Donnerstag, 21. Januar 2021

Die Stimme der Provinz - Kolumne 3: Stadtflucht und Landwahn

 Flucht aufs Land? Alle Jahre wieder. Das hat seine Konjunkturen. Man denke an die Künstlerkolonien um die Wende vom 19. aufs 20. Jahrhundert, Worpswede ist hierzulande die bekannteste. Doch die letzten Ausbrüche des Landwahns liegen noch gar nicht so lange zurück.

In den Siebziger Jahren dürften die autochthonen Ländler die aus den Städten flüchtenden Kommunarden abstoßend bis possierlich gefunden haben. Nicht nur der damals beliebten Selbsterkundungsrituale wegen oder angesichts nackerter Mondanbeter unter Drogeneinfluss. Mit schadenfroher Anteilnahme wird man auch die Versuche im ökologischen Gartenanbau beobachtet haben.

Die Hippies hatten die Bibel des biodynamischen Gemüsestreichelns studiert, pflanzten mit dem Mond, um in Harmonie mit den Planeten zu geraten und erlitten ihre Niederlagen dank bodenschonendem Verzicht auf mechanische Unterstützung beim Hacken und Säen mit heroisch ertragenen Rückenproblemen. Hauptsache chemiefrei. Nur aus den wenigen Zähen unter den vielen Idealisten wurden erfolgreiche Biobauern. Etwas blieb – und auch das hat das Land langsam aber sicher verändert.

Auch Tourismus erhält ländliche Kultur

Im französischen Teil meiner Familie hat der Pariser Mai 1968 und der Kontakt mit dem Tränengas der französischen Polizei den Wunsch nach einem Ausstieg aus dem kapitalistischen Verwertungszusammenhang enorm beflügelt. Als „néoruraux“ zog man in die tiefe französische Provinz, wo nichts los war, und kaufte mürrischen Bauern efeubewachsene Steinhaufen ab, um daraus mit blutenden Händen wieder ein Haus zu errichten. Wer sich landwirtschaftlich betätigte, erhielt staatliche Unterstützung – auch das ein Anreiz für Aussteiger.

Doch nach Ausflügen in die Himbeerzucht stellte meine Verwandtschaft die Landwirtschaft wieder ein und verlegte sich auf das Vermieten romantischer Unterkünfte in alten Steinburgen, die nach dem unverhofft beendeten Seidenraupenboom im 19. Jahrhundert in der Ardèche seit Jahren leerstanden. Dieser Idee folgten andere, und so ist auch in der einst einsamen Gegend mittlerweile reichlich was los. Selbst die französischen Bauern sind nicht mehr ganz so mürrisch. Merke: Auch Tourismus erhält ländliche Kultur.

Die französischen Hippies, die damals in die düsteren Cevennen zogen, haben dabei nicht nur Shit geraucht und getrommelt, sondern auch untergegangene Traditionen wieder aus der Versenkung geholt, das, was jahrelang als nicht mehr modern galt, wie etwa der traditionelle Chevre, der französische Ziegenkäse. Man hielt Schafherden, baute Obst- und Gemüse an, authentisch öko, und versuchte sich bald auch im Weinanbau. Besser und professioneller als zu der Zeit, als viele den eigenen Weinberg für die Selbstversorgung mit einer nur von Ferne nach Wein aussehenden Plörre nutzten. Das Rad dreht sich: etwas verschwindet, dann taucht es wieder auf, in dieser oder jener Form.

Eine Kneipe könnten wir noch gebrauchen

Die Wiederentdeckung des Landes ist ebensowenig neu wie der Niedergang der Stadt, auch das scheint ein ewiger Kreislauf zu sein. Wer London aus den 70er Jahren kennt, weiß, in welchem desolaten Zustand sich die Stadt befand, die sich jetzt mächtig aufplustert als Megacity. Vor fünfzig Jahren war sie ein Dorado für Hippies, Esoteriker und Musiker. Eine ähnliche Bewegung vollzog sich in New York: Künstler und Bohemiens eroberten die armen und heruntergekommenen Stadtteile, bis die sich vom Geheimtipp zum neuen Anziehungspunkt entwickelt hatten. Auch in deutschen Städten wurden die einst zum Abriss freigegebenen Gründerzeitquartiere wiederentdeckt und „gentrifiziert“. Und was jetzt? Offenbar werden sie wieder verlassen, die Städte, von der Coronapolitik der Regierung gefleddert und unwirtlich gemacht. Die Innenstädte leegeräumt und verwahrlost, den Rest teilen sich Alte, Arme und Ausländer. In dreißig Jahren mag das wieder anders sein.

Es gibt keinen alternativlosen Abschied vom Land, das Rad dreht sich, aber es gibt nicht nur Wiederholung. Der Bauerngarten wird überleben, aber nicht jeder aufs Dorf gespülte Städter wird zum Selbstversorger werden, wie es die Utopie noch in den 70ern war. Oder doch? Vielleicht wird auch die lange Zeit übliche Nebenerwerbslandwirtschaft eine neue Blüte erleben. Anleitungen findet der Willige in den Landlustillustrierten, deren Leserschaft viermal so groß ist wie die Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten. Im übrigen könnte der Hang zum Regionalen bei den noch nicht veganen woken Stadtflüchtigen auch dazu führen, dass sie das bekommen, was sie dem Tierwohl zuliebe wollen: Wo eine Nachfrage ist, findet sich auch ein Angebot.

Bei uns werden wieder vermehrt Schafe gehalten und verwertet, der Schafskäse aus dem Dorf nebenan ist übrigens großartig. In meinem Dorf gibt es mittlerweile mehr Hühner als Menschen. Wer sich als Zugezogener beliebt machen will, sollte uns vielleicht mit einer Hausbrauerei und angeschlossener Kneipe überraschen, das bräuchten wir hier. Das würde uns, die wir hier schon eine kleine Weile länger wohnen, glatt dafür entschädigen, dass die Neuländler sich womöglich so dumm anstellen wie einst unsereins.

Denn, ja: hier herrschen noch immer andere Sitten und Gebräuche. Man grüßt einander, wenn man sich begegnet. Man hält noch ein Schwätzchen über den Gartenzaun (wofür ich so gar kein Talent habe). Man macht vieles selbst, was man in der Stadt gewohnheitsmäßig der Straßenreinigung, dem Hauswirt oder anderen Institutionen überlässt. Wer etwas tut, fällt angenehm auf. Wenn man also mit der Leiter nicht an die Äpfel rankommt, weil sie einfach zu hoch hängen, darf man den Nachbarn bitten, mit dem Vorderlader vorbeizukommen.

Ist das nicht paradiesisch?

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