Dienstag, 6. März 2018

Munin - der Roman zur Lage und zur Zeit



Wer als freie Autorin arbeitet, muss auch mal Aufträge übernehmen, die einem nicht wirklich am Herzen liegen. Nur wegen der verführerischen Höhe des Honorars nimmt Mina Wolf den Auftrag an, zu einer Festschrift aus Anlass des tausendjährigen Jubiläums einer westfälischen Kleinstadt einen Aufsatz über den 30jährigen Krieg beizusteuern. Viel versteht sie vom Thema nicht – aber man kann sich doch kundig machen, es soll ja keine Detailstudie werden, nur eine Art Überblick über das Große Ganze.
„Nur.“
Das Große Ganze ist immerhin Herzkammer des deutschen Traumas: als Land in der Mittellage Austragungsort eines gigantischen Schlachtens gewesen zu sein, dem alle zum Opfer fallen konnten, die Bevölkerung vor allem, aber auch die zwischen den Seiten hin- und herflutenden, von Krankheit und Hunger irre gewordene Söldner.
Mina tastet sich an das Thema heran, auf der Suche nach einer „zarte(n) Nervenfaser aus jener Zeit, über die sich ein Signal senden ließ an unser Nervengestränge.“ Eine mühselige und trostlose Suche, und das in einem herrlichen Sommer, der noch verführerischer nach draußen gelockt hätte, wären von dort nicht Signale an der Schriftstellerin empfindliches Ohr gedrungen, schriller als die Trompetenstöße vor einer Feldschlacht. Durch die eigentlich ruhige Berliner Straße, die Hälfte gepflegte Altbauten, die andere Hälfte billig hochgezogene Neubauwohnungen, schallt von morgens bis abends der misstönende Gesang einer Frau, die vom Balkon herab Arien von Callas bis Czardasfürstin zum Besten gibt, erst solo, später im noch schrilleren Duett mit der Originalaufnahme.
Der Protest der Anwohner fruchtet nicht, er ermuntert die Sängerin eher. Mina Wolf fühlt sich bald eingekreist von einer wahren Kakophonie, die nicht nur sie reizbar macht; die Nachrichten aus aller Welt stimmen düster, Kriege und Terroranschläge, Milliardentransfers von einem zum anderen Land, dazwischen abstruse Debatten über die auch noch ständig wachsende Anzahl der Geschlechter. Sie beschließt, die Nacht zum Tag zu machen, um in Ruhe lesen, denken und schreiben zu können und durch das Dunkel der Nacht einen „Pfad durch die Zeit“ zu finden.
Dabei rückt ihr der ferne 30jährige Krieg – immerhin liegt sein Beginn 400 Jahre zurück – immer näher, seine „Vorkriegszeit“ erscheint ihr wie eine „grobe Vorlage für die Gegenwart“: Klimawandel, Bevölkerungswachstum, der Bedeutungszuwachs von Religion und der eskalierende Streit darum. In der Nacht fliegen ihr die Gedanken nur so zu – auch scheinbar kleine Dinge wachsen auf, etwa, dass die Eltern sie nach der italienischen Schlagersängerin Mina genannt hatten, wegen deren Lied: „Heißer Sand und ein verlorenes Land und ein Leben in Gefahr. Heißer Sand und die Erinnerung daran, dass es einmal schöner war.
Die Ahnung, dass das gute Leben keinen Bestand haben kann, bedrängt Mina. Vielleicht, denkt sie, sind die ganzen Untergangsprophezeihungen, etwa der seit Jahren beschworene Klimawandel, nur das Menetekel einer ganz anderen Gefahr, die man nicht wahrnehmen will, weshalb „das Unglück, wie für unsere Vorfahren, aus dem Himmel“ kommen muss.
