. Da diese Heere sich zwecks Schonung der Bevölkerung nicht mehr vom Land ernährten, durch das sie zogen, sondern sich mit Proviant aus Depots entlang der Aufmarschrouten versorgen mussten, genügte es, den Gegner von seinen Nachschublinien abzuschneiden, und schon war die Sache entschieden, ohne dass das „Spielzeug der Könige“ Schaden nahm. Napoleon machte diesem (von Clausewitz als unernst verachteten) „bloßen“ Spiel ein Ende – wie so oft in der Geschichte siegt auch hier derjenige, der sich an die Regeln nicht hält. Die Kosten trugen die von ihm „befreiten“ Völker – so wie es auch selbsternannte Befreiungskämpfer im „Volkskrieg“ halten.
Ja, Männer und Frauen unterscheiden sich. Im Unterschied zu Frauen haben Männer Kulturen der Selbstdisziplinierung entwickelt und als Stellvertreter den Frauen manches erspart. Manch schriller Angriff auf den Mann, insbesondere den „alten weißen Mann“, erinnert heute eher an das unfreundliche Diktum Friedrich Schillers in seiner „Glocke“: „Da werden Weiber zu Hyänen und treiben mit Entsetzen Scherz“.
Männer und Frauen sind nicht gleich, aber sie kooperieren im Guten wie im Schlechten. Das macht die Frauen weniger edel und die Männer weniger schurkisch. Mit dieser banalen Einsicht wären wir einen großen Schritt weiter.

Der Text beruht auf einem Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung „Gewalt und Geschlecht“ im Militärhistorischen Museum in Dresden am 26. April 2018, zuerst in der NZZ vom 11. Juni 2018.


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