Sonntag, 12. Juni 2016

Kritik ist keine Hetze

Wörter und Begriffe haben ihre Konjunktur und ihre Konnotationen. Wenn Begriffe, die einen historischen Echoraum haben, plötzlich wieder Mode werden, ist das eine Überlegung wert.

Da ist das Wort «Hetze», das seit einiger Zeit die Runde macht. Menschen mit Gedächtnis erinnert es an einen Straftatbestand der DDR namens «Boykotthetze». Darauf konnte die Todesstrafe stehen. Gemeint waren, neben Spionage, «Staatsverleumdung» oder «staatsgefährdende Propaganda». Faktisch zielte der Vorwurf auf abweichende Meinungen, also auf die Meinungsfreiheit.

Das ist vielleicht nicht jedem bewusst, der den Terminus benutzt. Doch wer denkt dabei nicht an die Judenhetze des «Stürmer», an die nationalsozialistische Propaganda also? Das allerdings ist so ziemlich das grösste Geschütz, das man im Meinungsstreit auffahren kann.

Mir persönlich ist das Wort das erste Mal im Jahre 2011 nahe gerückt, als eine Rezensentin meine Kritik an der deutschen Bundeskanzlerin als «Hetze» bezeichnete – eine Kritik an Angela Merkel, pikanterweise vom Standpunkt ihrer einst marktliberalen Positionen von vor 2005 aus. Zum Hass auf Merkel hatte ich nicht aufgerufen, auch nicht zu ihrer Vernichtung, und von Staatsverleumdung ist in einer Demokratie gottlob nicht bereits die Rede, wenn man die Regierung kritisiert.

Kritik ist Hetze? Das wäre eine erstaunliche Karriere, war doch die radikalkritische Infragestellung des Gegebenen einst die Königsdisziplin jedes Menschen, der einmal Intellektueller werden wollte. Bis vor kurzem verstand sich jedenfalls von selbst, dass insbesondere eine CDU-geführte Regierung das legitime Ziel solcher Kritik hergab. An den Sozialdemokraten kritisierte man höchstens, dass sie nicht links genug seien. Heute aber findet es ein von der «FAZ» zum «Spiegel» gewechselter Journalist ungehörig, «wenn selbst Intellektuelle gegen Politiker wettern» und «Panik stiften», denn daraus folgten Taten – wie die Messerattacke auf die spätere Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker im Oktober 2015. Auch das ein beliebtes Bild: Wer hat nicht schon alles mitgeschossen oder mitgestochen nach Meinung vieler gouvernementaler Journalisten, bevor noch der Tatbestand geklärt war, weil seine Verlautbarungen ein Klima erzeugt hätten, das andere zur Gewalt geradezu nötige?

Also: Wer die Politik der Merkel-Regierung kritisiert, ist ein Hetzer und ein Brandstifter, also: ein Rechtsextremer? Kritik ist Aufstachelung zu Mord und Totschlag?

Dann wäre «Angst schüren» die Vorstufe dazu. Einst gehörte Angst zum deutschen Nationalheiligtum, und allein der Aufschrei «Ich habe Angst» rechtfertigte umfassende Massnahmen weit über Erste Hilfe hinaus. Bisher galt es stets als Tugend, auch schon einmal voreilig und ohne fundierten Nachweis Alarm zu schlagen, etwa was die Schädlichkeit von Lebensmitteln betrifft oder die Bedeutung eines Erdbebens in Japan für die Sicherheit von Kernkraftwerken in Deutschland.

Für eine kritische Begutachtung der Massenmigration nach Europa aber gilt das nicht. Wer zu Willkommensrufen keinen Anlass sieht, verbreite Panik, heisst es nun. «Angst schüren» ist dann verwerflich, wenn die Panikmacher nicht zu der anerkannten Spezies der Klimaapokalyptiker zählen oder nicht wenigstens Anti-Atomkraft-«Aktivisten» und antikapitalistische Systemkritiker sind.

Merke: Wer mahnt und warnt, ist ein guter, wer Angst schürt, ein schlechter Mensch.

Ein ganz schlechter Mensch aber ist einer, der einen «Generalverdacht» ausspricht. Doch wenn Politiker davor warnen, Menschen wegen ihrer Abstammung, oft gleichgesetzt mit ihrer Religionszugehörigkeit, unter «Generalverdacht» zu stellen, dann sind davon pikanterweise die «Biodeutschen» ausgenommen, die jedes Verdachts würdig sind, insbesondere, wenn es sich um Sachsen handelt. (Das sind ganz finstere Gestalten, die in einem Landzipfel weit im Osten Deutschlands hausen.)

