Wer als freie Autorin arbeitet, muss auch mal Aufträge
übernehmen, die einem nicht wirklich am Herzen liegen. Nur wegen der
verführerischen Höhe des Honorars nimmt Mina Wolf den Auftrag an, zu einer
Festschrift aus Anlass des tausendjährigen Jubiläums einer westfälischen
Kleinstadt einen Aufsatz über den 30jährigen Krieg beizusteuern. Viel versteht
sie vom Thema nicht – aber man kann sich doch kundig machen, es soll ja keine
Detailstudie werden, nur eine Art Überblick über das Große Ganze.
„Nur.“
Das Große Ganze ist immerhin Herzkammer des deutschen
Traumas: als Land in der Mittellage Austragungsort eines gigantischen
Schlachtens gewesen zu sein, dem alle zum Opfer fallen konnten, die Bevölkerung
vor allem, aber auch die zwischen den Seiten hin- und herflutenden, von
Krankheit und Hunger irre gewordene Söldner.
Mina tastet sich an das Thema heran, auf der Suche nach
einer „zarte(n) Nervenfaser aus jener Zeit, über die sich ein Signal senden
ließ an unser Nervengestränge.“ Eine mühselige und trostlose Suche, und das in
einem herrlichen Sommer, der noch verführerischer nach draußen gelockt hätte,
wären von dort nicht Signale an der Schriftstellerin empfindliches Ohr
gedrungen, schriller als die Trompetenstöße vor einer Feldschlacht. Durch die
eigentlich ruhige Berliner Straße, die Hälfte gepflegte Altbauten, die andere
Hälfte billig hochgezogene Neubauwohnungen, schallt von morgens bis abends der
misstönende Gesang einer Frau, die vom Balkon herab Arien von Callas bis Czardasfürstin
zum Besten gibt, erst solo, später im noch schrilleren Duett mit der Originalaufnahme.
Der Protest der Anwohner fruchtet nicht, er ermuntert die
Sängerin eher. Mina Wolf fühlt sich bald eingekreist von einer wahren
Kakophonie, die nicht nur sie reizbar macht; die Nachrichten aus aller Welt
stimmen düster, Kriege und Terroranschläge, Milliardentransfers von einem zum
anderen Land, dazwischen abstruse Debatten über die auch noch ständig wachsende
Anzahl der Geschlechter. Sie beschließt, die Nacht zum Tag zu machen, um in
Ruhe lesen, denken und schreiben zu können und durch das Dunkel der Nacht einen
„Pfad durch die Zeit“ zu finden.
Dabei rückt ihr der ferne 30jährige Krieg – immerhin liegt
sein Beginn 400 Jahre zurück – immer näher, seine „Vorkriegszeit“ erscheint ihr
wie eine „grobe Vorlage für die Gegenwart“: Klimawandel, Bevölkerungswachstum,
der Bedeutungszuwachs von Religion und der eskalierende Streit darum. In der
Nacht fliegen ihr die Gedanken nur so zu – auch scheinbar kleine Dinge wachsen
auf, etwa, dass die Eltern sie nach der italienischen Schlagersängerin Mina genannt
hatten, wegen deren Lied: „Heißer Sand und ein verlorenes Land und ein Leben in
Gefahr. Heißer Sand und die Erinnerung daran, dass es einmal schöner war.“
Die Ahnung, dass das gute Leben keinen Bestand haben kann, bedrängt
Mina. Vielleicht, denkt sie, sind die ganzen Untergangsprophezeihungen, etwa
der seit Jahren beschworene Klimawandel, nur das Menetekel einer ganz anderen
Gefahr, die man nicht wahrnehmen will, weshalb „das Unglück, wie für unsere
Vorfahren, aus dem Himmel“ kommen muss.
