Sonntag, 14. Februar 2010

Hartz IV und die Gerechtigkeit

Der Jubel ist groß: Der Kläger, der Hartz IV für „ein soziales Verbrechen an Millionen von Menschen“ hält, fühlt sich als Sieger, Katja Kipping von der Linken feiert die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als einen „Festtag für die soziale Teilhabe", andere sprechen von einem „riesigen Schritt für die Gerechtigkeit“, kurz: wir sind dem Paradies ein Stückchen nähergerückt.
Um Himmels willen – um im Bild zu bleiben. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht das Land von Milch und Honig ausgerufen, sondern die realitätsnahe Präzisierung von Bemessungsgrundlagen gefordert. Außerdem ist es ein Organ der Rechtsfindung, keine Versammlung von Erzengeln, die Gerechtigkeit verkünden.
Doch hierzulande pflegt offenbar jeder gleich in die ganz große Posaune zu tröten, wenn er sein Anliegen plausibel machen will. Zeit wär’s, die heiße Luft aus der Debatte herauszulassen und sich ohne Empörungsfanfaren der Lebenswirklichkeit zu nähern.
Besichtigen wir also ein Dilemma. Sozialleistungen sollen Menschen in einer Notlage helfen, es gibt ein Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum – das ist für jeden Einzelnen und für das Gemeinwesen insgesamt eine vernünftige Sache und friedensstiftend dazu. Dieses Recht hat jedoch seine natürliche Grenze am Vermögen des Staates, es auch durchzusetzen und an der Fähigkeit der Steuerzahler, für die Kosten aufzukommen. Daß die sich damit überstrapaziert fühlen, hat sich herumgesprochen: Wofür noch die Maloche, wenn man sich damit kaum besser steht als mit Staatsknete? Dann erhöhe man doch die Löhne und Gehälter, fordern die Gewerkschaften. Sicher. Damit könnte man Geringverdiener auch gleich beim Sozialamt anmelden.
Doch die Lobbyisten der sozialen Gerechtigkeit unterschätzen den wachsenden Unmut jener gewöhnlich zurückhaltenden Menschen, die man die ganz normalen, durchschnittlichen Steuerzahler nennen könnte. Bei ihnen macht sich das Gefühl breit, daß sie arbeiten und zahlen sollen, damit Parteien und Politiker Verfügungsmasse für jene sozialen Gaben haben, die sich zu Wahlkampfzwecken so gut eignen. Schon jetzt lebt fast jeder zweite Wahlberechtigte von Transfereinkommen, ist also staatsabhängig und damit Objekt der Fürsorge von Politikern, die jede Stimme brauchen. Wo der soziale Gedanke aufhört und die Klientelpolitik beginnt, ist oft kaum noch zu erkennen.
Der mittelprächtig lebende und arbeitende Bürger aber gewinnt das Gefühl, eingekreist zu sein: er glaubt, für alle mitbezahlen zu müssen – für die Steuerflüchtlinge da oben und die ständig fordernden „Faulen in der Hartz-Hängematte“ da unten.
Das ist unfreundlich, denn die wenigsten Hartz-IV-Empfänger tragen ihr bißchen Kohle zum nächsten Schnapsladen, statt für die Bildung ihrer Kinder zu sorgen. Von ihnen sieht und hört man jedoch nichts, weil sie nicht medienwirksam sind. Dort braucht man Betroffenheit. Die erzeugen Fernsehbeiträge im Jammerton wie jener, in dem eine alleinerziehende Mutter vorwurfsvoll auf die teuren Computerspiele verweist, die Sohnemann brauche. Der sitzt derweil vor seinem Flachbildschirm und sieht die Sache nicht so eng: zur Not helfe auch schon mal die Verwandtschaft.
Kann es sein, daß wir die falsche Optik haben? Nicht alles, was schwierig ist oder schwerfällt, ist gleich menschenunwürdig. Nicht das Studieren von Sonderangeboten vor dem Einkaufen, nicht das Drosseln der teuren Heizung, wenn man einen Pullover anziehen kann. Und ist die zunehmende Inanspruchnahme von Einrichtungen, in denen man günstig essen oder einkaufen kann, wirklich ein Zeichen wachsender Armut – oder ein Zeichen von bürgerlicher Hilfsbereitschaft? Ein menschenwürdiges Leben ist nicht allein von der Höhe staatlicher Regelsätze abhängig. Und ebenso gewiß bricht in diesem Land nicht die soziale Kälte aus, wenn nötige Zuwendungen einmal nicht sauber vom Staat aufs Konto überwiesen werden.
Doch diese Macht des Staates hat mächtige Verteidiger – aus Selbstinteresse. Namentlich die Parteien und Politiker, die über sie verfügen. Ebenso die Bürokratie, die mit der Fülle ihrer Verwaltungsaufgaben wächst. Die Entlastung, die der Einzelne erfährt, wenn er im Notfall nicht mehr vom Wohlwollen in Familie und Nachbarschaft abhängt, hat ihre Kehrseite in der enormen Macht, die dem Staat zufällt. Der reist unter der Flagge „soziale Gerechtigkeit“, hat sich damit unangreifbar und den freien Bürger längst zum Steuerknecht gemacht.
Hinter dem pathetischen Verlangen nach sozialer Gerechtigkeit verbirgt sich alte deutsche Staatsgläubigkeit, die der Gesellschaft freier Bürger nichts zutraut. Der aber verspürt wachsende Lust, der Sozialkrake ihre Macht zu nehmen. Steuerflucht, denkt sich manch einer, sollte kein Privileg für Reiche sein. Sie ist, schrieb jüngst der Chefredakteur der Welt, „praktische Kritik am Staat“.
Wir sehen interessanten Zeiten entgegen.
Die Meinung, NDR-Info, 14. 2., 9.05

