Sonntag, 12. Juni 2016

Warum mir der Abschied von Facebook trotzdem schwerfällt

Erst sage ich Nein: Ich geh. Dann sage ich wieder Ja. Schleiche mich rein ins Getümmel, hinterrücks, tue so, als ob ich gar nicht richtig da wäre. Und bin ganz schnell wieder drin im Spiel: Poste possierliche Elefanten und verschmuste Wildkatzen und lese dabei verstohlen, was die anderen so treiben. Mir fällt der Abschied schwer.

Facebook kann so schön sein, für Schreibtischmenschen etwa, denen niemand über die Schulter guckt, wenn sie abschweifen, weil ihnen gerade nichts einfällt. Man muss nur die richtigen «Freunde» haben. Zum Beispiel all jene, denen es so geht wie unsereins, Schriftsteller also, die sich Grosses vornehmen («Zehn Seiten!»), kläglich scheitern und getröstet werden müssen. Denen man zujubeln darf, wenn das Buch unverhofft in der «Spiegel»-Bestsellerliste gelandet ist. Und denen man verzeiht, dass sie von jeder Lesung die immer irgendwie ähnlichen Bilder posten: Tisch, Schreibtischlampe, Wasserglas. Gebanntes Publikum. Händeschütteln, Blumenstrauss.

Dabei wäre einem schnell langweilig, gäbe es nicht all jene anderen, die etwas mehr in den grossen Topf geben. Unentbehrlich: Frans de Waal, der seine Gefolgschaft (so um die 500 000!) mit prächtigen Fotos und Videos von klugen Vögeln, begabten Fröschen und nachdenklichen Gorillas versorgt. Unbedingt sehenswert: der Schriftsteller Richard Birkefeld aus Hannover, der die kunstvollsten Selfies macht von sich, der Stadt (und dem Hund). Jeden Sonntag: die «Tatort»-Kritik vom Veranstalter des deutschen Krimipreises, dem Krimiautor Reinhard Jahn. Hintersinnig: Peter Glaser (ja, der!), der dem vielverrufenen «cat content» einen neuen Inhalt gegeben hat. Verführerisch: Max Dernet und sein «Hermann Löwauer Fragott und Horchester» mit Sätzen, die man sich täglich um die Ohren hauen sollte: «Wir leben, um eines Besseren belehrt zu werden.»

Besserwisser gibt es natürlich zur Genüge auf Facebook: die Vielleser, die das Gefundene teilen, gern auch aus der ausländischen Presse, das erspart eigene Mühe. Die Blogger, die ihre Posts auf Facebook verlinken. Die Menschen mit den geschliffenen Kommentaren zum Zeitgeschehen. Und nicht zuletzt die Qualitätspresse, die für ein bisschen Facebook-Freundschaft ihr Kostbarstes für lau unters Follower-Volk streut: die Texte ihrer Autoren.

Alles gut also. Doch. Ja. Wenn man es halbwegs geschickt anstellt.

Wer Facebook für ein Panoptikum hält, voll mit kuriosen Figuren, die jede Mahlzeit fotografieren, die Welt mit Herzchen und Kätzchen beglücken oder hässliche Sachen in schlechtem Deutsch verlauten lassen, hat zwar einerseits recht, vor allem aber die falschen Freunde. Hassposter, Trolle, Dummköpfe, Schwadronierer und andere Entbehrliche kann man abstellen, wenn man will. Freunde, die mit penetranter Selbstwerbung nerven, kann man unsichtbar machen, ohne sie entfreunden zu müssen. Themen, die einen nicht interessieren, einfach ignorieren: Facebooks Algorithmik sorgt schon dafür, dass einem das irgendwann nicht mehr unter die Augen kommt. Facebook ist eben, was man draus macht. Und doch ist nach einiger Zeit der Spass vorbei.

Das liegt nicht nur am beträchtlichen Zeitaufwand, zu dem Facebook ermuntert. Man muss schliesslich lesen, was die «Freunde» so posten, wenn man den Anschluss behalten will. Und zur Höflichkeit und zur Ermunterung der Mitmenschen gehört mindestens ein «Gefällt mir», wenn nicht gar ein möglichst phantasievoller Kommentar.

Aber nur nicht das Falsche liken, vor allem, wenn es sich um Politisches handelt! Politik ist, wie zurzeit wohl überall, der grosse Störenfried. Die Lager bekriegen sich auch bei Facebook. Da kann man nicht einfach in aller Unschuld posten, was man für diskussionswürdig hält, auch wenn man die im Beitrag zum Ausdruck kommende Position nicht teilt – es sei denn, man reicht die Gebrauchsanweisung in Gestalt der eigenen Meinung gleich mit. In Zeiten wie diesen folgt eher die Entfreundung anstelle der erwünschten Auseinandersetzung. Und wehe dem, der sich aus purer Neugier einer Gruppe zuwendet – sagen wir einmal: «Wir lesen ‹Deutschland von Sinnen›»? (Ja, genau, der Bestseller des kürzlich wegen etwas, was er nicht gesagt hat, durchs Dorf getriebenen «Hasspredigers» Akif Pirinçci.) So einer erhält schon einmal die Nachricht eines wohlmeinenden Freundes, man möge da «schleunigst austreten und die Sache richtigstellen», so etwas mache im Netz ganz schnell die Runde. (Ach ja? Und was, wenn?)