Wer sich jemals in die Geschichte des 30jährigen Kriegs
vertieft hat, wer den Simplicissimus von Grimmelshausen kennt oder Schillers Schilderung der Zerstörung Magdeburgs in seiner
„Geschichte des dreißigjährigen Kriegs“,
der kann die Melancholie der Autorin nachempfinden, die da im Dunkeln
ihren Gedanken nachgeht – und wer die Zeichen der Zeit aufmerksam verfolgt, begreift
auch, worüber sie sich in der Gegenwart Sorgen macht. Der wünscht sich
zugleich, er möge über ihren feinen Spott, ihren stillen Sarkasmus, ihre
Leichtigkeit trotz düsterster Gedanken verfügen: Mina ist kein Jammerlappen,
keine schrille „Wutbürgerin“, keine Katastrophenpredigerin, sie ist eine kluge
Beobachterin, die den eigenen düsteren Gedanken mit leiser Ironie begegnet. Doch
nicht nur das. Bei allem Zweifel an den eigenen Einsichten kann Mina Wolf auch
kräftig zubeißen: wenn es um die „Genderscheiße“ geht, etwa, die etwas so wunderbares
wie die deutsche Sprache verhunze. Gegen diesen Irrsinn, denkt sie, hatte der
30jährige Krieg doch wenigstens den Vorzug, vergangen zu sein.
Rettung ist zwar nicht nah, aber ein Wunder geschieht dennoch,
in der Gestalt von Munin, der einbeinigen Krähe, die zur Gefährtin wird in der
Nacht. Mit großer Geduld und mit Wurst und Hundefutter hat Mina Wolf das Tier
angelockt, das sie nach einem der beiden Raben, die auf Odins Schulter sitzen,
„Munin“ nennt. Hugin und Munin sind Götterboten, sie fliegen täglich um die
ganze Welt, um Odin, Göttervater der nordischen Mythologie, zum Frühstück von
allen Neuigkeiten zu unterrichten. Dabei ist Hugin fürs Denken, Munin für die
Erinnerung zuständig. Darauf hofft Mina: Waren die Krähen nicht immer sozusagen
hautnah dabei, auf dem Galgen und der Richtstatt, haben sie sich nicht auch von
den Toten des 30jährigen Kriegs genährt, wie Annette von Droste-Hülshoff es in
ihrem Gedicht beschrieb: „Kein Geier schmaust’, kein Weihe je so reich! In
achtzehn Schwärmen fuhren wir herunter, das gab ein Hacken, Picken, Leich’ auf
Leich“...?
Endlich hockt die Krähe bei ihr im Zimmer und beginnt zu
sprechen. Wer Marons Skizze „Krähengekrächz“ kennt, wird hier einiges wiederfinden: mit feinen Strichen zeichnet sie die
magische Verbindung zwischen Mensch und Tier, paradiesisch, möchte man glauben.
Doch als ihre Protagonistin dem Tier Erinnertes entlocken möchte, erhält sie vielmehr
Nachhilfestunde in zynischer Menschenkenntnis: die Krähe macht sich lustig über
die menschlichen Skrupel, die nur verdeckten, dass sie in Not und Hungerzeiten
nichts anderes als Tiere seien, die ans eigene Überleben denken, nicht an hohe
Moral. „Sterben lassen, was nicht leben kann“, doziert die Krähe. Die Menschen
aber würfen sich schützend über alles, was sie für schwach und hilflos hielten.
Doch: „Das dümmste Tier weiß, dass es nicht mehr Nachkommen haben darf, als es
ernähren kann.“
Der Roman lockt nicht nur mit einer spannenden
Versuchsanordnung und mit einer zwischen Melancholie und leisem Spott changierenden
Erzählerstimme. Monika Maron ist eine Meisterin darin, historische Reflexion
mit der Betrachtung der gegenwärtigen conditio humana zu verbinden, so dass es
gar nicht mehr sonderlich gewagt erscheint, die heutige wie die vor gut 400
Jahren für eine Vorkriegszeit zu halten.
Trifft die kühle Bemerkung der Krähe nicht genau das, was in
Afrika geschieht und unaufhaltsam nach Europa drängt, wo das gebotene Mitleid
zum Verhängnis zu werden droht? Zu allen Zeiten und in allen Kulturen lag
kriegerischer Zündstoff in einem Überschuss an jüngeren Söhnen, die nicht in
die Familiennachfolge eintreten oder einen eigenen Hausstand gründen konnten.