13 Kommentare:

  1. Ja, die Katja Kipping. Vergisst, daß in der DDR die Maxime galt, wer arbeitet, soll auch nicht essen und wer nicht arbeitet, ist asozial und gehört eingesperrt. Naja, 20 Jahre später, da hat das Gedächtnis schon ziemliche Lücken.

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  2. Ich bin kein großer Fan von Westerwelle aber da hat er endlich mal eine längst überfällige Diskussion angestoßen. Steinmeiers und Gabriels Geschrei und "Zynismus" Vorwürfe sind angesichts der früheren Stimmen aus den eigenen Reihen einfach nur noch lächerlich scheinheilig – denn was könnte zynischer sein, als die wirtschaftlichen und sozialen Probleme einer ganzen Stadt mit einem grinsenden Bonmot vom Tisch zu wischen. Immerhin wissen die Berliner Hartz IV Empfänger aber seit Wowereit, dass sie wenigstens sexy sind. Besser als nichts, anscheinend.

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  3. Köstlicher Artikel! Danke, Cora!

    Ach ja, Karl Eduard:
    § 249 des DDR-StGB war das in der DDR. Asoziales Verhalten. In der CSSR war es § 203, Strafausmaß auch bis zu 2 Jahre Knast.
    Meine Stalinskis hier in Wien frugen [Goethe-Form] mich schon oft: Aber vor 1990 gab es keine Obdachlosen in Prag (bin von dort).
    Muss immer antworten - Ihr seid so doof! Die waren alle im Knast, mit 40 waren solche Menschen schon als "Rezidivisten" 15mal eingebuchtet ...

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  4. Nicht überaschend , aber stets befremdlich ist das Aufjaulen der Meute, wie jüngst nach dem Kommentar von G. Westerwelle in der Welt. Nicht einmal der Außenminister ist gegen das Vokabular der Faschismus- oder auch Gutmenschenkeule gefeit. Von der "geistigen Brandstiftung" bis zur "Volksverhetzung" ist alles dabei. Der Finger in der offened Wunde schmerzt augenscheinlich.
    Weiter so Frau Stephan !!!

    "Die Wahrheit ist ein rares Gut, man sollte sparsam mit ihr umgehen "

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  5. an karleduardskanal:

    Hätte gerne eine Quellenangabe bezüglich Katja Kippings Aussage, daß sich die Bundesrepublik in Sachen Sozialstaat ein Beispiel an der DDR nehmen sollte. Würde mich echt interessieren!