Wer sich jemals in die Geschichte des 30jährigen Kriegs vertieft hat, wer den Simplicissimus von Grimmelshausen kennt oder Schillers Schilderung der Zerstörung Magdeburgs in seiner „Geschichte des dreißigjährigen Kriegs“, der kann die Melancholie der Autorin nachempfinden, die da im Dunkeln ihren Gedanken nachgeht – und wer die Zeichen der Zeit aufmerksam verfolgt, begreift auch, worüber sie sich in der Gegenwart Sorgen macht. Der wünscht sich zugleich, er möge über ihren feinen Spott, ihren stillen Sarkasmus, ihre Leichtigkeit trotz düsterster Gedanken verfügen: Mina ist kein Jammerlappen, keine schrille „Wutbürgerin“, keine Katastrophenpredigerin, sie ist eine kluge Beobachterin, die den eigenen düsteren Gedanken mit leiser Ironie begegnet. Doch nicht nur das. Bei allem Zweifel an den eigenen Einsichten kann Mina Wolf auch kräftig zubeißen: wenn es um die „Genderscheiße“ geht, etwa, die etwas so wunderbares wie die deutsche Sprache verhunze. Gegen diesen Irrsinn, denkt sie, hatte der 30jährige Krieg doch wenigstens den Vorzug, vergangen zu sein.
Rettung ist zwar nicht nah, aber ein Wunder geschieht dennoch, in der Gestalt von Munin, der einbeinigen Krähe, die zur Gefährtin wird in der Nacht. Mit großer Geduld und mit Wurst und Hundefutter hat Mina Wolf das Tier angelockt, das sie nach einem der beiden Raben, die auf Odins Schulter sitzen, „Munin“ nennt. Hugin und Munin sind Götterboten, sie fliegen täglich um die ganze Welt, um Odin, Göttervater der nordischen Mythologie, zum Frühstück von allen Neuigkeiten zu unterrichten. Dabei ist Hugin fürs Denken, Munin für die Erinnerung zuständig. Darauf hofft Mina: Waren die Krähen nicht immer sozusagen hautnah dabei, auf dem Galgen und der Richtstatt, haben sie sich nicht auch von den Toten des 30jährigen Kriegs genährt, wie Annette von Droste-Hülshoff es in ihrem Gedicht beschrieb: „Kein Geier schmaust’, kein Weihe je so reich! In achtzehn Schwärmen fuhren wir herunter, das gab ein Hacken, Picken, Leich’ auf Leich“...?
Endlich hockt die Krähe bei ihr im Zimmer und beginnt zu sprechen. Wer Marons Skizze „Krähengekrächz“ kennt, wird hier einiges wiederfinden: mit feinen Strichen zeichnet sie die magische Verbindung zwischen Mensch und Tier, paradiesisch, möchte man glauben. Doch als ihre Protagonistin dem Tier Erinnertes entlocken möchte, erhält sie vielmehr Nachhilfestunde in zynischer Menschenkenntnis: die Krähe macht sich lustig über die menschlichen Skrupel, die nur verdeckten, dass sie in Not und Hungerzeiten nichts anderes als Tiere seien, die ans eigene Überleben denken, nicht an hohe Moral. „Sterben lassen, was nicht leben kann“, doziert die Krähe. Die Menschen aber würfen sich schützend über alles, was sie für schwach und hilflos hielten. Doch: „Das dümmste Tier weiß, dass es nicht mehr Nachkommen haben darf, als es ernähren kann.“
Der Roman lockt nicht nur mit einer spannenden Versuchsanordnung und mit einer zwischen Melancholie und leisem Spott changierenden Erzählerstimme. Monika Maron ist eine Meisterin darin, historische Reflexion mit der Betrachtung der gegenwärtigen conditio humana zu verbinden, so dass es gar nicht mehr sonderlich gewagt erscheint, die heutige wie die vor gut 400 Jahren für eine Vorkriegszeit zu halten.