Ihr Ventil war (und ist) Krieg. Und wo liegt der Unterschied zwischen den
wehrhaften Bauern, die man im 30jährigen Krieg mitsamt Schloss verbrannt hat
und, sagen wir, einem christlichen Ehepaar nahe Lahore, das von seinen Nachbarn
in einen Feuerofen gesteckt wurde? Ja, natürlich: historische Analogien sind
mit Vorsicht zu genießen, aber man darf und soll über sie nachdenken.
Marons Erzählerin zweifelt übrigens durchaus an ihrer von
ihr selbst als nahezu zwanghaft empfundenen Neigung, immer etwas zu finden, was
damals und heute verbindet, doch sie findet genug, viel zu viel davon. Zudem
beginnt nun unten auf der Straße, in ihrer Nachbarschaft, ein Krieg im Kleinen.
Der Versuch, sich gegen die schrille Sängerin zu wehren, bringt die
Nachbarschaft erst zusammen und dann auseinander. Der Taxifahrer, nennen wir
ihn „das Volk“, streitet mit den Feinsinnigen, nennen wir sie die
Toleranzbürger, und ehemalige DDR-Bewohner werden wieder „vorsichtig mit dem,
was man sagt.“ Der Taxifahrer, der nachts arbeitet, will tags seine Ruhe, der
Audifahrer, der irgendwas mit Medien macht, behauptet kühl, man benutze die ja
eigentlich hilfsbedürftige Sängerin lediglich als stellvertretendes Ziel für
eigentlich ziellose Wut. Weitaus schlimmer als strapaziöse Nachbarschaften
seien schließlich Atomkraftwerke und Einflugschneisen von Flughäfen. Bätschi.
Doch dann wird eine junge Frau überfallen, von zwei Männern südländischen
Aussehens, sagt sie. Ihr kleiner Hund will sie verteidigen, wird von einem der
Männer erstochen, worauf sie so laut schreit, dass die beiden flüchten. Über
den Tod des Hundes sind viele womöglich erschütterter als über die versuchte
Vergewaltigung. Mina Wolf wiederum ist sich unsicher, ob das alles
zusammenhängt, aber sie beobachtet, wie sich die Straße verändert: immer mehr
deutsche Fahnen hängen aus den Fenstern und einmal ertönt gar der Chorgesang
deutscher Volkslieder. Man könnte meinen, dass sich da Fronten ausbilden und
verhärten.
Als die Sängerin stirbt, bleiben die Fahnen hängen. In der
Tat: Die Wut galt nicht ihr, aber ziellos war sie deshalb nicht. Das alles
beobachtet Mina mit Bangen und Staunen. Die Krähe ist das Chaos in ihrem Kopf,
eine innere Stimme, nüchtern bis zynisch, der sie nicht folgen mag, der sie
aber auch nicht widersprechen kann.
Monika Marons „Munin“ ist der Roman zur Zeit und zur Lage,
kein Pamphlet, nirgends schrill, eher tastend, erprobend und immer wieder
richtig komisch. Es gibt wohl derzeit kein anderes Buch, in dem thematisiert
wird, was viele im Land beschäftigt, von der Einwanderung der überzähligen
Söhne aus bevölkerungsreichen in bevölkerungsarme Länder, von Afrika also nach
Europa, bis zur Ankündigung „unserer Eroberung“, wie die Protagonistin einmal
sagt, „mit Waffen und Geburtenraten.“ Letzteres hat, übrigens, der türkischePräsident Erdogan schon mehrfach angedroht.
Treffend schreibt Tilman Krause von der "Welt": Hier „entfaltet
sich in kunstvollen Assoziationskreisen ganz allmählich ein Stimmungsbild zur
Lage der Nation, wie man es so sprachlich beiläufig einerseits, so raffiniert
historisch gespiegelt andererseits noch nicht gelesen hat.“
Anderen scheint gerade das so gar nicht zu gefallen. Die
Qualität einiger Kritiken, genährt von Abwehrreflexen und zwanghafter
politischer Korrektheit, verdient eine eigene Betrachtung, man darf sie womöglich
so symptomatisch finden, wie einige Kritiker das Buch.
