Also: macht, liebe Briten, was ihr für richtig haltet. Habt
ihr ja immer schon getan.
Der Theaterdonner, der auf beiden Seiten veranstaltet wird,
trifft, scheint mir, nur am Rande, worum es eigentlich geht. Die Briten
verlieren weder ihre Kultur und ihre Eigenheiten, wenn sie bleiben, noch
verlieren sie ihren Wohlstand, wenn sie gehen. Doch die Stimmung ist auf beiden
Seiten derart aufgeheizt, dass selbst der tödliche Angriff auf Jo Cox
instrumentalisiert wird – ausgerechnet von jener Seite, die sich ansonsten gern
jede Instrumentalisierung verbittet, sofern sie der Gegenseite nützen könnte. Also
hieß es umgehend, es könne unmöglich ein gestörter Einzeltäter unterwegs
gewesen sein, nein: die „Brexiteers“ hätten beim Angriff auf die
EU-Befürworterin mitgestochen und –geschossen.
In deutschen Debatten wird ja gern ähnlich
instrumentalisiert: Pegida hat mitgestochen, wusste man im deutschen
Blätterwald, als ein Eritreer in Dresden tot aufgefunden wurde (Opfer, wie sich
herausstellte, eines Landsmanns). Auch bei der Attacke auf Henriette Reker führten
selbstredend alle das Messer, die mit mehr oder weniger guten Gründen die
Migrationspolitik der Bundesregierung kritisieren. An solche Kurzschlüsse wird
man sich wohl gewöhnen müssen. Die politische Debatte verschärft sich – denn es
geht ja um etwas, um etwas Existentielles.
Aber, um bei der EU zu bleiben, um was genau? Um den
Frieden, den Wohlstand, die Zukunft, die Solidarität, das wohlverstandene
Eigeninteresse, das weltpolitische Gewicht Europas?
Correct me if I’m wrong: aber hat sich das weltpolitische
Gewicht Europas nicht längst massiv verringert, vor allem durch das Experiment
„Eurozone“, dass uns nicht die Gleichheit, sondern die Gegensätzlichkeit der
Interessen der europäischen Nationen vorgeführt hat? Kommt ohne EU der Handel
zum Erliegen, der doch vorher auch schon ganz gut geklappt hat? Ist Solidarität
in Form einer Transferunion nicht lediglich eine neue Weise, „gerettete“ und
subventionierte Länder in Abhängigkeit zu halten? Dass es einem Land auch ohne
EU wirtschaftlich glänzend gehen kann, demonstrieren die Schweiz und Norwegen.
Gibt es also eine weltpolitische Notwendigkeit für die EU, sofern sie mehr sein
will als ein freier Verbund selbständig agierender Gemeinwesen, die ihre
Interessen kennen?
Viele Briten sehen genau das nicht ein, was Vertreter der EU
(die ihr Anliegen gern „Europa“ nennen) mit tremolierender Verve behaupten:
dass wir ohne ein vereintes Europa schlafwandlerisch in ein nächstes
katastrophales Jahrhundert schliddern würden.
Wer möchte nicht, dass Europa ein durchweg friedlicher
Kontinent ist und bleibt? Doch der Frieden nach 1945 verdankte sich weniger den
Vereinigungsbemühungen, die in der EU mündeten, als dem Kalten Krieg zwischen
der Sowjetunion und den USA, der Friedhofsruhe garantierte. Mit der war es nach
dem Fall des Eisernen Vorhangs denn auch vorbei. Das durch Zwang
zusammengehaltene Jugoslawien zerbrach – und Saddam Hussein versuchte, Kuweit
zu annektieren, weil er wusste, dass es nun nicht mehr bei jedem Funken zur
großen Explosion kommen würde.
Dass Friedensprojekt EU hat mit der Installation der
Eurozone gezeigt, dass die gemeinsame Währung höchstens für Touristen ohne
Kreditkarten hilfreich ist, der europäischen Verfreundschaftung aber hat der
Euro alles andere als gut getan.
Doch gehört nicht einem mehr und mehr vereinigten Europa die
Zukunft? Ist nicht ein reaktionärer Nationalist, wer beim Gedanken an die
Zukunft anders träumt? „Zukunft“ und „modern“ gegen verhockt und reaktionär
sind die Zauberworte, die der allgemeinen Vernebelung noch ein paar hübsche
Rauchwölkchen hinzufügen.
Der Publizist Gerd Held hat jüngst die Angstkampagne gegeneinen Ausstieg Großbritanniens analysiert, in der kaum noch verdeckt mit einem
veritablen Handelskrieg gedroht wird.
„Weltoffenheit“ sieht anders aus.
Tatsächlich
ist das EU-Projekt ein Antagonismus, denn es produziert eben nicht Offenheit,
sondern Unbeweglichkeit. Es entspringt dem Denken der 60er und 70er Jahre, als
man das Heil in großen Einheiten suchte – ein Echo der marxistischen
Vorstellung, dass der Kapitalismus zu immer größeren Aggregaten führen müsse,
die man dann um so leichter in Volkseigentum überführen könnte. Als
wirtschaftlich erfolgreich aber haben sich, übrigens insbesondere in
Deutschland, die kleinen beweglichen Produzenten erwiesen, die „hidden
champions“ des Mittelstands. Großorganisationen sind hoffnungslos unmodern,
Dinosaurier, dem Untergang geweiht. Haben die Briten das womöglich erkannt?
Der Guardian zitiert Brexiteers,die nichts mit der Karikatur eines mit nationalem Eigensinn übermäßig
ausgestatteten skurrilen Briten zu tun haben. Sie votieren nicht für insulare
„Abschottung“, sondern halten den Beschluss zum Beitritt in die EU 1973 für
Hasenherzigkeit aufgrund einer Phase ökonomischer Schwäche. Die aber ist vorbei,
Großbritannien braucht die Mutterbrust nicht mehr. Im übrigen sei es weder
modern noch zukunftsträchtig, Freiheit und Freiheiten an der Garderobe einer
fürsorglichen EU-Bürokratie abzugeben. Die Zukunft gehöre beweglichen Staaten
anstelle von unbeweglichen bürokratischen Blöcken.
Was auch immer die Briten entscheiden: es ist hohe Zeit,
darüber zu streiten, ob die EU ein Modell für die Zukunft ist – oder ob es uns
nicht allen besser bekommen würde, wenn wir auf einem Kontinent lebten, auf dem
freie Länder sich gegenseitig überbieten, was Lebensqualität und
Innovationslust betrifft. Nicht die Ökonomie und nicht die „soziale Frage“
allein stehen derzeit auf dem Spiel.
It’s a question of freedom, stupid.
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