Trifft die kühle Bemerkung der Krähe nicht genau das, was in Afrika geschieht und unaufhaltsam nach Europa drängt, wo das gebotene Mitleid zum Verhängnis zu werden droht? Zu allen Zeiten und in allen Kulturen lag kriegerischer Zündstoff in einem Überschuss an jüngeren Söhnen, die nicht in die Familiennachfolge eintreten oder einen eigenen Hausstand gründen konnten. Ihr Ventil war (und ist) Krieg. Und wo liegt der Unterschied zwischen den wehrhaften Bauern, die man im 30jährigen Krieg mitsamt Schloss verbrannt hat und, sagen wir, einem christlichen Ehepaar nahe Lahore, das von seinen Nachbarn in einen Feuerofen gesteckt wurde? Ja, natürlich: historische Analogien sind mit Vorsicht zu genießen, aber man darf und soll über sie nachdenken.
Marons Erzählerin zweifelt übrigens durchaus an ihrer von ihr selbst als nahezu zwanghaft empfundenen Neigung, immer etwas zu finden, was damals und heute verbindet, doch sie findet genug, viel zu viel davon. Zudem beginnt nun unten auf der Straße, in ihrer Nachbarschaft, ein Krieg im Kleinen. Der Versuch, sich gegen die schrille Sängerin zu wehren, bringt die Nachbarschaft erst zusammen und dann auseinander. Der Taxifahrer, nennen wir ihn „das Volk“, streitet mit den Feinsinnigen, nennen wir sie die Toleranzbürger, und ehemalige DDR-Bewohner werden wieder „vorsichtig mit dem, was man sagt.“ Der Taxifahrer, der nachts arbeitet, will tags seine Ruhe, der Audifahrer, der irgendwas mit Medien macht, behauptet kühl, man benutze die ja eigentlich hilfsbedürftige Sängerin lediglich als stellvertretendes Ziel für eigentlich ziellose Wut. Weitaus schlimmer als strapaziöse Nachbarschaften seien schließlich Atomkraftwerke und Einflugschneisen von Flughäfen. Bätschi.
Doch dann wird eine junge Frau überfallen, von zwei Männern südländischen Aussehens, sagt sie. Ihr kleiner Hund will sie verteidigen, wird von einem der Männer erstochen, worauf sie so laut schreit, dass die beiden flüchten. Über den Tod des Hundes sind viele womöglich erschütterter als über die versuchte Vergewaltigung. Mina Wolf wiederum ist sich unsicher, ob das alles zusammenhängt, aber sie beobachtet, wie sich die Straße verändert: immer mehr deutsche Fahnen hängen aus den Fenstern und einmal ertönt gar der Chorgesang deutscher Volkslieder. Man könnte meinen, dass sich da Fronten ausbilden und verhärten.
Als die Sängerin stirbt, bleiben die Fahnen hängen. In der Tat: Die Wut galt nicht ihr, aber ziellos war sie deshalb nicht. Das alles beobachtet Mina mit Bangen und Staunen. Die Krähe ist das Chaos in ihrem Kopf, eine innere Stimme, nüchtern bis zynisch, der sie nicht folgen mag, der sie aber auch nicht widersprechen kann.
Monika Marons „Munin“ ist der Roman zur Zeit und zur Lage, kein Pamphlet, nirgends schrill, eher tastend, erprobend und immer wieder richtig komisch. Es gibt wohl derzeit kein anderes Buch, in dem thematisiert wird, was viele im Land beschäftigt, von der Einwanderung der überzähligen Söhne aus bevölkerungsreichen in bevölkerungsarme Länder, von Afrika also nach Europa, bis zur Ankündigung „unserer Eroberung“, wie die Protagonistin einmal sagt, „mit Waffen und Geburtenraten.“ Letzteres hat, übrigens, der türkischePräsident Erdogan schon mehrfach angedroht.
Treffend schreibt Tilman Krause von der "Welt": Hier „entfaltet sich in kunstvollen Assoziationskreisen ganz allmählich ein Stimmungsbild zur Lage der Nation, wie man es so sprachlich beiläufig einerseits, so raffiniert historisch gespiegelt andererseits noch nicht gelesen hat.“
Anderen scheint gerade das so gar nicht zu gefallen. Die Qualität einiger Kritiken, genährt von Abwehrreflexen und zwanghafter politischer Korrektheit, verdient eine eigene Betrachtung, man darf sie womöglich so symptomatisch finden, wie einige Kritiker das Buch.