Sogar das unbedachte Posten eines Goethe-Zitats, das man für harmlos gehalten hat (es ging, falls ich mich richtig erinnere, um die Wahrheit und darum, dass der Irrtum auch in Zeitungen zu Hause sei), kann einem den Vorwurf eintragen, man drifte immer mehr ab nach rechts. (Also sogar unser Goethe? Schock!)

Von «rechten» Hasskommentaren zeigen sich alle betroffen, dabei sind die «linken» mitnichten harmloser. Aber es geht ja ums Abgrenzen, nicht ums Abwägen. Wir sind bei Facebook wirklich nicht auf dem Ponyhof.

Richtig unheimlich aber wird die Sache, wenn ein Kommentar, ein «Gefällt mir» oder auch nur ein Emoticon an der falschen Stelle existenzielle Konsequenzen hat. Ein bekannter deutscher Journalist, einst ein begeisterter Facebook-Bewohner, hatte hinter eine aus heutiger Sicht wenig strittige Bemerkung im Nachgang der Pariser Terroranschläge ein «Smiley» gesetzt, das man im Kontext gewiss für deplaciert halten konnte. Darob folgte die öffentliche Kündigung – die der Chefredakteur seinem Autor über Twitter androhte. Da fragt sich schon, wer von beiden das grössere Stilgefühl besitzt.

Ja, der Spass ist vorbei. Entfreundungen werden mittlerweile systematisch organisiert. Es gibt Leute, die zu Säuberungsaktionen aufrufen, Ratschläge machen die Runde, wie man Sympathisanten der «falschen» Partei im Freundeskreis aufspüren und unschädlich machen kann. Ein «Gefällt mir» an der falschen Stelle – und schon bist du ein Klassenfeind.

Pikanterweise ist in Deutschland ein staatlich bestelltes Kommando unterwegs, um Facebook von «Hasskommentaren» frei zu halten, in dem auch Anetta Kahane sitzt, die einst für die Stasi tätig war, den Spitzeldienst der DDR, für Mielkes Gedankenpolizei. Wie passend.

Wer Missverständnisse vermeiden will, poste also nichts öffentlich, halte seinen «Freundeskreis» klein, vermeide Gesinnungsschnüffler und like nicht einfach so ins Blaue hinein, nach Lust und Laune, heiter und unbedacht. Facebook ist längst kein nettes Gesellschaftsspiel mehr, es ist zu einer bierernsten Sache geworden.

Was immer man tut, sofern man nicht alles lässt: So geht es schnurstracks in die berühmte «Filterblase» – also in jenen schalltoten Raum, den niemand anstrebt, der sich nicht langweilen will, dorthin, wo man nur noch unter Gleichgesinnten ist. Dann lieber Bilder von Blumen, Katzen und Pizza teilen, lustige Videos, treffende Sinnsprüche und Spiele à la «Welcher Filmstar bin ich?». Ach, das dann vielleicht doch nicht.


Wen ich vermissen werde, wenn ich mich endgültig zurückziehe? Die Liberalen, die es auch in der FDP gibt, die Humorvollen, die es noch in der CDU aushalten, die Vernünftigen aus der AfD, die Realisten bei den Grünen. All die Menschen, die wissen, was die Welt an Israel hat, der einzigen Demokratie im Nahen Osten. Die urchigen Schweizer, die sich nicht dauerschuldig fühlen und darum nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Die Ossis, also alle, die in der DDR oder im Bereich der Sowjetunion aufgewachsen und/oder ihr entflohen sind und überaus empfindliche Nasen und Ohren haben für den Neusprech, der ihnen im goldenen Westen mittlerweile immer lauter entgegenschallt. Die Frauen und Männer, die als Sprachkünstler unterwegs sind, als Meister des Aperçus, als schnelle Einsatztruppe gegen die Nebelkerzenwerfer aller Couleur. Die Gründlichen, die naturwissenschaftlich oder überhaupt gebildet sind und ihr Wissen bereitwillig teilen. Die Botschafter aus anderen Ländern, die mutigen Ex-Muslime, die Freunde von Boris Johnson, die Kämpfer für die armenische Sache. Die Freundlichen, die als Gutenachtgruss ein Youtube-Video von Philippe Jaroussky posten, wie er engelsgleich eine Vivaldi-Arie singt. All diejenigen, die über Facebook Freunde geworden sind, ganz virtuell wirklich. Ach, was werd ich euch vermissen.

Wenn ich dann gehe. Falls.

In: NZZ, 9. März 2016

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