Der «Kampf gegen Rechts» rechtfertigt offenbar einiges. Doch diese Art von Kampf gegen das Erzböse gebiert Monster. Wenn Menschen besten Gewissens öffentlich erklären, das Schlimmste an den Anschlägen in Brüssel sei, dass sie von «den Rechten» instrumentalisiert werden könnten, zeugt das von einer atemberaubenden Mitleidlosigkeit mit den Opfern des islamistischen Terrors. Woher die verschobene Wahrnehmung? Was lässt einen deutschen Politiker wie Heiko Maas, immerhin Justizminister, nach den Pariser Terroranschlägen vom Januar 2015 demonstrativ in einer Moschee knien, als ob dort die wahren Opfer anzutreffen seien?

Und was sagt uns das, wenn sich Politiker beständig im Ton vergreifen, von Pack, Mob und Pöbel sprechen, lauter Hetzer und Heuchler unterwegs sehen und in «Wutbürgern» eine «Schande für Deutschland» erkennen (Finanzminister Schäuble)? Ist es wirklich derzeitig vordringlich, deutsche Nazis ausfindig zu machen und auszuschalten? Oder vernehmen wir hier nichts anderes als die Fassungslosigkeit einer abgehobenen Elite, denen das Volk begegnet ist, der ungezogene Lümmel, der sich anmasst, in Angelegenheiten von elementarer Bedeutung mitreden zu wollen?

Gewiss, auch beim Stimmvieh ist der Ton rauer geworden, seit jeder, auch wer weder sprachlich noch inhaltlich auf höchstem Niveau operiert, seine Meinung herausstammeln oder -stottern darf. Im digitalen Zeitalter meldet sich eben auch die Plebs zu Wort, und die macht oft und gern kurzen Prozess. Davon aber aufs grosse Ganze zu schliessen, wozu auch wehleidig gestimmte Journalisten neigen, ist nichts anderes als – ein Generalverdacht.

Mein Verdacht ist ein anderer. Warum kann, was geschieht, nicht ohne solch aufgeladene Vokabeln benannt werden? Natürlich sind Brandanschläge zu verurteilen, mit aller verbalen Entschiedenheit, selbst wenn man den Täter noch nicht kennt. Natürlich ist der Gewalt zu wehren, egal, gegen wen sie sich richtet. Häuser abzufackeln, ist ein Verbrechen, der Aufruf zum Hass ist es ebenfalls, egal, woher er kommt. Doch mich irritiert die Renaissance von Vokabeln, die aus der Kiste des Klassenkampfs stammen. Oder aus der Kiste des «antifaschistischen Kampfs» der bolschewistischen Linken.

So klingt das jedenfalls, wenn vor dem «Beifall von der falschen Seite» gewarnt wird oder Argumenten entgegengehalten wird, dass sie nur «den Populisten» dienten: wie in alten Zeiten, als die Kommunisten sogar die Sozialdemokraten unter die «Faschisten» zählten. Denn mal ehrlich: Wer den «Kampf gegen Rechts» für wichtiger hält als den Kampf gegen den islamistisch inspirierten und begründeten Terrorismus, hat entweder einen gewaltigen Knick in der Optik oder lebt im vergangenen Jahrhundert, als der real existierende Sozialismus noch viele Völker glücklich machte.

Doch vielleicht sind wir bereits im (rhetorischen) Bürgerkrieg? Der Ministerpräsident Sachsens, jenes Landstrichs, der unter Generalverdacht steht, meinte kürzlich zu in der Tat hässlichen Szenen in zwei sächsischen Dörfern, gemünzt auf «grölende» Einwohner und ohne höheren Wissensstand über die wirklichen Vorkommnisse: «Das sind keine Menschen, die so was tun. Das sind Verbrecher.»

Sind Verbrecher keine Menschen? Haben sie, und etwas anderes kann ja kaum gemeint sein, etwa nicht den unter Menschen üblichen Umgang zu gewärtigen? Gilt für sie nicht, was doch in vielen Debatten als höchstes Gut gilt: das Menschenrecht? Gehören sie – eliminiert?

Nun ja, was geht uns das an, das deutsche Syndrom einmal wieder, mag der glückliche Schweizer denken. Doch nicht nur in Deutschland scheint das Moralisieren die Politik verdrängt zu haben – und die Propaganda den Meinungsstreit. Es wäre für ganz Europa und die kommenden Jahre nützlich, man könnte den Disput wieder üben. Denn jeder Konsens ist erzwungen, der ohne sachliche Auseinandersetzung zustande kommt. Doch vom offenen Streit scheinen wir uns jeden Tag weiter zu entfernen.

In: NZZ, 13. 6. 2016



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