Habe Monika Maron nicht zugegeben, dass sie vor dem Islam Angst habe? Und heißt es nicht über sie, sie sei rechts? Daraus schließt ein Rezensent messerscharf, in der Figur der Erzählerin gebe sich die Autorin zu erkennen. Eine andere Besprecherin findet ebenfalls nichts dabei, Autorin und Erzählerin in eins zu setzen, sie behauptet, „dass Monika Maron alles zusammenrührt, was ihr Angst und Sorgen bereitet“. Eine weitere Stimme: „Kaum verhohlen lässt sie ihre Protagonistin Ressentiments äußern, die keine erzählerische Notwendigkeit besitzen“, was den Kritiker zum Eindruck verführt, „dass manche Ansichten vor allem ein Ventil sind für die angestauten Meinungen der Autorin.“ Die Geißelung der Autorin für die Empfindungen der Erzählerin wäre das Ende der Literatur unter dem Diktat dessen, was gerade als politisch korrekt empfunden wird.
Selbst in der Süddeutschen spürt der ansonsten lobende Kritiker „eine Zustimmung heischende Darstellung des AfD-haften Wutbürgerressentiments durch die Erzählerin“, immerhin: nicht durch die Autorin. Was soll das? Die Erzählerin teilt hier und da die Verwirrung und Entgeisterung im Lande, Empfindungen, die dem Rezensenten offenbar so wenig vertraut sind, dass er sie unter Ressentiment ablegt, die nur ein Wutbürger haben kann, der AfD wählt. Dem Buch wird also vorgeworfen, dass die Protagonistin hellsichtiger ist als sein Rezensent.
Wie wäre es, wenn man umgekehrt solcherlei „Buchkritik“ als Beleg dafür nähme, dass die Sitten auch hier verrohen, indem Zensurwünsche einziehen? Wäre das der Stand heutiger Literaturkritik, wäre es schlecht um sie bestellt. Und tatsächlich: der Höhepunkt ist mit diesen Beispielen noch nicht erreicht. Die Palme gebührt dem Hessischen Rundfunk für eine „Buchempfehlung“, die am Ende keine sein darf.
Zunächst lobt die Rezensentin. Doch als es im Buch um eine „kopftuchtragende Bevölkerungsexplosion“ (sic!) gehe und gar noch um eine Vergewaltigung durch zwei südländisch aussehende Täter, dem die Autorin nichts entgegensetze, ist für sie „eine Grenze überschritten“. 
Wie? Die Autorin soll sich von der Erzählerin distanzieren? Und die wiederum soll die Aussage des Opfers einer Vergewaltigung anzweifeln? Ein in den Zeiten von „Me too“ bemerkenswert antifeministisches Ansinnen. Solch Urteil verdankt sich offenbar einer anderen Einschätzung, nämlich folgender: Marons Buch sei „ein Beleg dafür, dass die bürgerliche Mitte scheinbar unaufhaltsam nach rechts rutscht.“ Da ist wohl vor allem der Rezensentin einiges verrutscht. Zum einen hat die Vergewaltigung im Roman gar nicht stattgefunden. Zum anderen darf auch in der Literatur vorkommen, was zur Realität gehört. Oder darf man sich nur von alten weißen Männern bedroht fühlen? Maron überdies die Beweislast für bürgerliche Rechtsdrift aufzudrücken – ach, was soll’s. Dazu fällt einem wirklich nichts mehr ein. Der Kampf gegen rechts scheint manch eine blind zu machen.
Nicht nur Philipp Tingler im „Literarischen Quartett“, auch Tilman Krause in der „Welt“ hat gemerkt, was den anderen entgangen ist. Er erkennt „in der Heldin eine Suchende (...), die sich die gleichen Fragen stellt wie wir alle, denen nicht die Ideologie im Kopf schon alle Antworten gibt.“







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