Nach dreissig Jahren Frankfurt am Main habe ich meine Wochenendliaison mit einem schäbigen Häuschen in einem winzigen Dorf im Vogelsberg in Oberhessen in eine dauerhafte Beziehung verwandelt und bedaure das seit sechzehn Jahren an keinem einzigen Tag. Mir fehlt die Stadt nicht, ich besuche die eine oder andere regelmässig und freue mich, wenn ich wieder zu Hause bin. Mit siebzehn wollte ich nichts wie weg vom Land. Heute möchte ich nicht mehr zurück in die Stadt.
Im Laufe der Jahre habe ich sicher sämtliche Fehler begangen, die man als Zugezogene so begehen kann, einiges ist mir hoffentlich mittlerweile verziehen worden. Ich beanspruche nicht, dazuzugehören. Meine Nachbarn und ich: Wir haben uns aneinander gewöhnt.
Seit ich mein Dorf kenne, seit mittlerweile 34 Jahren, nehme ich wahr, wie es sich verändert. Als Erstes verschwanden die Milchkühe und die damit verbundenen Geräusche: das «Aaauf», wenn sie morgens auf die Wiese und abends in den Stall getrieben wurden, das Klatschen der Fladen auf dem Asphalt, ein Klang wie zerberstende Äpfel. Seit ein paar Jahren krähen morgens keine Hähne mehr; ich vermisse sie und die frischen Eier vom Nachbarn. Den Gestank und das Geschrei aus dem alten Schweinestall gegenüber vermisse ich nicht; seit ein paar Jahren steht die Scheune leer, und der Duft meiner Rosen kann sich endlich durchsetzen. Die moderne Schweinemastanlage am Dorfende riecht nicht.
Seit dreizehn Jahren ist das Haus an die Kanalisation angeschlossen, seitdem gibt es ein paar Kilometer weg eine Kläranlage, das ist schön, aber teuer. Wer beizeiten Solaranlagen auf sein Scheunendach gelegt hat, war gut beraten, wir anderen denken beim Anblick der vielen Windkraftanlagen, die den Vogelsberg umspannen, an steigende Energiekosten bei sinkenden Renten. Sollte mein Dorf aussterben, wird die Sache für die Überlebenden teuer. Die Menschen hier werden überwiegend steinalt.
Doch meine Nachbarn haben für Kinder gesorgt, die mittlere Generation ist geblieben, und vielleicht bleiben auch deren Kinder. Es hat sich herumgesprochen, dass ein Studium in der Stadt nicht empfehlenswert ist, wenn man bald sein eigenes Geld verdienen will.
Was ich vermisse, sind die Freunde; von uns Landbewohnern wird erwartet, dass wir in die Stadt fahren, um sie zu treffen. Zu mir wagt sich nur selten ein Anhänger öffentlicher Verkehrsmittel.
Dabei liegt «Leben auf dem Land» voll im Trend. Magazine wie «Landlust» und «Landliebe» appellieren mit anhaltendem Erfolg an die Sehnsucht der Stadtbewohner nach farbenprächtiger ländlicher Idylle. Zwei dickleibige Romane, in denen es ebenfalls ums Landleben geht, halten sich seit Monaten auf den vordersten Rängen der deutschen Bestsellerlisten, «Altes Land» von Dörte Hansen und «Unterleuten» von Juli Zeh, das eine spielt im Apfelanbaugebiet nahe Hamburg, in Westdeutschland also, das andere in einem Dorf in Brandenburg, ehemals Teil der DDR.
Doch im Unterschied zur Farbbildidylle sind beide Romane realistisch, insofern es in ihnen eben nicht idyllisch zugeht. Insbesondere «Unterleuten» ist zuweilen harte Kost. Das Buch sollte jedem in die Hand gedrückt werden, der sein Glück auf dem Land oder «zurück zur Natur» sucht, etwa weil er zwei andere Bestseller von der Sachbuchliste gelesen hat: "Das geheime Leben der Bäume" und «Das Seelenleben der Tiere» von Peter Wohlleben. Nein, Idylle ist nicht. «Unterleuten» zeigt, woran man scheitern kann, wenn man die Gesetze des Dorfs und ihre eigentümliche Unerbittlichkeit nicht versteht. Zugleich ist der Roman eine Elegie auf das Ende der dörflichen Existenz, die, wenn überhaupt, erst in anderer Form wiederauferstehen wird. Ich behaupte einmal: Genau das geschieht soeben.
Trendumkehr: In Deutschland verlieren die grossen Städte wie Köln, Frankfurt, Berlin oder Hamburg seit über zehn Jahren an Attraktivität – für Inländer. Viele ziehen fort, weniger ziehen zu. Die Gründe sind vielfältig, der Wohnungsmarkt ist einer davon. Wachstum verdanken die Städte nur noch Zuwanderern aus dem Ausland, verstärkt mit der Masseneinwanderung seit 2015. Die meisten der Hinzugekommenen zieht es dorthin, wo bereits ihresgleichen wohnt. Ganze Stadtviertel sind mittlerweile nicht mehr bunt, also gemischt, sondern türkisch oder arabisch geprägt, mancherorts droht die Entwicklung hin zur No-go-Area für Polizei und für Frauen. Eingeborenen mit mittlerem und unterem Einkommen macht es die neue Konkurrenz noch schwerer, preiswerten Wohnraum zu finden.