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  6. Maxime?
    Gesetz, lieber KarlEduard.

    StGB der DDR, § 249. Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten.
    (1) Wer das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger oder die öffentliche Ordnung dadurch gefährdet, daß er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit hartnäckig entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, oder wer der Prostitution nachgeht oder wer sich auf ändere unlautere Weise Mittel zum Unterhalt verschafft, wird mit Verurteilung auf Bewährung oder mit Haftstrafe, Arbeitserziehung oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. Zusätzlich kann auf Aufenthaltsbeschränkung und auf staatliche Kontroll- und Erziehungsaufsicht erkannt werden.

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  7. Also genaugenommen steht ja nun die Frage im Raum, warum Guido Westerwelle vor "Sozialismus" warnt, wenn doch im Sozialismus diese Regelungen, die er kritisiert, gar nicht vorhanden waren bzw. per Gesetz das Gegenteil durchgesetzt werden sollte. Müsste er da nicht im Gegenteil "mehr DDR" fordern?
    Unabhängig von der ideologischen Ausrichtung, die mir bei Westerwelle und bei Kippling auf den Trichter geht, finde ich die Ideen zum Bügergeld/Grundeinkommen, die eher ideologisch unabhängig daher kommen und somit eben nur unter verschiedenen Namen von FDP und LINKE vertreten werden, gar nicht für falsch.
    Damit ergäbe sich auch kaum das Problem des Lohnabstandgebotes, weil dies automatisch gegeben wäre. Ärgerlich ist hier wieder die Position von Katja Kippling, die meint, das Althaus-Modell sei gar kein Grundeinkommensmodell, weil der Betrag zu niedrig sei.

    Der zentrale Irrsinn bei der Hartz-IV-Berechnung für Kinder wird jedoch auch hier von Cora Stephan nicht angesprochen:
    Kinder werden einfach als "Teilerwachsene" eigestuft. Da sind diejenigen, die die Beträge errechnen, schlichtweg zu faul gewesen zu überlegen, was wohl ein Kind braucht. Die Annahme, dass quasi schon ein Einjähriger raucht und trinkt, aber eben nicht ganz so viel wie ein Erwachsener, und diese Annahme dann innerhalb eines Gesetzes zu verankern, zeigt eine Missachtung der Bedürfnisse der Kinder.
    An dieser Stelle müssen aber vielleicht auch einmal die Prediger der reinen Marktwirtschaft zurückstecken und sich die Frage gefallen lassen, warum bestimmte Bildungsangebote für Kinder - Bücher und nachhilfeunterricht zum Beispiel - nicht wieder staatlich finanziert werden sollten. Das würde mit Sicherheit zu einem höheren Bildungsniveau führen, als wenn lediglich mehr Geld den Familien zur Verfügung gestellt wird.
    Es geht nämlich nicht um "Freiheit oder Sozialismus", es geht um einen praktikablen Weg der Chancenerhöhung für finanziell und sozial schwache Kinder und Jugendliche. Und die können bestimmt nichts dafür, dass sie nicht in einer Grunewaldvilla aufgewachsen sind.

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  8. @peeka

    Was hältst Du eigentlich von der Idee, Deine hypothetische Nachbarin, nichtarbeitende, alleinerziehende Mutter von drei Kindern all die Jahre, seit sie das erste Kind geboren hat und dann das zweite usw., von Deinem Arbeitslohn zu unterhalten? Ich weiß, es gibt solch edle Menschen, die freudig aufstehen und zur Arbeit fahren, im Bewusstsein, andere tun es nicht und wollen es auch gar nicht, weil sie wissen, am Monatsende gibt es Deine Kohle regelmässig.

    Das Prinzip wird übrigens nicht dadurch besser, daß es anonym genommen und anonym verteilt wird.

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  9. ...da geht einem beim Lesen das Herz auf!

    Ich durfte mir heute im Frühstücksfernsehen die Frage des Moderators anhören, ob es "gerecht" sei, dass Griechenland EU-Gelder bekommen soll. Das Wort "Gerechtigkeit" wird so inflationär gebraucht und verabsolutiert, dass ich es nicht mehr hören kann.

