Dienstag, 7. Juni 2016

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte

Es gibt Dinge, hat Thomas de Maiziere einmal gesagt, die man der Bevölkerung nicht erzählen sollte, da es sie „verunsichern“ könne. Zum Beispiel harte Fakten und solide Zahlen über das, was sie jetzt und in Zukunft erwartet, wenn der Zustrom nach Deutschland anhält.
Da hat er sein Publikum aber durchschaut! Hart und solide? Kalt und nüchtern? Das mögen die Landeskinder nicht. Wo es doch „um Menschen“ geht! Die Kanzlerin bevorzugt ja auch ein freundliches Gesicht, weil das einfach menschlicher ist. Und so folgt ein jeder der Stimme des Herzens, ohne dass wir erfahren, wohin das führt.

Die persönliche Betroffenheit ist das Markenzeichen des „menschlichen“ Politikers geworden. Wer keinen direkten Zugang zu einem menschlichen Schicksal hat, kennt gewiss jemanden, der jemanden kennt. Familienministerin Manuela Schwesig etwa hat einen Schlosser zum Vater, was für die Rentendiskussion von Belang sei, und einen engen Draht zu unseren Sicherheitskräften, da ihr Neffe Polizist ist. Sie schöpft also direkt aus der Quelle.

Arbeitsministerin Andrea Nahles hat ebenfalls einen direkten Zugang zum Volk, da ihr Vater Maurer in der Eifel war. Deshalb die Rente schon ab 63! Nichts könnte menschlicher sein. Papi ist der Massstab für alle anderen Mühseligen und Beladenen und die Eifel ist der Nabel der Welt. Es entspricht ungeschminkter Selbsterkenntnis, wenn Nahles im Bundestag das Pippi-Langstrumpf-Lied anstimmt: „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt.“ Wie hieß das noch in den 70er Jahren? Das Private ist politisch. Politik in der ersten Person. ICH mach mir die Welt...

Dass der Einzelfall exemplarisch sei, prägt schon länger das Verhältnis zur Wirklichkeit in Politik und Medien. Im Spiegel heißt ein Artikel treffenderweise „Geschichte“, die am besten mit einem singulären Schicksal anfängt, das man im Folgenden, gern mithilfe von „Dunkelziffern“, zum Gesamtbild hochrechnet. Wer das scheinbar so Evidente anzweifelt, wird vom mitleidenden Publikum mit Sätzen wie: „Aber ich kenne jemanden, der selbst gesehen hat, wie ...“ ins kaltherzige Abseits gestellt. Allein die Bemerkung, dass die Politik der offenen Grenze auch Kriminellen und Terroristen freien Zugang gewährt, wird gern beantwortet mit: „Meine muslimischen Freunde würden nie...“ Natürlich nicht. Meine auch nicht. Ich bin schließlich nicht mit Terroristen befreundet.

Wie kam das in die Welt, das Verwechseln des Einzelnen mit dem Allgemeinen? Warum fällt es vielen so schwer, zwischen einer verallgemeinernden Aussage und dem Einzelfall bzw. persönlichen Erfahrungen zu unterscheiden? Und kann man diese Unart auch wieder abstellen?

Wohl nicht, solange Politiker und Medien der Verkaufsstrategie folgen, dass es darauf ankomme, Gefühle zu erzeugen, wenn man dem Publikum etwas unterjubeln will. Unterstellen wir freundlicherweise, dass die wenigsten dabei wohl auf die Idee kämen, dass auch das, was in gutwilliger Absicht geschieht, den Grundsätzen der Propaganda folgt. „Ein Bild sagt mehr als alle Worte“, beispielsweise. In der Tat: es appelliert direkt ans Gefühl, wie etwa das Foto des kleinen an den Strand von Bodrum gespülten Aylan. Mitleid, dem Individuum geschuldet, bestimmte danach die Debatte weit über den Einzelfall hinaus.

Doch auch Fotos bilden nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit ab und stehen oft ganz und gar nicht für „das Ganze“. Dennoch ist die Angst vor „hässlichen Bildern“ nicht nur bei der Kanzlerin groß.

Politik aber ist keine Märchenstunde oder eine einzige große Erzählung, bei der es tatsächlich nur auf das Subjekt, auf die Gefühle und Motive der Protagonisten ankäme. Politik ist nicht Literatur, die das nicht nur darf, sondern soll: sich radikal auf den Einzelfall beziehen. Das Politische hat das Allgemeine zum Thema, dazu braucht es nüchterne Fakten, kalte Zahlen und eine Analyse der großen Zusammenhänge. Ein subjektiv schweres Schicksal wird jeder bedauern, aber ob es eine Aussage über das Ganze trifft – „die Gesellschaft“, „unseren“ Charakterzuschnitt – bedarf einer genauen Analyse. In einer so gründlich durchmoralisierten Debatte, wie sie hierzulande vorherrscht, gilt aber selbst das schon als Sakrileg.

Kann man die Unart, Politik und Moral, Gefühl und Realität zu verwechseln, wieder aus der Welt bringen? Es wäre an den Medien, das zu verweigern, worauf die stets wahlkämpfenden Politiker setzen, nämlich vor allem Gefühle zu erzeugen. Es wäre Aufgabe des Journalismus, alle Fakten zu benennen, auch und vor allem jene, die unangenehm sind, auch dem eigenen Gefühl. Kampagnenjournalismus ist nicht nur schnell entlarvt, er bringt vor allem die ganze Branche in Verruf. Wer einen AfD-Politiker so „überführen“ möchte, wie es die FAS kürzlich mit Alexander Gauland versucht hat, gibt zu erkennen, dass er keine besseren Argumente als den Appell ans gesunde Volksempfinden kennt.



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