Habe Monika Maron nicht zugegeben, dass sie vor dem Islam
Angst habe? Und heißt es nicht über sie, sie sei rechts? Daraus schließt ein Rezensent messerscharf, in der Figur der Erzählerin gebe
sich die Autorin zu erkennen. Eine andere Besprecherin findet ebenfalls nichts dabei, Autorin und Erzählerin
in eins zu setzen, sie behauptet, „dass Monika Maron alles zusammenrührt, was
ihr Angst und Sorgen bereitet“. Eine weitere Stimme: „Kaum verhohlen lässt sie ihre Protagonistin Ressentiments
äußern, die keine erzählerische Notwendigkeit besitzen“, was den Kritiker zum
Eindruck verführt, „dass manche Ansichten vor allem ein Ventil sind für die
angestauten Meinungen der Autorin.“ Die Geißelung der Autorin für die Empfindungen der Erzählerin wäre das Ende der
Literatur unter dem Diktat dessen, was gerade als politisch korrekt empfunden
wird.
Selbst in der Süddeutschen spürt der ansonsten lobende
Kritiker „eine Zustimmung heischende Darstellung des AfD-haften
Wutbürgerressentiments durch die Erzählerin“, immerhin: nicht durch die
Autorin. Was soll das? Die Erzählerin teilt hier und da die Verwirrung und
Entgeisterung im Lande, Empfindungen, die dem Rezensenten offenbar so wenig
vertraut sind, dass er sie unter Ressentiment ablegt, die nur ein Wutbürger haben
kann, der AfD wählt. Dem Buch wird also vorgeworfen, dass die Protagonistin
hellsichtiger ist als sein Rezensent.
Wie wäre es, wenn man umgekehrt solcherlei „Buchkritik“ als
Beleg dafür nähme, dass die Sitten auch hier verrohen, indem Zensurwünsche
einziehen? Wäre das der Stand heutiger Literaturkritik, wäre es schlecht um sie
bestellt. Und tatsächlich: der Höhepunkt ist mit diesen Beispielen noch nicht
erreicht. Die Palme gebührt dem Hessischen Rundfunk für eine „Buchempfehlung“,
die am Ende keine sein darf.
Zunächst lobt die Rezensentin. Doch als es im Buch um eine
„kopftuchtragende Bevölkerungsexplosion“ (sic!) gehe und gar noch um eine
Vergewaltigung durch zwei südländisch aussehende Täter, dem die Autorin nichts
entgegensetze, ist für sie „eine Grenze überschritten“.
Wie? Die Autorin soll sich von der Erzählerin distanzieren?
Und die wiederum soll die Aussage des Opfers einer Vergewaltigung anzweifeln?
Ein in den Zeiten von „Me too“ bemerkenswert antifeministisches Ansinnen. Solch
Urteil verdankt sich offenbar einer anderen Einschätzung, nämlich folgender: Marons
Buch sei „ein Beleg dafür, dass die bürgerliche Mitte scheinbar unaufhaltsam
nach rechts rutscht.“ Da ist wohl vor allem der Rezensentin einiges verrutscht. Zum einen hat die
Vergewaltigung im Roman gar nicht stattgefunden. Zum anderen darf auch in der
Literatur vorkommen, was zur Realität gehört. Oder darf man sich nur von alten
weißen Männern bedroht fühlen? Maron überdies die Beweislast für bürgerliche
Rechtsdrift aufzudrücken – ach, was soll’s. Dazu fällt einem wirklich nichts
mehr ein. Der Kampf gegen rechts scheint manch eine blind zu machen.
Nicht nur Philipp Tingler im „Literarischen Quartett“,
auch Tilman Krause in der „Welt“ hat gemerkt, was den anderen entgangen ist. Er
erkennt „in der Heldin eine Suchende (...), die sich die gleichen Fragen stellt
wie wir alle, denen nicht die Ideologie im Kopf schon alle Antworten gibt.“
Zuerst: Achse des Guten, 6. März 2018
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