    Vielen dank für den Beitrag.

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  10. Eine allein Erziehende, die von Hartz IV lebt, macht mir ehrlich gesagt wenig aus.
    Eher ärgere ich mich über Menschen, die auch von meinen Steuergeldern bezahlt werden und zum Beispiel bei der Ablehnung meiner Baupläne mir glattweg ins Gesicht sagen:"Also ich wäre froh, wenn ich so ein Grundstück hatte wie Sie."
    Mir machen eher diejenigen Kummer, die arbeiten, um bestimmte Dinge zu verhindern und dafür Staatsgelder erhalten.
    Was tut eigentlich ein Mitarbeiter der Bundesbank den ganzen Tag? Wenn er Zeit hat, ein 22-seitiges Interview zu geben, scheint ihn die Arbeit in einer solchen Behörde nicht auszulasten. Auch Herr Sarrazin lebt von Steuermitteln und erhält noch deutlich mehr als ein Hartz-IV-Empfänger.

    Der Punkt ist doch, dass immer wieder bürokratische Monster entstehen, die dann zu Klagen führen.

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  11. @karleduardskanal. Apropos "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen"

    ... bezeugt in der wikipedia für den Sozialdemokraten Müntefering im Mai 2006 mit Hinweis auf dem Zweiten Brief des Apostels Paulus an die Thessalonicher.

    Das ist so allerdings irreführend, denn Müntefering steht der Sozialdemokrat Bebel und nicht die Bibel im Sinn, der da in "Die Frau und der Sozialismus" schrieb:

    “Der Sozialismus stimmt mit der Bibel darin überein, wenn diese sagt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.”

    Interessanterweise schrieb Ernst Thälmann, der Prolet und kommunistische Vorfahre von Gregor Gysi:

    „Mit bolschewistischer Rücksichtslosigkeit werden wir allen bürgerlichen Faulenzern gegenüber das Prinzip durchführen: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.”‘

    Auweia. Gleich mit bolschewistischer Rücksichtslosigkeit gegen alle bürgerlichen Faulenzer vorgehen, dass muss mindestens im Konzentrationslager enden, wenn im sozialistischen Paradies bereits jemand, der lediglich den Vorschlag, die Formulierung »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen« durch »Wer arbeitet, soll auch essen«, zu ersetzen, wegen trotzkistischer Propaganda verhaftet und verurteilt wurde - wie es selbst die Rosa Luxemburg Stiftung in einer Rezension über Véronique Garros, Natalija Korenewskaja, Thomas Lahusen (Hg.): Das wahre Leben. Tagebücher aus der Stalinzeit, nicht unterschlagen will.

    Ich empfehle der Rosa Luxemburg Stiftung dringend besagte Rezension sofort zu entfernen und gegen den Rezensenten Massnahmen zu ergreifen, wegen parteischädigendem Verhalten oder nannten die Marxisten solche Rezensenten nicht im Einklang mit den Nationalsozialisten Volksschädlinge?

    Liebe Grüsse aus FFM

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  12. „Mit bolschewistischer Rücksichtslosigkeit werden wir allen bürgerlichen Faulenzern gegenüber das Prinzip durchführen: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.”‘


    Und Ihnen fällt gar nicht auf, daß es hier um "bürgerliche Faulenzer" geht und daher nicht um Hartz IV _Empfänger, sondern um menschen, die anderen menschen, die arbeiten, das geld wegnehmen, damit sie faulenzen und das erbeutete geld in die schweiz bringen können

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  13. Der Trick von Westerwelle ist denkbar einfach, fies und menschenverachtend: er spielt mundgerecht die Armen gegen die Nochärmeren aus, damit die Reichen sich freuen können: wenn zwei sich streiten, freuen sich die Reichen. Der Staat hat sich zu Ungunsten der Armen und zu Gunsten der Reichen armgespart und sagt jetzt, es sei leider kein Geld da. Man muß nur wissen, wie es geht

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Wir Untertanen.

  Reden wir mal nicht über das Versagen der Bundes- und Landesregierungen, einzelner Minister, der Frau Kanzler. Dazu ist im Grunde alles ge...