Das ist einer der Gründe für die Trendumkehr. Ein anderer sind die zunehmend verödeten Innenstädte. Sicher, Restaurants, Museen, Klubs und Kinos, manchmal gibt es sogar noch ein wenig Altstadt dazu – das hat ein Dorf nicht zu bieten. Sonst aber trifft der städtische Flaneur in der City kaum noch auf Überraschungen zwischen all den Telefonläden und Geschäften mit Billigklamotten, den Bäckereien und Fast-Food-Shops. Und dafür soll ein auswärtiger Besucher auch noch die meist horrenden Parkgebühren zahlen? Städte wie Frankfurt am Main tun alles, um Autofahrer fernzuhalten, ohne Rücksicht auf die letzten Reste anspruchsvollen Einzelhandels. Als ob die Luft in einer Stadt so rein sein müsste wie draussen in der freien Natur. Wozu dann noch Stadt?
Der potenzielle Kunde aber, der schon kein «Einkaufserlebnis» oder auch nur freundliches Personal erwarten darf, wird den Deubel tun und auch noch Lösegeld für sein Transportmittel bezahlen, wenn er, was er begehrt, billiger und einfacher und mit grösstmöglicher Auswahl im Internet bestellen kann. Die Folge: Lieferwagen parkieren nicht mehr nur morgens in der zweiten oder der dritten Reihe.
Was also spricht noch für das Leben in der Stadt? Das Theater hat sich selbst abgeschafft. In den Museen trifft man vorwiegend Touristen. Und die moderne Architektur hat dafür gesorgt, dass öffentliche Räume wie geschlossene Anstalten wirken. Also raus aus der Stadt, weil auf dem Land Wohnraum noch bezahlbar ist, das Kino Netflix heisst und Shoppen per Hermes läuft? In der Tat: Das ist ein schwaches Argument und überzeugt keinen «Stadtluft macht frei»-Jünger.
Der metropolitane Mensch hält Landeier für verhockt und glaubt im Übrigen, dass für die Natur am besten gesorgt ist, wenn man die sauren Wiesen da draussen mit Windrädern, Biogasanlagen und Mülldeponien zustellt, damit man in den Büros und Kaufhäusern der Stadt auch im Winter ärmellos gehen kann und es im Sommer schön kühl hat. Jahreszeiten sind von gestern. Warum nur erinnert mich das an Suzanne Collins‘ «Tribute von Panem», eine Dystopie, in der die dekadente städtische Elite sich auf Kosten der hart arbeitenden Landbevölkerung einen Lenz macht? Die Sache ging bekanntlich nicht gut aus.
Doch falsch ist das nicht, dass Stadtluft frei macht, dass man anonym bleiben und gehen kann, wenn einem etwas nicht passt – die Option Exit. Auf dem Land ist die Nähe und damit auch die soziale Kontrolle grösser, da heisst es bleiben und standhalten. Beide Lebensmodelle haben ihre Vor- und Nachteile. In Zeiten sozialer Verwerfungen, wie wir sie derzeit erleben, neigt sich die Waage in Richtung Kontrolle, was nicht nur Drogendealern das Leben schwermacht. Auch das mag ein Grund sein, die Stadt zu verlassen.
Solange es Autos und den Zugang zum Internet gibt, ist das Leben auf dem Land zumal für Schriftsteller ein privilegierter Ort. Und ohne? Daran mag ich gar nicht denken. Immerhin gibt es dann noch einen Garten, den man bestellen, und Holz, das man hacken muss. Und Sonnenuntergänge. Felder, Wiesen, Wälder, Bäche. Bauerngärten, Obstwiesen, grasende Rinderfamilien, Schaf- und Ziegenherden. Einsame Reiter auf ihren Rosinanten. Und, solange es noch Landwirtschaft gibt: dampfende Maschinen, die zur Erntezeit durchs Dorf stampfen, Katzen im Heu, duftende Holzfeuer. Zur Dorfkirmes mit den singenden Zwitschersisters muss man ja nicht gehen.
Gegen ein bisschen Idylle ist ja im Grunde auch nichts einzuwenden. Es gibt zu jedem Trend eine Trendumkehr. Nachdem der Trend eine Weile die Menschen Richtung Stadt gewiesen hat, zeigt er jetzt zurück aufs Land. Nicht das erste Mal, im Übrigen. Dort, wo ein grosser Teil meiner Familie wohnt, in der Ardèche, am Rande der Cevennen, lebt die ländliche Kultur fort – ausgerechnet durch die Aussteiger, die in den Siebzigern in die Gegend zogen, um mit blutenden Händen aus überwucherten Geröllhalden wieder Steinhäuser zu errichten. Noch kurz zuvor besang Jean Ferrat das Drama der Landflucht: Obwohl die Berge bei Antraigues von magischer Schönheit sind, gehen die Jungen in die Stadt – ins Kino und Richtung Plastikmöbel.
Einige aber kehrten zurück. So war es immer, und so wird es wieder geschehen.
Zuerst in: NZZ, 21. Oktober 2016
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